Die Kolumne für die kommende Tage 44
Kennen Sie das auch? Wenn wir uns in einer Krise befinden, weil wir einen großen Verlust erlitten haben, zum Beispiel einen Menschen, den wir lieben, eine Aufgabe, die uns erfüllt, verloren haben, haben wir manchmal das Gefühl, als bestünden wir nur noch aus dem Verlust, beherrscht die Krise unser ganzes Sein. Das ist verständlich und wir benötigen oft auch Zeit, den Verlust zu betrauern.
Das kenne ich auch bei mir. Im Laufe meines Lebens habe ich darüber hinaus die Erfahrung gemacht, dass mir in solchen schweren Zeiten auch folgende Einstelllungen und Verhaltensweisen helfen. Auch in der gegenwärtigen Situation, in der wir augenblicklich alle befinden.
Zunächst einmal nehme ich bewusst Kontakt auf zu mir selbst, meinem Inneren. „Heute besuche ich mich, hoffentlich bin ich zuhause“ sagt Karl Valentin. Genau das tue ich. Während meines Besuches bei mir selbst vergegenwärtige ich mir alles, was ich trotz der Krise bin, habe, tun kann. Ich mache mir bewusst: ich lebe, ich atme, und während ich das denke atme ich bewusst ein und aus. Ich vergegenwärtige mir, dass ich genug zu essen habe, ein Dach über dem Kopf habe, gehen, lesen usw. kann und bin dankbar dafür. Ich sage zu mir: Ich bin mehr als die Krise.
Dann gehe ich aus mir heraus und richte den Blick nach außen. Ich mache mir bewusst und komme innerlich in Berührung mit den Menschen, die mir am nächsten sind, meine Familie, meine Freunde und Freundinnen, gute Bekannte, Nachbarn. So gut es geht, trete ich in Kontakt mit ihnen: eine Mail, ein Anruf, ein Zuwinken, ein Lächeln. Dabei versuche ich, von meinem Herzen her in Kontakt mit ihnen zu treten. Wenn dann eine entsprechende Resonanz erfolgt, also etwas zurücktönt, ein vibrierender Draht zwischen uns entsteht, tut mir gut und ich kann zu mir sagen: Ich bin mehr als die Krise.
Schließlich hilft mir die Erfahrung, inmitten der Krise an das Grenzenlose angeschlossen zu sein, zu spüren, ich bin Teil eines Größeren. Der Einzelne wird ganz unterschiedliche Vorstellungen davon oder Worte dafür haben. Für mich persönlich ist das Gott, dem ich mich vertrauensvoll überlasse. Daraus erwächst mir der Mut, was ich tun kann, um diese Krise zu bestehen, zu tun. Denn: Ich bin mehr als die Krise.
Also denke daran und mache es dir immer wieder bewusst: Du bist mehr als die Krise.
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Autor: Dr. Wunibald Müller (69), ehemaliger Leiter des Recollectio-Hauses, lebt und arbeitet als Theologe und Psychotherapeut in Würzburg
Beitragsbild: unsplash.com Anthony Tran