Sollten Museen spirituell spannendere Orte sein als Kirchen? Arnd Bünker sieht ein Experiment im Berliner Dom als Ermutigung, die unausgeschöpften Potenziale der Kirchen nicht liegen zu lassen.
Wer Menschen in Kunstmuseen und Kirchen beobachtet, erkennt bald Parallelen. Eine von ihnen heisst „Staunen“, eine andere „Andacht“. Ehrlicherweise müsste man manchmal auch „Langeweile“ hinzufügen.
Wer Menschen in Kunstmuseen und Kirchen beobachtet, erkennt Parallelen.
Vor der Zeit der vielfachen Gründung von Kunstmuseen war es vornehmlich den Kirchengebäuden überlassen, Menschen zu beeindrucken und sie tief zu bewegen. Der Blick auf Architektur, bunte Fenster, Bilder, Skulpturen und ausgeschmückte Kultgegenstände sollte die Menschen innerlich prägen. Ergriffenheit, ein Gefühl für Erhabenheit oder eine Ahnung vom Sakralen, wurde – und wird – erweckt.
Nicht erst durch die Konkurrenz von Museen, die auf eigene Weise moderne „Sakralbauten“ sind oder doch zumindest Wirkungen erzeugen, die typischerweise der Religion zugerechnet werden (Sammlung, Stille, Meditation, Ausstieg aus der Alltagswelt, Raum für Erfahrung und Thematisierung von Transzendenz), geraten die Kirchen in Zugzwang.
Museen: moderne „Sakralbauten“ – Kirchen geraten in Zugzwang
Auch die Wahrnehmungsroutinen haben sich verändert. Oft scheinen permanent gezeigte Sammlungen verstaubt und wenig attraktiv, während befristete Ausstellungen Zulauf haben, solange sie gut gemacht sind. Es scheint, dass das Bleibende weniger Aufmerksamkeit findet, als das Befristete und Wechselnde, also das, was zu neuen Erfahrungen, überraschenden Konfrontationen, Einsichten oder Deutungen anregt.
Einiges spricht dafür, dass Kunstmuseen in den letzten Jahren die spirituell spannenderen Räume geworden sind. Sie entfalten zumindest hier und da eine höhere spirituelle Wirkung auf ihre Besucherinnen und Besucher als Kirchengebäude – auch wenn diese eine eigene museale Kraft besitzen, die jedoch unter heutigen Rezeptionsgewohnheiten nicht mehr voll zur Geltung zu gelangen scheint.
Einiges spricht dafür, dass Kunstmuseen die spirituell spannenderen Räume geworden sind.
Dies könnte an einer entschiedeneren Einladung seitens der Museen liegen, sich als Besucherin oder Besucher eigenwillig und eigenmächtig den gezeigten und immer wieder anders in Szene gesetzten Kunstwerken auszusetzen und persönliche kreative Auseinandersetzungen zu wagen.
Mit einer solchen Einladung wurde vor einiger Zeit ausgerechnet auch im Berliner Dom experimentiert. Diese Hauptkirche des deutschen Kaiserreich-Protestantismus, die um die Wende zum 20. Jahrhundert errichtet wurde und durch stilistische Rückgriffe auf Barock und Renaissance imponieren wollte, bot Raum für eine Ausstellung weit abseits dekorativ-ornamentaler Überfrachtung.
Ein Experiment im Berliner Dom
Die Tauf- und Traukirche innerhalb des Berliner Doms wurde nämlich mit Hilfe eines grauen Kubus von Innen ausgekleidet. Aus einem überladenen wurde ein schlichter und „leerer“ Raum.
Dieser grey cube wurde zum Laboratorium für eine Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichen Kunstwerken verschiedenster Epochen, Stile und Formen. Dabei diente die Reduktion und Konzentration auf wenige Kunstwerke sowohl der Fokussierung als auch der In-Bezug-Setzung zwischen den Werken. Für kirchlich Informierte wurden auch die liturgischen Zeitprägungen, die Wochen vor und nach Ostern, zu einem Referenzpunkt für die Auseinandersetzung mit den Kunstwerken, die in wechselnden „Szenen“ präsentiert, neu gruppiert oder ausgetauscht wurden: Die Sonntage vor Ostern, Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag, Ostern und schliesslich Pfingsten bildeten einen möglichen aber nicht zwingenden Interpretationsrahmen.
Dokumentation: DU SOLLST DIR (K)EIN BILD MACHEN
Der ansprechende und zu Entdeckungen einladende Bildband DU SOLLST DIR (K)EIN BILD MACHEN dokumentiert das Experiment im Berliner Dom. Nicht nur die abgebildeten Exponate der gelungen ambitionierten Ausstellung beeindrucken, sondern auch und gerade die überraschenden Bezüge, die sich zwischen ihnen herstellen lassen – und die in wechselnden Ausstellungs-Szenen stets wieder aufgebrochen oder verändert werden.
Zurecht kommentiert Joachim Hake die absichtslose Absicht hinter dem Experiment im grey cube: „In diesem Raum möchte nichts belehren, nichts bekehren und nicht illustrieren. Hier gibt es keine Pädagogik und keine Didaktik und vor allem ist nichts von jenem verzweifelten kunstreligiösen Willen spürbar, der heute allzu oft Glaube und Kunst gleichermassen schadet.“
„… nichts von jenem verzweifelten kunstreligiösen Willen, der heute allzu oft Glaube und Kunst gleichermassen schadet.“
Seine Aussage spiegelt eine Abwehr einer spezifischen kirchlichen Pädagogik oder einer Mentalität wider, welche die Menschen hartnäckig für unmündig hielt und ihnen nicht zutraute, eigenständige Lernerfahrungen im weiten Feld des Religiösen zu machen. Hier wurde (und wird?) mittels Kunsteinsatz ein im Voraus festgelegtes Lernprogramm angeboten, dem zu unterwerfen sich kaum noch jemand bereitfindet. Manchmal scheint es gar, als sei das implizite kunstpädagogische Konzept zahlreicher Kirchen unverändert und unreflektiert aus alten Zeiten übernommen worden. Weil es aber heutige Rezeptionsgewohnheiten nicht mehr trifft, müssen allerorten „Regieanweisungen“ kommuniziert werden: „Ruhe bitte“, „Dies ist ein Raum der Stille“ … Kunstmuseen signalisieren dagegen „Kommt und seht“ … und staunt!
„Kommt und seht!“
Der Band DU SOLLST DIR (K)EIN BILD MACHEN ermöglicht es, das Experiment im Berliner Dom nachzuvollziehen und vor allem: es nachzudenken und weiterzudenken. Für viele Kirchen dürfte schliesslich gelten, dass sie ihr religiöses Anregungspotenzial noch kaum richtig ausreizen – und das, obwohl die meisten Kirchen leicht und gut als Kunst-Räume gesehen werden könn(t)en.
Die katholische Tradition kennt immerhin noch in der Fastenzeit die Praxis der Bilder-Verhüllung und der dekorativen Entschlackung – in gewisser Weise eine Art Vorwegnahme der Berliner Ausstellungserfahrung. Daran liesse sich anknüpfen und konzeptionell weiterarbeiten, um den zahlreichen Gelegenheits-Besucherinnen und Besuchern von Kirchen Möglichkeiten zu überraschenden Auseinandersetzungen zu bieten. Vielleicht werden dies sogar einmal Kirchenberufe: Ausstellungsmacher oder Kuratorin? Kommt und seht und staunt und werdet verändert!
Der Bild- und Dokumentationsband:
DU SOLLST DIR (K)EIN BILD MACHEN. Eine Ausstellung zum Bilderverbot und zu unserer Lust auf Bilder im Dom zu Berlin 2015 (hg. von Alexander Ochs und Petra Zimmermann), Bielefeld/Berlin (Kerber-Verlag) 2015.
ISBN: 978-3-7356-0171-1