Gott als Du anzusprechen, scheint selbstverständlich. Thomas Sojer geht der Frage nach, was es aus der Perspektive der Sprachtheorie bedeutet, sich an ein Gegenüber und insbesondere an Gott als Du zu wenden.
Wie oft habe ich heute schon «Du» gesagt? Tatsächlich wollte ich einmal einen Vormittag lang eine Strichliste führen. Bereits im ersten Gespräch merkte ich, dass mein Bleistift gar nicht mithalten konnte. Erstens wurde mir dabei bewusst, wie oft ich in einem Gespräch tatsächlich «Du» sage. Zweitens richtete sich meine Aufmerksamkeit automatisch auf mein Gegenüber und ich vergaß dabei das Mitzählen.
Eine kleine Alltagslinguistik des Du-Sagens
Um jemanden zu adressieren hat unser Sprachhandeln neben dem Personalpronomen in der 2. Person unzählige Alternativen, wie z.B. die Anrede mit Namen, weitere Anrufungs- und Appellformen, den Imperativ, Gesten und andere Formen der Körpersprache, z.B. ein Zuzwinkern. Die Besonderheit der Form «Du» besteht in ihrer epistemischen Offenheit bei gleichzeitiger Kontextabhängigkeit. Mit anderen Worten: Damit das «Du» Sinn ergeben kann, braucht es einen klaren Kontext, der bestimmt, wer spricht und wer angesprochen wird. Die Semiotik verwendet hier den Begriff der Personaldeixis (gr. „Anzeige“). Die Deixis beschreibt den sinnstiftenden Prozess, der Bedeutung schafft, indem das «Du» auf etwas oder jemanden zeigt, das oder die (im Unterschied zur Anapher) jenseits der Sprache, mit anderen Worten hors-texte zu finden ist und mit der Deixis einen bestimmten Ort, einen bestimmten Zeitpunkt erhält. Für eine funktionierende Alltagskommunikation, die auf Verständnis zielt, stiftet ein «Du», dessen Adresse unklar bleibt, deshalb Verwirrung. Denn es verschleiert Interessen und Strukturen.
Damit das «Du» Sinn ergeben kann, braucht es einen klaren Kontext.
Jedes Mal, wenn ich das «Du» ausspreche, spreche ich jemanden direkt an: im persönlichen Gespräch, im Schreiben einer Textnachricht, oder wenn ich mit meiner Lieblingspflanze spreche. Das ist eben auch der Fall, wenn nicht bekannt ist, wer mit dem «Du» ursprünglich gemeint oder angezeigt ist. Denn es passiert nicht selten, dass ich mich von einem anonymen «Du» – z.B. im Liedtext – plötzlich als dieses «Du» angesprochen erfahre. Im Augenblick des Singens oder der Tonaufnahme war ich persönlich als «Du» gewiss nicht adressiert gewesen. Doch war ich mitgemeint. Wer darum weiß, kann mit so einem «offenen Du» spielen und experimentieren. Ein «Du» verbindet, egal in welchem Kontext das «Du» gesprochen wird. Das heißt, immer wenn ich «Du» sage, zeige ich auf ein (verborgenes) Gegenüber und ziehe damit eine Verbindung zwischen dem Gegenüber und mir selbst. Manchmal ungewollt, manchmal zufällig. Nun wissen wir im alltäglichen Sprachhandeln meistens, wen wir ansprechen wollen, wenn wir «Du» sagen.
Gott «duzen»: eine Gratwanderung zwischen Theologie und Semiotik
Ich frage mich, wen ich mit dem «Du» im Gebet anspreche und auf wen ich mit dieser sprachlichen Geste zeige. Wen erreiche ich damit? Stellt Gebet wirklich Kontakt und sogar Berührung her? Oder inwieweit ist Beten nicht doch Selbstgespräch? Anders formuliert: Beinhaltet das «Du» an Gott nicht die Frage, wer mein Gebet hört? Und damit, wer Gott ist?
Der jüdische Theologe Daniel H. Weiss beantwortet die Frage mit einer bemerkenswerten Feststellung: Das im Gebet an- und ausgesprochene «Du» ist einzig und allein jenes «Du», das ganz ohne Kontext für sich stehen kann, weil Gott schlicht und ergreifend mit dem ganzen Wesen «Du ist»: Ein «Du» ohne Geschlecht und ohne Schranke, das selbst in die finstersten Abgründe und größten Leiden hinein Gegenüber und Gegenwart bleibt, und das für ausnahmslos jede und jeden. Weiss betont, dass alle Attribute, Namen und Titel Gottes nicht das «Du» kontextualisieren, vielmehr ich mich im Gebet als denjenigen ansage, der in diesem Augenblick, in diesem historischen Moment vor dem grenzenlosen «Du» steht und die Erfahrung von Barmherzigkeit, Güte, Geheimnis, Unendlichkeit macht.
Weil Gott schlicht und ergreifend mit dem ganzen Wesen «Du ist».
Es ist meine Erfahrung im Jetzt, die mir im stimmgebenden Du-Sagen einverleibt und sprachfähig wird. Zugleich erlebe ich die Erfahrung der Attribute Gottes wie eine Antwort Gottes in mir. Gottesbeziehung konkretisiert sich hier geschichtlich. Ein außergewöhnliches Beispiel für diese Dynamik zwischen «Du» und göttlichen Attributen findet sich vor 800 Jahren im Autograph Lobpreis Gottes des Franz von Assisi, der Mitte September 1224 datiert wird.
Gottesbeziehung konkretisiert sich hier geschichtlich.
Im Gebetshandeln steht das «Du» als ein fester Bestandteil der «Theo-Grammatik». Nicht nur im Deutschen und nicht nur im Monotheismus. Das liegt an den Regeln, nach denen Sprache funktioniert. Und doch birgt das Personalpronomen in der 2. Person Singular in seiner epistemischen Offenheit bei gleichzeitiger Kontextabhängigkeit eine spirituelle Tiefendimension, die hinter den Wörtern weit mehr zum Ausdruck bringt als grammatikalische Konstruktionen. Als Personaldeixis zeigt das «Du» im Gebet direkt auf Gott und richtet mich im Sprechakt auf Gott hin aus. Das schwingt nicht zuletzt in der Etymologie von Ad-Oratio und Proskynese (wörtlich: „Kuss auf etwas zu“) mit. In diesem Sinne bedeutet ein «Du» im Gebet «Anzeige Gottes» und ist Ausdruck meiner Aufmerksamkeit gegenüber Gottes Gegenwart – und all das in einer einmalig schlichten wie auch direkten Form.
Ein «Du» im Gebet ist Ausdruck meiner Aufmerksamkeit gegenüber Gottes Gegenwart.
Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber haben zwischen den Weltkriegen ausführlich über die grundlegende Bedeutung eines Du ohne Kontext nachgedacht. Sie beschreiben, wie wir, gerade indem wir «Du» aussprechen, die Hoffnung und Zuversicht ausdrücken, für das Gegenüber selbst zum «Du» zu werden, mit anderen Worten zum «Du» Gottes zu werden. Im Du-Sagen können wir auf die unmittelbare, innerste Gegenwart Gottes in uns antworten und zeigen auf unser In-Beziehung-Sein, auch wenn das Du schweigt. Mit Buber gesprochen ist «Du» nie Gegenstand von Rede, sondern Gegenwart.
Im Du-Sagen zeigen wir auf unser In-Beziehung-Sein, auch wenn das Du schweigt.
Gleichzeitig betonen Rosenzweig, Ebner und Buber die Offenheit der Ich-Du-Beziehung für die Dritten und erkennen im bewussten Du-Sagen eine Schule des Sozialen und der Beziehungsfähigkeit. Schließlich widerstrebe das Du-Sagen mit seiner kontextabhängigen Vielseitigkeit der Exklusivität (jedes «Du» benachbart weitere «Du») und übt sich in einer Haltung der Rücksicht und des Suchens. Indem ich «Du» Gottes geworden bin, ist mein ungebundenes So-Sein Ausdruck und Prozess einer intimen Bindung, die ihrerseits an konkretem Ort und in konkreter Zeit nicht anders als vernetzt ist.
Sakramentale Poetik: Das «Du» bewirkt, was es anzeigt
Semiotisch betrachtet verbindet das «Du» das Zeichen «Du» mit jemanden, die und den es meint, und bindet auch mich, der «Du» sagt, mit ein in dieses Sinngeflecht. Was erzeugt, erweitert und vor allem verändert nun ein Du ohne Kontext, wenn ich es im Gebet aus- und anspreche? Was würde fehlen, wenn ich das «Du» nicht mehr sage? Dass es dieses unbegrenzte «Du» tatsächlich gibt, das ohne jeden Kontext Sinn macht, bleibt Glaubensakt und markiert eine Sehnsucht. Dem Du ohne Kontext eignet damit ein maximal konzentrierter Glaubensinhalt (fides quae), der als Sprechakt auch Glaubensakt (fides qua) ist. Anders gesagt, im Gebet das «Du» auszusprechen heißt auf eine sehr grundlegende Art zu glauben: Es gibt da ein «Du», das allen und allem «Du» ist, ausnahmslos, immer, überall, schon vor jedem Sprechakt.
Dass es dieses unbegrenzte «Du» tatsächlich gibt, bleibt Glaubensakt und markiert eine Sehnsucht.
«Du» bezeugt damit nicht nur die Wirklichkeit, zu der ich bete, sondern auch die Wirklichkeit, in der zu beten ich eingeladen bin. Ohne viel Gotteslehre und mit einer Theologie, die mit einem einzigen Wort auskommt: «Du». Nur eine Regel gilt hier: Wenn eine und einer im Gebet «Du» sagt, sagt sie und er das «Du» immer auch für alle anderen mit. Im «Du», das ohne Kontext Sinn hat, artikulieren sich in meinen Worten alle anderen als Mit-Sagende mit ihren jeweiligen Kontexten. Im Kontext des «Du»-Sagenden wird sein und ihr Sprechen für alle Versprechen und Verheißung. Dies ist der eigentliche Grund, weshalb wir „für jemanden“ beten können. Das «Du» im Gebet zeigt damit nicht nur auf Gott hin, es markiert im Augenblick des Sprechaktes auch Gottes bedingungslose Gegenwart und zeigt den Lebensraum, in dem ich spreche, als Lebensraum all der anderen mit mir.
Im Kontext des «Du»-Sagenden wird das Sprechen für alle Versprechen und Verheißung.
Weil das «Du» damit bewirkt, was es anzeigt, nämlich uneingeschränkt «Du», vor mir, neben mir, mit mir und in mir, mag darin sogar eine «sakramentale Poetik» am Werk sein. Das meint natürlich nicht, dass das Gegenüber erst durch das Du-Sagen erzeugt bzw. konstruiert wird. Was wird also erzeugt, erweitert oder gewandelt im Du-Sagen? Die Wahrnehmung und Erfahrung, in Beziehung zu sein. Mit Franz Rosenzweig möchte ich antworten: «Mein Ich entsteht im Du» und ergänzen «Wir entstehen im Du».
Thomas Sojer leitet die Bücherei in Hohenems, Vorarlberg. Zusammen mit Jörg Seiler betreibt er die Forschungsstelle Sprachkunst und Religion an der Universität Erfurt, die schwerpunktmäßig mit aktuell entstehender Lyrik im deutschsprachigen Raum arbeitet.
Beitragsbild: Tima Miroshnichenko auf pexels.com
Literatur:
Thomas Sojer, ‘Only You. On Saying You to God’, in: Studies in Spirituality, no. 33 (2024). Die Nummer wird demnächst erscheinen.
Daniel H. Weiss, ‘The (Odd) Deixis of ‘You’ in Rabbinic Prayer’, in: Journal of Textual Reasoning 5, no. 1 (2007).
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