Nicht kirchlich gebundene Zeitgenossen und -genossinnen erkennen oft besser, worin die Herausforderung der biblischen Erzählungen und die Besonderheit des Lebens Jesu von Nazarets besteht. Zum Beispiel der in der DDR sozialisierte Schriftsteller Durs Grünbein. Gleichermaßen anregend und herausfordernd findet Christoph Gellner, wie Grünbein die Bibel ins Heute schreibt.
«Dichtung ist der Triumph der Kontemplation»: So heißt es programmatisch in der «Fußnote zu mir selbst», mit der Durs Grünbein seine jüngst erschienene Sammlung von Aufsätzen und Notaten eröffnet. Sozialisiert im Zerfallsprozess der DDR gilt der 1962 in Dresden geborene, heute in Berlin und Rom lebende Lyriker und Essayist als einer der herausragenden Chronisten der jüngeren deutschen Geschichte. Sein schriftstellerisches Credo umreisst der Peter-Huchel- und Georg-Büchner-Preisträger von 1995 in Aus der Traum (Kartei)[1] so:
«Die poetische Wirklichkeit ist eine andere als jene, die uns unterm Namen Realität immer neu verkauft werden soll. Sie ist zugleich flüchtiger und dauerhafter als diese […] Sie sieht das Fadenscheinige jeder Realität, die menschlichen Konstruktionen dahinter und überwindet sie spielend mit Hilfe der Imagination. Sie erzieht den, in dem sie erwacht, zum permanenten Widerstand gegen den Fatalismus der Fakten und ist damit politischer als jede Politik. So ist die Unabhängigkeitserklärung der Poesie auch mehr als ein bloßer ästhetischer Akt. Sie verdeutlicht das Lebensprinzip, dem jeder Mensch, wie verstrickt und von den Umständen korrumpiert er auch immer sich durchwindet, in der Sehnsucht doch folgt, ob er nun schreibt oder nicht.»
Das erste Jahr sind Grünbeins «Berliner Aufzeichnungen»[2] überschrieben. Mit der Geburt der im Jahr 2000 geborenen ersten Tochter Vera thematisiert dieser Kommentar auf das neue Jahrtausend neben Poesie und Politik, Philosophie, Genetik und Neurobiologie berührend Privates: «Genau so hatten wir beide es immer gewollt. Ein Kind der Liebe, wie der schlagerselige Volksmund das nennt […] Es war lustvoll gezeugt, lustvoll empfangen worden mit einem alles verlangenden, alles beiseitefegenden Ja. Nicht nur irgendein Menschenwesen, das erste eigene Kind, das künftige Kleinod der Familie. Umfassender, in jeglicher Dimension unabsehbar, ja transzendent war, was da geboren wurde: der Beginn einer neuen Welt.»
«Die Bibel umstrickt alles und jeden mit Redewendungen und Gleichnissen.»
Die Eltern sind sich der «Absurdität ihrer göttergleichen Schöpfungsmacht» bewusst, zugleich steht ihnen die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens deutlich vor Augen: «Kein Vers beschreibt die Erleichterung, wenn mit dem ersten zaghaften Quäken das Neugeborene sich endlich an Deck des Planeten meldet. Erst dann ist es angekommen. Solange sein Schrei nicht den Lebenswillen bekundet, kann man von Dasein kaum sprechen. Eine halbe Ewigkeit verharrten wir in diesem demütigenden, gebetsseligen Zustand, der so beschämend ist für den halbherzigen Atheisten.»
«Abend für Abend wird jetzt aus der Kinderbibel vorgelesen», vermerkt ein Eintrag ein Jahr später. «Nun ist es wieder soweit. Ein weiteres Kind wird in die Mysterien eingeführt und darf sich den Kopf zerbrechen über Judas‘ Verrat und Marias unbefleckte Empfängnis», notiert Grünbein, «die Bibel steckt voller rätselhafter idiomatischer Wendungen […] Ein Weib erkennen, was könnte das heißen? Sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht zu verkaufen? Die Bibel, soviel begreift schon das Kind, führt an den Ursprung der Wörter zurück, sie umstrickt alles und jeden mit Redewendungen und Gleichnissen.»
«Nicht daß ich als ausgesprochener Atheist aufgewachsen wäre», hält Grünbein fest. «Das hätten die Eltern, als regelmäßige Besucher der Dresdner Gemäldegalerie Alter Meister schon aus Respekt vor der Kunstgeschichte nie zugelassen. Außerdem war es bei uns nicht üblich, gegen ein gewissermaßen verfolgtes Denken zu argumentieren.» Seine Eltern waren «kunstsinnige Kulturchristen, die das Kind von einer explizit atheistischen Ideologie und Wertewelt fernhalten, ihm aber auch keinen Glauben vermitteln», erläutert Hermann Weber. Ohne Mitglied der Kirche zu sein, begleitet Grünbein den besten Freund in die protestantische Christenlehre – weil die Geschichten ihn fesseln, bleibt er bis zum Ende, «Grundstein wohl für seine Bibelfestigkeit»[3].
«Von allen Katastrophen war die schlimmste der Mensch.»
«Wem in diesem ganzen weiten Universum nützt denn das Risiko Mensch?», nehmen Grünbeins Tagebuchreflexionen die unerbittliche Analyse der menschlichen Gattung auf, die seit dem Gedichtband Schädelbasislektion (1990) im Zentrum seines Schreibens steht: «Das Tier ist eine Wirkung der Natur, nur der Mensch schlägt sich mit den Ursachen herum. Damit aber wird er zum Störfaktor in einem ansonsten gut eingespielten System.»
Weil ihn der Systemzusammenbruch zu antitotalitärer Skepsis erzog, ihn resistent machte gegen Ideologien wie Utopien, verfügt Grünbein über ein besonderes Sensorium für Dystopien: «Von allen Katastrophen, die den Planeten heimsuchten, war die schlimmste der Mensch. Und ausgerechnet dafür soll dieses Wunderwerk Evolution in Gang gesetzt worden sein? Nein, Euer Ehren, nein, das kann nicht das letzte Wort sein. Soweit der Schöpfung ein Plan zugrunde liegt, wird auch der Mensch schließlich nur eine Wirkung gewesen sein.»
«Sein Auftritt war ein planetarischer Scherz gewesen.»
«Was ist der Mensch?» In einer Psalm 8 aufnehmenden Notat entwickelt Grünbein mit dem posthumanen Blick seines Mentors Heiner Müller auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts eine schonungslose Bestandsaufnahme der «Rasse Kains»: «Das Schlußlicht der Schöpfung: eine Fehlleistung von Mutter Natur. Mit jenem Lapsus in hochtrabender Tiergestalt ist sie dabei, sich selbst abzuschaffen.»
«Seit seinem Auszug aus dem Garten Eden» spiele der Mensch «die Rolle des Allzerstörers. Mit ihm hat sich die Schöpfung erschöpft […] Was immer es war, Selbstlauf der Evolution oder genialer Rettungsplan der Natur, eins ihrer Wesen zum Hüter des Seins zu erheben – es ist gründlich schiefgegangen, das Ende ist nunmehr absehbar.»
Angesichts einer nahen Zukunft nach dem Menschen resümiert Grünbein: «sein Auftritt war ein planetarischer Scherz gewesen. Vergiftet bis ins Genom, war er Täter und Opfer zugleich, Werkzeug einer subatomaren Bosheit, die ihn benutzt hat, etwas zu Ende zu bringen, eine Sache, deren größtes Problem ihr Beginn war, die Tatsache, daß sie überhaupt angefangen hatte. Daß sie etwas in Gang gesetzt hatte, und nicht vielmehr nichts geblieben war. Jenes beruhigende Nichts.»
«Von der Krippe zum Kreuz»: eine «schlimme Erzählung» «wie ein moderner Roman»
Höchst aufschlussreich auch die Eintragung des ostdeutschen Agnostikers zum Heiligen Abend. Mit scheuer Sympathie vergegenwärtigt sie das Leben Jesu von den ausgestreckten Armen des Neugeborenen bis zu den verrenkten des Gekreuzigten:
«Den Weg von der Krippe zum Kreuz zeichnet keine fortlaufende Handlung, nur die Collage des Neuen Testaments, das konstruiert ist wie ein moderner Roman. Und doch steckt im Bild des neugeborenen Helden schon der Gekreuzigte. Dieselbe Kreatürlichkeit, derselbe hilfsbedürftige, nackte Leib in den Armen der Mutter, und auch die Körperhaltung scheint fast identisch […] Den Kinderleib hatte man noch weich gebettet, ins Stroh der Krippe, ganz nah zu den stallwarmen Tieren. Es galt ja, den Schock der Vertreibung aus der Höhle des Mutterleibs in die äußere Welt abzumildern, die Härte des Sturzes zu dämpfen.
Den Körper am Kreuz dagegen hindern nurmehr die Nägel am freien Fall. Geburt und Tod gehören in dieser schlimmen Erzählung zusammen wie der erste und der letzte Buchstabe im griechischen Alphabet. ‘Denn ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, vor allem Anfang und nach allem Ende’, heißt es in der Offenbarung des Johannes.»
«dies mustergültige Leben … allgegenwärtig und rätselhaft … nie mehr zu eliminieren aus dieser Kultur»
Ja, von der «alten Weihnachtsgeschichte» her buchstabiert Durs Grünbein am griechischen Alphabet entlang das «mustergültige Leben» des Rabbi aus Galiläa:
«Kaum liest man wieder die alte Weihnachtsgeschichte, schon meint man im Lallen des Kleinkinds das Beta-Beta zu hören. Ein Gamma: man sieht, wie der Körper sich aufrafft und stellt sich den Jungen bei seinen ersten Gehübungen vor. Im kreisrunden Theta erkennt man den staunend geöffneten Mund mit den Milchzahnlücken. Hält nicht das aufrechte Lambda die Szene fest, da mit bedächtigen Schritten der Hochbegabte zu den Weisen im Tempel trat und jeden mit seinem frühen Charisma blendete? Steckt nicht im Ny das Auf und Ab seiner kurzen Laufbahn, im Omikron das Staunen der Augenzeugen über die neue Lehre? Schon ahnt man im Knick eines Sigma die Abendmahlstafel, den Einbruch des Verrats in die Versammlung der treuen Jünger. So buchstabiert man dies mustergültige Leben durch bis zum letzten Kolon […] eine Geschichte, allgegenwärtig und rätselhaft wie die Naturkonstante Pi, nie mehr zu eliminieren aus dieser Kultur […] Noch heute sieht man auf vielen Kirchenmauern und Grabsteinen das Rondell mit dem magischen Christogramm. In ihm sind die Anfangsbuchstaben des Mannes, der dieser Religion ihren Namen gab, das Chi und das Rho, zu den Speichen eines Rades geformt. Man muß es nur lang genug anstarren, dann beginnt sich’s zu drehen, immer schneller und schneller, und man erkennt darin, ineinander verflochten, das Kreuz und die wirbelnden Arme des Babys von Bethlehem.»[4]
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Christoph Gellner, Dr. theol., ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts in Zürich und Fachmann für Theologie und Literatur
Beitragsbild: Joshua Eckstein / unsplash.com
[1] Durs Grünbein, Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Berlin: Suhrkamp Verlag 2019.
[2] Durs Grünbein, Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2001.
[3] Hermann Weber, Zeitdeutung in Durs Grünbeins «Das erste Jahr», in: Stimmen der Zeit 127 (2002) 847-856.
[4] Zum Weiterlesen und zur Vertiefung: Christoph Gellner, Die Bibel ins Heute schreiben. Erkundungen in der Gegenwartsliteratur, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2019.
Vom Autor erschien bisher auf feinschwarz.net unter anderem:
Taugenichtstun: Gebet und Liturgie sprengen die Herrschaft von Zweck und Nutzen