Jonas Maria Hoff setzt die Reformkritik des Regensburger Bischofs in Verhältnis zu dessen Rezeption der Theologie Henri de Lubacs.
Die katholische Kirche in Deutschland befindet sich auf dem Synodalen Weg. Sie diskutiert theologische Fragen in ihren strukturellen Konsequenzen. Immer wieder werden dabei erhebliche Reformen eingefordert: von einer Weiterentwicklung der kirchlichen Sexualmoral über die Aufhebung des Zölibats bis zur Zulassung von Frauen zu Weiheämtern. Als Kritiker beinahe all dieser Veränderungen gilt neben anderen auch Rudolf Voderholzer, der Bischof von Regensburg. Wiederholt hat er nicht nur deutlich gemacht, dass er von den vorgeschlagenen Reformen wenig hält, er hat zudem mehrfach das theologische Niveau einzelner Synodalforen kritisiert. Sein eigenes theologisches Profil bestimmt der frühere Dogmatikprofessor dabei vor allem über die Rezeption des Jesuiten Henri de Lubac (1896-1991). Dessen Werk ist eine erhebliche Dynamik eingeschrieben, die sich aus einer prominenten Bearbeitung von Paradoxien ergibt. Wie aber verträgt sich das mit Voderholzers Reformkritik?
Wie verträgt sich die Dynamik des Werks von Henri de Lubac mit der Reformkritik Voderholzers?
Ein Spezifikum seines umfassenden Ansatzes entwickelt de Lubac in der Auseinandersetzung mit Paradoxien und ihrer Anwendung auf die Theologie. Paradoxien treten dabei nicht einfach als mögliche rhetorische Mittel neben anderen auf, sie betreffen Glauben und Theologie grundlegend: „Das ganze Dogma ist eine Folge von ‚Paradoxen‘, die den natürlichen Verstand außer Fassung bringen, und die nicht einen – unmöglichen – Beweis, sondern eine reflexive Rechtfertigung fordern.“1 Die Paradoxie zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwei Aussagen miteinander verbindet, die als widersprüchlich oder gegensätzlich empfunden werden. Beinahe klassisch definiert Richard Mark Sainsbury die Paradoxie als „eine scheinbar unannehmbare Schlussfolgerung, die durch einen scheinbar annehmbaren Gedankengang aus scheinbar annehmbaren Prämissen abgeleitet ist.“2
Konkretisieren lässt sich diese abstrakte Begriffsbestimmung an zahlreichen Beispielen. Man denke etwa an das scholastische Stein-Paradox: Kann ein allmächtiger Gott einen Stein erschaffen, den er selbst nicht heben kann? Die Frage führt unweigerlich in die Paradoxie, weil sie bei Aufrechterhaltung der Allmachtskategorie sowohl bejaht, als auch verneint werden müsste. Könnte Gott einen entsprechenden Stein schaffen, so wäre er nicht mehr allmächtig, weil es dann ja etwas gäbe, das seinen Möglichkeiten entzogen bliebe (den Stein heben). Könnte Gott einen solchen Stein hingegen nicht schaffen, wäre seine Allmacht schon vorher widerlegt. Ein Wechselspiel zwischen ja und nein, wahr und falsch beginnt.
Die Wirkung von Paradoxien lässt sich besonders anhand eines anderen Beispiels illustrieren. In ihrer verstärkten Variante gilt die sogenannte Lügner-Antinomie bis heute als logischer Grenzfall. Dabei kommt sie zunächst schlicht daher: Dieser Satz ist falsch. Versuche, den Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu bestimmen, mache erfahrbar, wie Paradoxien – in den Worten de Lubacs – „den Geist erst einmal richtig schütteln.“3 Wäre der Satz wahr, so wäre er zugleich falsch. Wäre er hingegen falsch, so wäre er unweigerlich wahr – und so weiter. Beide Beispiele verdeutlichen, dass Paradoxien Dynamik auslösen. Wer sich auf sie einlässt, kann nicht mehr mit der Stabilität eindeutiger Antworten rechnen.
Wer sich auf Paradoxien einlässt, kann nicht mehr mit der Stabilität eindeutiger Antworten rechnen.
Paradoxien erzeugen einen gedanklichen Überhang, der sich nicht völlig in die menschliche Vernunft einholen lässt. Der Unterschied zwischen Gott und Mensch lässt sich so (theologisch) bearbeiten. In seiner maßgeblichen Studie zum Paradoxienverständnis de Lubacs hat Dominik Arenz herausgearbeitet, dass die Paradoxalität theologischen Denkens bei de Lubac stets von der Inkarnation ausgeht: „Christus selbst ist das erste und grundlegende dogmatische Paradox.“4 Die Gleichzeitigkeit der zwei Naturen Christi (wahrer Gott und wahrer Mensch) führt in den Konflikt und verführt zu einer theologischen Vereinfachung: entweder oder, Gott oder Mensch.
Wahrer Gott und wahrer Mensch.
Von der Inkarnation strahlt die Paradoxalität bei de Lubac auf den gesamten Dogmenapparat aus. Für die Kirche resultiert daraus etwa die Einsicht, dass sie den Gegensatz von Heiligkeit und Sündhaftigkeit unhintergehbar in sich vereint. Sie „verbirgt den Glanz, den sie empfangen hat, unter einem dunklen Gewand; so trägt sie den Widerspruch in sich selbst, und es bedarf dann eines sehr scharfen Blicks, um die Schönheit ihres Antlitzes zu entdecken.“5 Nur eine Seite der Paradoxie zu beachten, hilft nach de Lubac nicht weiter. Seines Erachtens muss „jede einfache Lösung ein Irrtum sein. Die Tyrannei ist auch einfacher als die Freiheit … Sie hebt deren sämtliche Nachteile auf, wie der Arzt, der seinen Patienten umbringt, alle seine Schmerzen behebt.“6 Demgegenüber geht es de Lubac darum, die Paradoxalität des Glaubens auszuhalten. Ein vorschneller Abschied von der Kirche scheidet für ihn aus, ebenso aber eine uneingeschränkte Fixierung auf ihre Heiligkeit.
Jede einfache Lösung muss ein Irrtum sein.
Was für Inkarnation und Kirche gilt, das gilt letztlich für alle Aussagen, die einen Gottesbezug reklamieren. In seiner Auseinandersetzung mit de Lubac hat Voderholzer von diesem Muster eine Definition der Häresie abgeleitet. Er beschreibt sie als „Rückzug auf das ‚nichts anderes als‘, Verkürzung der komplexen Gestalt des Mysteriums auf das dem ‚Einmaleinsverstand‘ des Menschen leicht Faßliche, und zu sagen: Nichts als! Christus: nur Mensch. Maria: nur Mutter. Die Kirche: nur unsichtbare Wirklichkeit.“7 Die Häresie entspricht der Auflösung dogmatischer Paradoxien. Treue zum Glauben zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass Spannungen ausgehalten werden. Dies aber löst eine erhebliche „Dynamisierung des Denkens“8 aus. Voderholzer fordert mit seiner Häresie-Definition dazu auf, die eigenen Kategorien immer wieder zu verflüssigen. Er rezipiert de Lubacs Paradoxie „als Begriff für die formale Struktur des Geheimnisses, insofern bei den die göttliche Selbstmitteilung bezeugenden menschlichen Sprach- und Ausdrucksformen durchgängig Realitäten in Einklang gebracht werden müssen, deren Nichtwidersprüchlichkeit evident ist, deren positive Synthese aber die Kraft des menschlichen Denkens übersteigt.“9
Das menschliche Vermögen genügt nicht, um die Größe Gottes erfassen zu können. Als adäquate Sprach- und Denkform biete sich, so Voderholzer, die Paradoxie an, weil sie diesen Umstand am ehesten ausdrücken könne. Theologien, die den Willen Gottes allzu genau und eindeutig meinen festlegen zu können, werden deshalb verdächtig. Vielmehr gilt mit de Lubac: „Jedes seriöse Denken ist bescheiden.“10
Voderholzer hat zurecht angemerkt, es sei de Lubacs Leistung gewesen, „das ‚Paradox‘ als Denkform in die katholische Theologie vermittelt“11 zu haben. Der Ausdruck „Denkform“ weist dabei aber auf den eigentlichen Clou hin. Als Form nämlich eignet sich die Paradoxie kaum, um bloß ausgewählte Bestände einer Glaubenslehre abzusichern. Sie geht über diese Möglichkeit hinaus und müsste formal letztlich überall ansetzen, wo von Immanenz auf Transzendenz zugegriffen wird. Die Paradoxie fügt sich hier als Prinzip ein, das einerseits Dynamik und Offenheit ermöglicht und andererseits starre Vereindeutigungen auflöst. De Lubac selbst hat mit seiner Theologie gegen kirchliche Widerstände die Reformen des II. Vaticanums unterstützt. Angesichts seiner Überlegungen zur Paradoxie kann das kaum überraschen. Reformen greifen einen Zustand auf, dessen Veränderungsmöglichkeit und -bedarf sie in Handlungsoptionen umsetzen. Die Dynamik, die jeder paradoxalen Gottesrede eingeschrieben ist, wird in Reformen strukturell aktiviert. Rein formal bestätigen sie die Vorläufigkeit menschlicher Kategorien. Das ist theologisch deshalb geboten, weil der Wille Gottes das menschliche Fassungsvermögen übersteigt. Theologische Paradoxien machen darauf aufmerksam. Sie stellen einer Argumentation, die beansprucht, den Willen Gottes bis ins letzte Detail festlegen zu können, Stolpersteine in den Weg.
Als Form nämlich eignet sich die Paradoxie kaum, um bloß ausgewählte Bestände einer Glaubenslehre abzusichern.
Ein Urteil über die eingangs genannten konkreten Reformanliegen ist damit nicht verbunden. Auch werden Bewahrungsagenden keineswegs verunmöglicht. Sofern sie es aber mit de Lubac und seiner Paradoxienreflexion halten, müssen sie doch begründen, wo und warum sie Dynamik verstetigen. Als theologische Denkform ist die Paradoxie jedenfalls nicht geeignet, um bloß ausgewählte Strukturen und Glaubenssätze zu stabilisieren. Eine zum Habitus gewordene Reformkritik verträgt sich nicht mit dem Dynamisierungspotential theologischer Paradoxalität. Vor diesem Hintergrund wären auch Rudolf Voderholzers Kritiken am Synodalen Weg mit de Lubac auf den Prüfstand zu stellen. Schließlich wurde die Theologie de Lubacs als „theologische Matrix“12 seines akademischen wie bischöflichen Wirkens bezeichnet – dazu gehört dann aber eben auch die Paradoxie als Denkform.
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Text: Jonas Maria Hoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fundamentaltheologischen Seminar der Universität Bonn. Er promoviert über die fundamentaltheolgische Relevanz des radikalen Konstruktivismus.
Bild: pixabay stairs-1209439_1920
- Henri de Lubac, Glauben aus der Liebe. „Catholicisme“. Übers. und eingeleitet v. Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln 1970. S. 290. ↩
- Richard Mark Sainsbury, Paradoxien. Übers. v. Vincent C. Müller / Volker Ellerbeck. Stuttgart 42010. S. 11f. ↩
- Henri de Lubac, Glaubensparadoxe. Übers. v. Hans Urs von Balthasar. Freiburg 32015. S. 9. ↩
- Dominik Arenz, Paradoxalität als Sakramentalität. Kirche nach der fundamentalen Theologie Henri de Lubacs. Innsbruck 2016. S. 114. ↩
- Henri de Lubac, Geheimnis aus dem wir Leben. Übers. v. Karlheinz Bergner / Hans Urs von Balthasar. Freiburg i. Br. 21990. S. 43. ↩
- Lubac, Glaubensparadoxe, a.a.O., S. 48. ↩
- Rudolf Voderholzer, Henri de Lubac begegnen. Augsburg 1999. S. 91. ↩
- Arenz, Paradoxalität, a.a.O., S. 83. ↩
- Rudolf Voderholzer, Das Paradox als spezifisch theologische Denkform nach Henri de Lubac. In: Wie lässt sich über Gott sprechen? Von der negativen Theologie Plotins bis zum religiösen Sprachspiel Wittgensteins. Hg. v. Werner Schüßler. Darmstadt 2008. S. 217-233, hier: 229. ↩
- Lubac, Glaubensparadoxe, a.a.O., S. 58. ↩
- Voderholzer, Paradox, a.a.O., S. 229. ↩
- Thomas Schärtl-Trendel, Begrüßung und Einführung. 60. Geburtstag von Bischof Rudolf Voderholzer. In: zur debatte 4/2020. S. 31-33, hier: S. 31. ↩