Einst war die Wüste der exemplarische Ort geistlicher Erfahrung. Wie es gelingen kann, daraus unter heutigen Vorzeichen zu lernen, erläutert Isabella Bruckner.
Die Wüste hat die Menschen schon immer fasziniert – sei es auf romantische Weise, als Ort wilder „Ur-Erfahrung“ von Natur und Elementen sowie als Ort der Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen, sei es in ihrer unendlichen Weite, die für den Menschen aufgrund der unbarmherzigen Hitze aber auch schnell die Gefahr des Todes bedeuten kann. Bereits in der Topographie des alten Ägypten hatte die Wüste einen bedeutsamen Ort dargestellt, nämlich als Raum des Todes und dementsprechend als Begräbnisstätte.[1] Dennoch hatten die Bewohner:innen des vorchristlichen Altertums es nie unternommen, die Wüste zu besiedeln oder sie zu bewohnen. Obwohl also die Gräber besucht und Opfergaben dargebracht wurden, waren die Familienmitglieder nie länger an den Gedenkstätten verblieben.[2] Die christlichen Eremitinnen und Eremiten pflegten demengegenüber einen anderen Zugang zur Wüste. Sie suchten die Wüste auf, um Gott gerade im Ungastlichen und scheinbar Unmenschlichen zu begegnen. Ihnen wurde sie zu ebenjenem Ort, an welchem sie die imitatio Christi zu leben versuchten, nachdem mit der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion das Blutmartyrium als ultimatives Glaubenszeugnis Kontext und Notwendigkeit verloren hatte.
Die Erde war wüst und wirr
Die Wüste als Ort und Element nimmt auch in den biblischen Texten eine prominente Rolle ein. Sie findet sich schon in den ersten Versen der biblischen Texte. Im Anfang der Schöpfung sind Wasser und Erde noch wild und unbelebt. Die deutsche Einheitsübersetzung verwendet für den hebräischen Ausdruck tohuwabohu sogar dezidiert eine adjektivische Form des Wortes „Wüste“, um den chaotischen Urzustand zu beschreiben: „Die Erde war wüst und wirr“ (Gen 1,2). Die Septuaginta übersetzt hingegen mit aóratos, was wörtlich „nicht sichtbar“ bedeutet. Dies legt nahe, warum die Wüste als realer Ort für den Menschen so bedrohlich ist: Es gibt in ihr – zumindest für das ungeübte Auge – keine signifikanten Formen der Ordnung, keine Anhaltspunkte, die dem Menschen ein Sehen im Sinne einer Orientierung und damit im Weiteren Schutz vor der elementaren Ausgesetztheit seiner Existenz anbieten könnten. Der Mensch ist in der Wüste ohne positive Hinweise, die ihm eine Richtung weisen, schlichtweg verloren.
Die Grenzenlosigkeit, das a-peiron, stellte in der Antike generell die Ur-Angst des Menschen dar; deshalb galt die Wüste auch als Ort der Chaosmächte, der Dämonen.[3] Gutes Leben konnte sich für den antiken Menschen nur innerhalb eines Rahmens, eines bestimmten Maßes, in einem Netz von qualitativen Unterscheidungen vollziehen. Deshalb ist der entscheidende Akt, den Gott im ersten Schöpfungsbericht der Genesis setzt (Gen 1,1–2,4), um aus dem Chaos einen Kosmos zu formen, der der Differenzierung: der Zeit durch die Scheidung von Tag und Nacht, und des Raumes durch die Scheidung von Wasser und Erde. Die qualitative Unterscheidung von Orten, Räumen und Sphären bildet somit ein Grundprinzip menschlichen Lebens.
Der Gottes-Akt ist: Unterscheiden
Das Chaos, das Wüste der Genesis, wird durch den Gottes-Akt des Unterscheidens eingerahmt, ihm wird ein bestimmter Platz in der Schöpfung gegeben und seine Bedrohlichkeit dadurch eingehegt, aber es verschwindet nicht vollkommen – das Chaotische wird nicht zerstört und bleibt somit eine gewisse Bedrohung in der Schöpfungsordnung. Tatsächlich eignet der Wüste in den biblischen Schriften, so wie allen Orten der biblischen Topographie, eine ambivalente Bedeutung. Einerseits ist und bleibt sie ein Ort der Bedrohung und des Todes. Sie gewinnt aber über weite Strecken auch den Charakter eines Ortes der Läuterung, der Versuchung und Prüfung, wie es in der 40-jährigen Wüstenwanderung des Gottesvolkes oder in der Erzählung von der Versuchung Jesu deutlich wird (Mt 4,1–11). Und dann wird die Wüste auch zum Ort großer Gottesbegegnungen und Offenbarungen: Man denke an Mose, dem während seiner Wüstenwanderung auf dem Berg Sinai der Gottesname offenbart wird (Ex 3,14; 34,5–7), oder an Elia, der in der Wüste von Engeln genährt und schließlich durch die Offenbarung im Windhauch getröstet wird (1Kön 19,5–13) usw.
In der biblischen Topographie ist die Wüste insofern nicht per se ein Bild der Hoffnung. Freude, Hoffnung und Heil erfährt der biblische Mensch, wenn die Wüste blüht, wenn neues Leben entsteht und die Spuren des Gartens sichtbar werden, der das verlorene Paradies wieder aufblitzen lässt (Gen 2,4–3,24). Und doch ist das ultimative Hoffnungsbild der Bibel auch nicht der Garten, sondern die Stadt, wie schon in den hebräischen Prophetentexten sowie zuletzt in der Apokalypse des Johannes deutlich wird: Das vom Himmel herabkommende Jerusalem gestaltet sich als eine Stadt, in der Natur und Kultur eine Versöhnung einzugehen scheinen; in ihr finden sich die vier Flüsse des Paradieses wieder, ebenso wie die Stadt selbst in der Schönheit der Edelsteine der Erde erstrahlt (Offb 21).
Die Ordnung der Stadt und die Kosten von Entwicklung…
Trotzdem ist diese gastfreundliche, nach allen Seiten offene Stadt ein eschatologisches Bild. Durchwegs gestaltet sich nämlich auch die Stadt in den biblischen Texten als zuhöchst ambivalenter Ort: Schon im Zusammenhang mit Lamech, bzw. generell den Nachfahren Kains (Gen 4,17-24), sowie im Späteren anhand von Sodom und Gomorra und am Beispiel vieler anderer biblischer Städte, wird deutlich, dass „Zivilisation“ und „kultureller Fortschritt“ immer eine negative Kehrseite haben; dass „Entwicklung“ stets Opfer erfordert und eine Geschichte der Gewalt mit sich bringt, zumeist auf Kosten anderer.[4] Dies erklärt, warum auch inmitten der scheinbaren Ordnung der Stadt plötzlich wieder das Chaos ausbrechen kann. Heute sprechen wir von den Zivilisationskrankheiten der Beschleunigung (Hartmut Rosa), des Überflusses an Gütern und des damit verbundenen Lärms und Mülls – eine Fülle, welche die tieferliegenden Sehnsüchte der Menschen nicht zu befriedigen vermag, sondern sie vielmehr übersättigt und krank macht. In diesem Sinn bleibt die Wüste als alternatives Ausfluchtsmoment ein notwendiges Außen für die menschliche Zivilisation; sie bleibt in all ihrer chaotischen Bedrohlichkeit ein Ort, der zum Spiegel des inneren Chaos der Gesellschaft, ihrer eigenen Dämonen werden kann, die eben nicht nur die Wüste, sondern mehr oder weniger versteckt auch die Stadt selbst bewohnen.
Die Erfahrung der Ambivalenz von Stadt und Zivilisation machten wohl auch die christlichen Wüstenväter und Wüstenmütter des vierten Jahrhunderts im Zuge der Integration des christlichen Glaubens in das konstantinische Reich. Sinn und Zweck des Auszugs in die Wüste war es, eine neue Stadt zu schaffen, in der Gott wohnen konnte. Indem die Ur-Väter und -mütter des christlichen Mönchtums in die Wüste gingen, verwandelten sie diesen Raum des Todes in einen Ort des Lebens. Mittels ihrer Hände und Worte, durch die tätige und betende Unterscheidung von Räumen und Zeiten, gelang es ihnen, in der unwirtlichen Leere der Wüste ein neues Netz kultureller Oasen zu schaffen: in Unterägypten und Oberägypten (Antonios und Pachomios), Syrien, Palästina, Kappadokien und Konstantinopel, Griechenland, Persien und Äthiopien – allerorts machten sich die Frauen und Männer auf, um in Kargheit und Askese, mehr oder weniger gemeinschaftlich organisiert, dem Zu-Viel der Stadt im Gestus einer Negation und Reduktion einen alternativen Lebensstil und der Sinn-Leere der Wüste einen lebendigen Kosmos entgegenzusetzen.
Dem Anderen Platz machen in der Reduktion auf das Wesentliche
Es war eine „minimalistische Spiritualität“[5], die diese radikalen Gottsucher:innen praktizierten, vielleicht aber gerade deshalb so nachhaltig. Manche ihrer Elemente lassen sich in jeder Form christlichen Mönchtums, ebenso wie in ähnlich gearteten Lebensformen im Hinduismus, Buddhismus oder Islam aufspüren: Schweigen, Gebet, tägliche Arbeit und eine Reduktion des Materiellen auf das Wesentliche dienten dazu, dem Anderen Platz zu machen, was sich nicht zuletzt in einem großzügigen Ethos der Gastfreundschaft zum Ausdruck brachte. Aus diesem Geist versuchen die koptischen Klöster in der Sketis, am Roten Meer oder in den Wüstengegenden Palästinas auch heute noch zu leben.
„Wüste“ war jedoch nie nur in einem realen geographischen Sinn verstanden worden. Der jüdische Gelehrte Philo von Alexandria, der selbst eine Art Einsiedlergemeinschaft gründete, unterschied drei verschiedene Verwendungen des Wortes „eremia“: Erstens ist eremia ein Geisteszustand; zweitens ein physischer Ort; drittens eine Eigenschaft oder Natur eines Ortes. In diesen übertragenen Bedeutungen greift auch das Mönchtum im Westen den Geist der Wüstenväter und -mütter wieder auf, wobei an erster Stelle die Regel des Heiligen Benedikt von Nursia (480–547) zu nennen ist, welche durch die karolingische Klosterreform das Bild vom Mönchtum der lateinischen Kirche tiefgehend prägte.
Worte, Zeichen und Gesten, die Raum und Zeit einen Sinn anbieten
Auf andere Weise suchen auch heute noch geistliche Gemeinschaften nach Wüstenerfahrungen – allerdings nicht mehr außerhalb der Städte, in den geographischen Wüsten, sondern an den Wüstenorten der Städte selbst. Inspiriert durch den ehemaligen Trappisten Charles de Foucauld (1858–1916) versuchen Gemeinschaften wie die Kleinen Schwestern Jesu, die Brüder vom Evangelium, die monastische Familie von Bethlehem oder die Gemeinschaft von Jerusalem mitten in der Stadt oder in deren Krisenherden und sozialen Randgebieten die Spiritualität der Wüste wieder aufleben zu lassen. Nicht als alternatives Großprojekt, sondern in kleinen Lebensgemeinschaften, im Ausüben einfacher Erwerbstätigkeit, in Gebet und Gastfreundschaft streben sie danach, Gott gerade an solchen Orten zu finden, die man als symbolische, geistige oder kulturelle Wüsten bezeichnen könnte.
Weniger wird in diesen neuen „mönchischen“ Gemeinschaften eine neue Stadt gebaut, als dass die bestehenden Städte selbst von innen her verwandelt werden. Ebendort, an den wüsten Orten selbst, gilt es, einem neuen lebendigen Kosmos Raum zu geben; durch tätige Solidarität mit dem Bestehenden, Freundschaft mit allem, was da ist, und durch Worte, Zeichen und Gesten, die Raum und Zeit einen Sinn anbieten. Vielleicht vermag diese kleine, leise Form monastischen Lebens gerade heute, im Zeitalter der Megacities, in welchem die Stadt bald für den Großteil der Erdenbewohner:innen die zentrale topographischen Identifikationsgröße bilden wird, ein heilvolles Echo der Wüstenspiritualität zu sein.
[1] Vgl. Collinet, Benedikt: Wüste als anderer Andersort. Die innere Verwüstung biblisch durchwandern, in: feinschwarz. Theologisches Feuilleton, 19. Juni 2021, https://www.feinschwarz.net/wueste-als-anderer-andersort-die-innere-verwuestung-biblisch-durchwandern/(13.04.2023).
[2] Vgl. Brooks Hedstrom, Darlene L.: The Monastic Landscape of Late Antique Egypt. An Archaeological Reconstruction, Cambridge: Cambridge University Press 2017, https://doi.org/10.1017/9781316676653, 139.
[3] Vgl. Appel, Kurt: The Borders of Borders. Christianity and the Rethinking of Public Space, in: J-RaT 5 (2019) 516-530, 520; doi:10.30965/23642807-00502011
[4] Vgl. Deibl, Jakob Helmut: Vom Namen Gottes und der Eröffnung neuer Sprachräume: Theologisch-sprachkritische Erwägungen im Ausgang von Bibel, Hölderlin und Rilke, in: Appel, Kurt (Hg.): Preis der Sterblichkeit. Christentum als Neuer Humanismus, Freiburg i. Br.: Herder 2015 (QD 271), 61–125, 66–68.
[5] Habenicht, Uwe: Minimalistisch glauben. Eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert, in: feinschwarz. Theologisches Feuilleton, 02. März 2018, https://www.feinschwarz.net/minimalistisch-glauben/ (13.04.2023).
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Dr. Isabella Bruckner ist Professorin für „Christliches Denken und Spirituelle Praxis“ (Pensiero e forme dello Spirituale) am Päpstlichen Athenäum Sant’Anselmo in Rom. Trägerin des Karl-Rahner-Preises 2022.
Bild: Rosel Eckstein / pixelio.de