Jörg-Dieter Wächter setzt sich kritisch mit der These des Augsburger Schulpädagogen Klaus Zierer auseinander, „Ehrfurcht vor Gott“ sei das wichtigste Ziel von Erziehung und Bildung.
Das Bildungsziel „Ehrfurcht vor Gott“ klingt heute einigermaßen befremdlich. Umso erstaunlicher ist es, dass Klaus Zierer über ein Gespräch mit katholisch.de hinaus auch eine Publikation1 vorlegt, die sich ausdrücklich der Ehrfurcht vor Gott als wichtigstem Ziel von Erziehung und Bildung widmet. Erstaunlich ist auch, dass das angeblich „wichtigste Bildungsziel“ in der schulpädagogischen Debatte der vergangenen Jahrzehnte überhaupt keine Rolle gespielt hat.
Zierer beruft sich dabei insbesondere auf die Verfassung des Freistaats Bayern, in der sich die Ehrfurcht vor Gott neben der Achtung religiöser Überzeugungen, der Würde des Menschen und anderen Tugenden als Ziele der schulischen Erziehung findet. Die „Ehrfurcht vor Gott“ steht an erster Stelle eines Katalogs wünschenswerter Haltungen. Die bayerische Verfassung steht keineswegs allein da mit einer beachtlichen Aufzählung dessen, was die öffentliche Schule leisten soll. Eine amüsante (nicht vollständige) Zusammenstellung findet sich unter https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/stilblueten-schulrecht-pathos-was-kinder-lernen-sollen.
Mit dem Wert „Ehrfurcht vor Gott“ setzt Zierer nicht nur die Existenz Gottes voraus, sondern normiert auch eine bestimmte Haltung ihm gegenüber. Die Existenz Gottes ist nicht fraglich, sie ist auch nicht Ergebnis eines Lern-, Bildungs- oder Sozialisationsprozesses. Mit „Gott“ meint Zierer in gewagter Uminterpretation ein „übergeordnetes Prinzip“, eine „Grundidee der Welt“, ein „Höheres“, das sich dem menschlichen Zugriff entzieht. Dieses „Höhere“ schafft Ordnung, und diese Ordnung, die interessanterweise keine vom Menschen erzeugte und auf die Welt projizierte Ordnungsvorstellung ist, sondern eine vorgefundene, entdeckte Ordnung, bewirkt im Menschen eine ehrfürchtige Haltung der Welt und ihrer Ordnung gegenüber.
Inwiefern ein Prinzip oder eine Grundidee der Welt Ehrfurcht hervorrufen soll, bleibt einigermaßen rätselhaft. Die konsequente Interpretation der Welt als Schöpfung eines personalen Gottes, der seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen in Liebe zugewandt ist, ist für eine Haltung der Ehrfurcht offen, fordert sie geradezu. Aber die Uminterpretation Gottes zu einem bloßen Prinzip wird Gott nicht gerecht, weil er damit entwertet wird, und sie wird dem konstruierten Prinzip nicht gerecht, weil dieses keine Ehrfurcht erheischen kann.
Das Ziel der Erziehung kann nicht unmittelbar bewirkt werden.
Wenn Erziehung keine Dressur sein soll, verbieten sich Manipulation, Überredung, Gewalt und alle Methoden, die die Freiheit der Kinder und Jugendlichen missachten. Es gehört zu den paradoxen pädagogischen Konstellationen, dass das Ziel der Erziehung nicht unmittelbar bewirkt werden kann. Das pädagogische Paradox lässt sich im konkreten Handeln dadurch entschärfen, dass dem Kind oder Jugendlichen die Möglichkeit zur Mitwirkung gegeben wird, und dass jederzeit die Option besteht, sich kritisch zu den pädagogisch erwünschten Zielperspektiven zu verhalten. Selbstverständlich kann und sollte man dem Kind Erfahrungsräume anbieten, in denen sich Haltungen und Wertüberzeugungen entwickeln können. Aber die tatsächliche Herausbildung und Kultivierung von Haltungen haben die Erziehenden nicht in der Hand.
Blickt man auf die frühkindliche Erziehung im familiären Rahmen, so wäre eine Konstellation denkbar, in der religiös überzeugte Eltern mit ihrem Kind beten, mit ihm in die Kirche gehen, ihm nicht nur Erfahrungsräume anbieten, sondern dem Kind auch zeigen, welche konkreten Folgerungen für die Lebensgestaltung sich daraus ableiten. Dem Kind wird das Mithandeln (die Partizipation) ermöglicht, und in diesem Mithandeln kann es eigene Erfahrungen machen und Schlüsse ziehen. Das Kind wird in einem frühen Stadium durch Beobachten und Nachahmen lernen können. Im gemeinsamen Beten, Feiern und im damit zusammenhängenden solidarischen Handeln erlebt das Kind die Überzeugung der Eltern, dass sie ihr Leben vor Gott verantworten wollen.
Wer wollte Lehrkräften die ‚Ehrfurcht vor Gott‘ abverlangen?
Über kurz oder lang wird dem Kind allerdings klar werden, dass eine durch die Eltern praktizierte Sitte des Gebets, der religiösen Gemeinschaft und der Mildtätigkeit erstmal nur innerhalb der Kernfamilie gilt. Bei den Freunden und Freundinnen, bei anderen Familien, in der Kita und in der Schule kann das alles schon ganz anders aussehen. Vermutlich haben tatsächlich sehr viele Familien die Erfahrung gemacht, dass sich ihre religiöse oder wertorientierte Erziehung in einer heterogenen Gesellschaft kaum bruchlos erhalten lässt. Spätestens dann wird man gegenüber den Kindern argumentieren, begründen, erläutern; und spätestens dann wird sich zeigen, dass die geglaubte Homogenität des familiären Binnenraums bröselt.
Unterstellt man, dass sich im Laufe der hoffentlich gelungenen religiösen Erziehung beim Heranwachsenden ein Mitgefühl für das Leben, ein Gefühl der Verantwortung für die Schöpfung und ein Gefühl der Ehrfurcht vor Gott herausgebildet hat, wird sich dieses Gefühl im Widerstreit divergierender Wertorientierungen in der Gesellschaft bewähren müssen. Und dass sich hier im Laufe der letzten Jahrzehnte etwas gravierend verändert hat, kann man nicht nur an den Mitgliedszahlen der Kirchen unmittelbar ablesen.
Wendet man das Modell von Mithandeln und Vor-/Nachmachen im Kontext geteilter Überzeugungen auf die Schule an, sieht man sofort die Grenzen: wer wollte Lehrkräften, auch in Bayern, die „Ehrfurcht vor Gott“ abverlangen, wenn diese möglicherweise selbst rein gar nichts mit Religion und Glauben zu tun haben (wollen)? Und dass die Schule nicht dazu taugt, einer religiös-weltanschaulich heterogenen Gesellschaft zur Homogenität zu verhelfen, versteht sich von selbst. Darüber hinaus wäre es wohl wenig wünschenswert (aber leider denkbar), dass Lehrkräfte ein ehrfurchtgebietendes Gottesbild vermitteln, das selbst hochgradig strittig ist.
Wie also kann man nun sinnvoll mit den verschiedenen Formeln in Präambeln umgehen, die eine Fülle von sich widersprechenden Werten, Orientierungen, Haltungen als wünschenswerte und verbindliche Ziele aufzählen?
Verbindliche Befolgung
Schon die unklare konkrete Bedeutung vieler Vorgaben macht eine verbindliche Befolgung unmöglich. Woran z.B. erkennt man die empfundene „Ehrfurcht vor Gott“? Innere Haltungen sind nicht empirisch messbar, weder durch Beobachtung noch durch Befragung. Insofern verweist auch eine intensive Frömmigkeitspraxis nicht zwingend auf das Phänomen der Gottesfurcht. Die Unklarheit der Formeln verhindert ihre Realisierung, und das ist auch gut so, denn eine konsequente verbindliche Auslegung und Durchsetzung der Zielformeln der Verfassungen und Schulgesetze würde faktisch die Schule zu einer hochgradig normativ strukturierten Organisation machen, die die Freiheit von Schülerinnen und Schülern schon konzeptionell negiert.
Zeitgemäße Auslegung
In einem zweiten Sinne kann man die Zielformeln der Verfassungen und Schulgesetze so interpretieren, dass sie heute in die Zeit passen und auch für aktuelle Institutionen eine gute und tragende Orientierung geben. Das ist der Vorschlag, der von Klaus Zierer vorgelegt worden ist. Man muss, das sollte u.a. gezeigt werden, dann aber sehr genau darauf achten, dass der Gehalt der ursprünglichen Formeln nicht durch ihre Anpassung an den Zeitgeist bis zur Unkenntlichkeit verwässert wird.
Die Ehrfurcht so weit auszulegen, dass sie zum Ordnungsprinzip und zur Grundidee der Welt wird, erscheint vor dem Hintergrund einer entschiedenen Parteilichkeit Gottes, wie sie in der Bibel, aber auch in der Auslegung der Tradition herausgearbeitet wird, als unzulässig. Deshalb ist grundsätzlich zu fragen, ob eine zeitgemäße Auslegung in diesem Falle überhaupt sinnvoll ist, zumal dann, wenn die Ergebnisse gar nicht mehr zum eigentlichen und ursprünglichen Sinn passen.
Historischer Respekt
Die Zielformeln der Verfassungen und Schulgesetze sind in der Regel in einer Zeit entstanden, in der man in bewusster Abgrenzung von der Barbarei des Naziregimes eine umfassende Orientierung schaffen wollte, die den normativen Rahmen der Verfassung und des Rechts der menschlichen Verfügbarkeit (und oft genug der Willkür) entzieht. Damit folgen diese Formeln einem anti-totalitären Impuls, den man sich für eine demokratische Gesellschaft nur wünschen kann. Auch die Widersprüchlichkeit der Vorgaben verweist darauf, dass die Konkretion zuerst ausgehandelt werden muss, dass sie selbst dem demokratisch strukturierten Prozess unterworfen ist.
Heute, in einer sich im Hinblick auf Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, Herkunft, persönlicher Orientierung diversifizierenden Gesellschaft, ist der positive Rückgriff auf die Ehrfurcht vor Gott als wichtigstes Bildungsziel nicht möglich, ohne eine entweder naive oder normative Position einzunehmen. Die schwammigen und widersprüchlichen Formeln kann man dann im Wissen um ihren Entstehungskontext in ihrer Uneindeutigkeit akzeptieren, ohne sie in eine (falsche) Eindeutigkeit aufzulösen. Im Vergleich: wer hätte nicht schon traditionelle Kirchenlieder oder Hymnen mitgesungen, deren Text man nur aus Respekt vor einer Tradition akzeptieren kann, die man heute so nicht mehr mittragen oder gar einführen würde.
Insofern ergibt sich gar keine Notwendigkeit, Formeln der Verfassung, in diesem Falle die Ehrfurcht vor Gott, so auszulegen, dass sie heutigen Vorstellungen irgendwie angepasst werden kann.
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Jörg-Dieter Wächter, ist habilitierter Erziehungswissenschaftler und war bis 2024 Leiter der Schulabteilung im Bistum Hildesheim.
Bild: privat
- Zierer,Klaus; Gottfried, Thomas, Ehrfurcht vor Gott.Über das wichtigste Bildungsziel einer modernen Gesellschaft, Münster 2024. ↩