Zu seinem 70. Geburtstag publizierte Pierre Stutz seine geistliche Biografie mit dem Titel „Wie ich der wurde, den ich mag.“ Eine Besprechung von Andreas Baumeister.
Einem breiten Publikum ist Pierre Stutz durch seine spirituellen Ratgeber und lyrisch-religiösen Texte bekannt. In seiner Biografie beschreibt der Autor sein Leben als einen inneren und äusseren Befreiungsprozess: Die Befreiung von äusseren Prägungen etwa durch die Erziehung in seinem Elternhaus oder die Sozialisation in der katholischen Kirche. Er schildert auch Schicksalsschläge wie seine Frühgeburt oder die Erfahrung des sexuellen Missbrauchs als Sechsjähriger – ausserhalb von Familie, Dorf und Kirche, wie er mehrmals betont.
Frei und geborgen sind die Schlüsselwörter seiner Emanzipationsgeschichte.
Wie ein roter Faden zieht sich dabei das Bekenntnis zu seiner Homosexualität, die er jahrelang unterdrückt, durch das Buch. Erst im Laufe seines Lebens lernt er, offen dazu zu stehen und sie als homosexuelle Begabung zu bejahen. Dabei wird immer wieder klar, dass vor allem das authentische Schreiben ihm ermöglicht, seinen ureigenen Weg zu gehen. Frei und geborgen sind die Schlüsselwörter seiner Emanzipationsgeschichte: Frei werden durch das konzentrische Umkreisen der Lebensthemen, die ihn belasten (8). Und Geborgenheit finden in einer Liebesbeziehung, in der er sich behütet und angenommen fühlt. „Mit einem Menschen schlafen ist ja viel mehr als ein sexuelles Erlebnis: Es bedeutet, aufgehoben zu sein im gemeinsamen Unterwegssein; sich ganz nackt zeigen zu dürfen, voller Sehnsucht und Verletzlichkeit. Sich gegenseitig zu erkennen (so umschreibt die hebräische Bibel die erotische Lust), einander anzuerkennen in der jeweiligen Einzigartigkeit und Verwandlungsfähigkeit.“ (157)
Andere Geschichten zeigen uns einen willensstarken Menschen.
Viele Episoden, die Pierre Stutz berichtet, berühren: Etwa wie er vom Sterben seiner Mutter erzählt und wie er ihr in ihren letzten Lebenswochen nahe sein konnte. Die Beschreibung seines Zusammenbruchs inmitten der Teamkollegen vor seinem Coming out oder wie er seinen Lebenspartner Harald in einer Wanderwoche kennen- und lieben lernte. Andere Geschichten zeigen uns einen willensstarken Menschen, der ohne Angst und von einem inneren Feuer getrieben, konsequent seinen Überzeugungen folgt: Wie er das offene Kloster in der Abbaye de Fontaine-André in Neuchâtel gründet oder wie er ein Schreiben des Apostolischen Nuntius aus Bern entgegennimmt. Dieser übermittelte eine Nachricht der Kongregation für die Glaubenslehre, in der anonym „doktrinale Vorbehalte“ gegenüber seinen Büchern geäussert werden. Vorgeworfen wird ihm, verbindliche Regeln der Liturgie ausser Acht zu lassen, sich nicht im Einklang mit der katholischen Sexualethik zu äussern und sich für das Frauenpriestertum einzusetzen. (95f)
Mitfühlende mit sich selbst werden.
Das Buch beeindruckt durch die Art und Weise, wie Pierre Stutz von seinem Leben berichtet. Nämlich so, dass sich seine eigene Biografie auch als eine Ermutigung für andere liest, die persönlichen Wachstumschancen zu nutzen. Dass es wichtig ist, einschränkenden Lebensmustern immer wieder zu entkommen. (9) Pierre Stutz lädt die Leserinnen und Leser ein, Mitfühlende mit sich selbst zu werden, suchende Menschen zu bleiben, ohne die Mitmenschen zu bewerten oder zu verurteilen. Liebe und Leiden können als die stärksten Verwandlungskräfte im Leben entdeckt werden und es tut gut, dankbar für das zu sein, was jeder und jedem auf dem Lebensweg geschenkt worden ist. Seine Lebensgeschichte lässt erkennen wie wichtig es ist, die eigenen Talente ausleben und gleichzeitig den Mitmenschen Freiräume zu eröffnen, in denen sie sich entfalten können.
Leidenschaft für das Kino
Pierre Stutz gehört zu den kritischen Geistern in der katholischen Kirche, die trotz schwierigen Erfahrungen in und mit ihr nicht aus dieser Kirche austreten. Wie viele andere möchten auch er die Kirche nicht den Kleinkarierten überlassen. Schliesslich lässt er die Lesenden daran Anteil nehmen, wie es ihm heute geht: Wenn er weiterhin seiner grossen Leidenschaft für das Kino frönt und in einer Kulturhalle in Osnabrück, seinem heutigen Wohnort, alte Kulturfilme wie „Harold and Maude“ auf Grossleinwand zeigt und einen Fünf-Minuten-Impuls dazu gibt. Oder wie er weiterhin als politischer Mensch unterwegs ist, der es nicht bei grossen Worten belässt, sondern sich für syrische Flüchtlingsfamilien einsetzt. Und wie er liebevoll seinen Partner Harald umsorgt, der seit einigen Jahren an einer schweren Niereninsuffizienz leidet. „Das Leben formt uns und lässt uns erahnen, wie wir von einem zärtlichen Segen bewohnt sind. Trotz der Einschränkungen, die die Dialyse mit sich bringt, ist Raum dafür, viel Neues zu entdecken. Im Sommer 2023 sind wir seit 20 Jahren liebend unterwegs, rückblickend sind dies die glücklichsten Jahre meines Lebens.“ (185)
Andreas Baumeister war langjähriger Redaktor der Zeitschrift ferment. Er arbeitet als Pfarreiseelsorger in der Nähe von Sursee LU, ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern. Er lebt in Liestal in der Nähe von Basel.
Porträtfoto: Joel Sames
Angaben zum Buch:
Pierre Stutz, Wie ich der wurde, den ich mag, München (bene! Verlag) 2023, 191 S.
Beitragsbild: Buchcover