Es gibt Menschen, die entschuldigen sich zu selten, andere ständig. Teresa Steiner gehört zu letzteren. Diese Beobachtung macht sie zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Reflektion und künstlerischen Schaffenskraft. Lesen Sie selbst, was daraus entsteht.
Jede Schuld muss gesühnt werden, jede Schuld muss Buße tragen – das ist unsere Vorstellung von Gerechtigkeit!? Im Alltag eines spätmodernen Menschen ist es jedoch schwierig, diesem Anspruch wirklich gerecht zu werden. Seit über zweitausend Jahren regen männliche Philosophen, Gläubige und andere Denker große Systeme der Lebensführung an, aus denen sich auch unsere heutigen Moralvorstellungen etabliert haben. Diese jahrhundertelange Moralisierung des Menschen wirkt auf der einen Seite wie eine progressive und zivilisatorische Höchstleistung unserer Spezies. Aber nur solange das Pendel nicht in die Extreme ausschlägt, denn sonst sprechen wir von Menschen, die sich in ihrer eigenen Moralität verstrickt haben. Wenn ich mir mein eigenes Heranwachsen in einer erzkatholischen Kurstadt in der Nähe von Wien, Österreich, vor Augen halte, fällt mir immer wieder auf, dass in meinem Umfeld besonders alt-theologische Schuld- und Sühne-Mechanismen tief verankert waren und dass dieselbigen nicht immer für ein gemeinschaftliches Zusammenleben sachdienlich waren. Aber, zuerst zu mir, damit Sie wissen mit wem Sie es hier überhaupt zu tun haben:
Akt 1. Beichtspiegel der eigenen Seele: Wer bin ich und wieso tue ich das, was ich tue?
Ich selbst, die Autorin, bin ein Typ Mensch, der, wenn mir jemand mit dem Ellbogen ins Gesicht rempelt, womöglich besorgt und nasenblutend nachfragen würde: „Das tut mir leid! Habe ich Ihnen weh getan?“. Das Sich-Entschuldigen ist mir wohlgemerkt seit meiner frühesten Kindheit einverleibt worden, auch als erwachsene Frau trage ich altruistische Züge in mir, die sich trotz Neujahrsvorsätzen – mich im neuen Jahr weniger zu entschuldigen – nicht ablegen lassen. (Wohlgemerkt, ich bekomme diesen Vorsatz sogar schon von Fremden auf Silvesterparties suggeriert). Zu hinterfragen warum ich mich so oft entschuldige, war daher einer von mehreren Impulsen, mich mit dem Phänomen der ›Schuld‹ wissenschaftlich auseinander zu setzen. Je mehr ich aber versuchte die Ursachen meiner inneren Schuldbereitschaft zu eruieren, desto auffälliger wurde die Tatsache, dass ich nicht die einzige Frau in meinem Umfeld war, die diese sich-schuldig fühlende Alltagshaltung pflegte: Sämtliche Frauen in meiner Familie – meine Schwestern, meine Mutter, sogar beide meiner verstorbenen Großmütter – waren so gepolt seit ihrer Kindheit.
Neujahrsvorsatz: mich im neuen Jahr weniger zu entschuldigen
Aber beginnen wir am Anfang: Ich bin also 1988 in einer konservativ-geprägten Kurstadt geboren und römisch–katholisch aufgewachsen. Trotzdem ich kein aktives Kirchenmitglied war (im Gegensatz zu meinen Freunden und Freundinnen) nahm ich dennoch alles mit, was zur Einführung in die katholische Badener Gesellschaft notwendig war: Taufe, Erstkommunion, Firmung und regelmässige Beichtstuhl-Besuche. Dabei waren sowohl meine Grundschule als auch mein Gymnasium nicht nur räumlich sondern auch ideologisch an die katholische Pfarre gekoppelt. Zugegeben: Ich empfand die Konfession im Beichtstuhl bereits als Kind als eine unangenehme und stressige Situation für Kopf und Körper: ein seltsamer Raum, ein erwachsener Mann, der Antworten von mir erwartet und ein göttliches Ohr, das alles hört, was ich sage. Sie können sich also vorstellen, wie diese Geschichte endet, nicht? Es kam nicht nur einmal vor, dass ich mir selbst eine Beichte aus meinen zarten Kinderfingern zog, um schnellstmöglich aus dem dunklen Beichtstuhl zurück zu meinen Freund:innen ans Tageslicht zu dürfen. Ich schätze ich war ca. 6 Jahre alt, als ich das erste Mal eine kirchliche Instanz belog, als ich auf die Sündenfrage selbst semi-fragend meinte: „Äh… ich hab… meiner Mama 10 Groschen aus’m Geldbörsel g’fladert…?“ (wienerisch für „Ich habe meiner Mutter weniger als 1 Cent aus ihrem Portemonnaie geklaut“). Eine Notlüge um dem absolutierenden Priester das zu geben, was er wollte, und trotzdem ich aufatmend den Beichtstuhl verlassen durfte, überkam mich das beängstigende Gefühl dafür im Fegefeuer zu landen, denn Gott wusste von meiner Falschaussage – er hatte ja alles gehört. Ein Teufelskreis entspann sich also, denn zurück in den Beichtstuhl um zu beichten, dass ich gerade gelogen hatte, war immerhin keine Option. Ich hatte als 6-Jährige schließlich einen Ruf zu verlieren.
Eine Notlüge um dem absolutierenden Priester das zu geben, was er wollte.
Im Herbst 2021 – siebenundzwanzig Jahre später – stehe ich als erwachsene Frau plötzlich in demselben Beichtstuhl und messe ihn für meine praktische Masterarbeit aus. An diesem Nachmittag wirkt er weder bedrohlich noch stark in Benutzung. Tatsächlich ist die Beichtpraxis seit den 1970er spürbar zurückgegangen, und die Konfession hat sich räumlich von einem Beichtstuhl in einen Beichtraum erweitert. Als anstrebende Raumstrategin und ehemalige Katholikin (Randinfo: In der Jugend meldete ich mich vom Religionsunterricht ab; Anfang Zwanzig trat ich aus der Kirche aus) entwickelt sich die anfängliche Skepsis gegenüber dem Beichtstuhl jedoch zu einer regelrechten Faszination über seine Architektur. Ich erkenne das Potential einer wissenschaftlichen Untersuchung und melde somit meine Masterarbeit über „die Phänomenologie von ›Schuld‹ und ›Scham‹ der Frau anhand der Raumanalyse katholischer Beichtstühle“ an. Denn ich möchte mich intensiv mit der Konstruktion des Beichtstuhls als ›Schuld-Raum‹ beschäftigen und meine ungeklärten Fragen, die ich seit meiner Kindheit verspüre, versuchen zu beantworten: Wieso fühle ich mich so oft schuldig? Warum muss ich mich konstant entschuldigen? Was bedeutet überhaupt ›Schuld‹?
Akt 2. Eine „Masterarbeit“ auf mehreren Ebenen
Da ich 2021 also auf der Suche nach einem geeigneten Abschlussthema bin, und mich meine Schuldfragen ohnehin beschäftigen, beschließe ich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, und mein privates Thema in einer wissenschaftlichen Arbeit zu „verarbeiten“. Dabei sei zu erwähnen, dass eine Masterarbeit an der Muthesius Kunsthochschule Kiel aus zwei Teilen besteht: aus einer schriftlichen Theoriearbeit sowie einer praktischen Arbeit, deren Schwerpunkt man selbst wählt (70% Praxis, 30% Theorie oder umgekehrt – diese Gewichtung hat sowohl Konsequenzen auf den Arbeitsumfang als auch auf die Benotung). Ich selbst lege den Schwerpunkt auf die Praxis, obwohl die Thesis mit ihrer Recherche dennoch sehr zeitaufwendig und teilweise emotional-geladen ist. Als Einstieg in meine theoretische Vertiefung führe ich nämlich eine dreimonatige Interviewreihe mit sämtlichen Expert:innen aus Fachbereichen wie Philosophie, Theologie, Kulturwissenschaften, Gender Studies, Jura und Architektur zu meinen Hauptthemen ›Schuld‹, ›Scham‹, ›Beichtstuhl‹ und ›Beichtritual‹.
Dabei stelle ich nicht nur mir selbst, sondern auch meinen Gesprächspartner:innen u.a. folgende Fragen: „Was ist ›Schuld‹? Ist sie dem Menschen angeboren oder wurde sie ihm ‚nur‘ sozialisiert? Ist sie das Bedürfnis einem anderen Menschen die eigene Ethik auf’s Auge zu drücken oder ist sie ein Drang sich nicht im Netz der eigenen Moral zu verheddern? Ist ›Schuld‹ ein Bewältigungsmechanismus oder doch ein Identifikationsprozess? Ist sie überhaupt nur ein Gefühl oder eine handlungsbezogene Norm? Ist sie Teil meiner Identität, gar Teil meines Körpers? Und wenn ja, besitze ich die ›Schuld‹ oder besitzt sie mich?“ Auf die Frage „Wo würden Sie ›Schuld‹ am oder im Körper verorten?“ erhalte ich – zu meiner Verwunderung – die unterschiedlichsten Antworten (siehe Grafik). War ich mir vor meiner eigenen Fragestellung doch sicher, dass die allgemeine Antwort „in den Schultern“ ausfallen würde.
Durch meine Gespräche und meine Literaturrecherche realisiere ich zudem, dass der Schuldbegriff komplexer ist als ich anfangs dachte, und dass ihm sämtliche Wissenschaften eine eigene Bedeutung zuschreiben – sei es die Philosophie, die Theologie, die Psychologie, die Jurisprudenz, die Anthropologie, die Literatur, uvm. ›Schuld‹ als solche ist dementsprechend multidimensional zu verstehen, und besitzt keine allgemeine Bedeutung. Ein Satz, der mich und meine Thesis dennoch stark prägt, ist folgender: „Verantwortung heißt die Bereitschaft, Schuld auf sich zu nehmen.“ Karl Jaspers schreibt diesen in seinem Werk Die Schuldfrage (1946), in dem er auch eine Systematisierung von ›Schuld‹ entwickelt, die er in die Dimensionen kriminell, politisch, moralisch und metaphysisch gliedert. Lassen Sie mich überhaupt meine Theoriearbeit kurz vorstellen:
Akt 3. Thesis: Die Suspension der ›weiblichen Schuld‹
Meine theoretische Forschungsarbeit trägt den kurzen Titel „Die Suspension der weiblichen Schuld. Eine Untersuchung des katholischen Beichtstuhls und des patriarchalen Wertesystems“ und untersucht eben das Phänomen der ,weiblichen Schuld‘ anhand der Architektur katholischer Beichtstühle, aber auch der behaupteten ›Ur-Schuld‹ der Frau und dem Machtinstrument der ›Scham‹. Dadurch steht nicht nur die Raumanalyse und -konstruktion des Beichtstuhls im Zentrum meiner Forschung, sondern auch die Hinterfragung des patriarchalischen Denkraums, der sich durch die eigene Zuweisung von Macht durch biblische Narrative und Mythen weltweit manifestiert hat und die Geschlechterhierarchie und den Umgang mit Frauen bis heute prägt. „Wieso sind traditionelle Beichtstühle architektonisch so angelegt, dass sich das Gefühl der ›Schuld‹ im Leib des:r Pönitenten:in verstärken, während auf ritueller Ebene eine ‚Schuld-Auflösung‘ versprochen wird, die nur ein Mann bewilligen kann? Wie unterschiedlich verhält sich diese Beichtpraxis als ‚Reinigungsritual‘ bei den Geschlechtern? Und, wie können sich postmoderne Frauen von ihrem ‚unreinen‘ Image befreien?“ Diese und andere Fragen versuche ich dabei nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene zu beantworten, sondern möchte sämtliche Erkenntnisse in einem immersiven Theaterstück dramaturgisch weiter verarbeiten.
Finaler Akt. Praxis: Ein Beichtstuhl als immersives Theaterstück
Da meine Masterarbeit, wie bereits erwähnt, aus einer Theorie sowie einem praktischen Teil besteht, plane ich für letzteren ein Theaterstück mit einem selbst gebauten Beichtstuhl, der als Kabinen-Bühne funktioniert und im März 2022 in einem Franziskanerkloster in Kiel inszeniert wird. Das Theaterstück trägt dabei den wundervollen Titel „SCHULD+BÜHNE“ (ich hoffe, dass zumindest manche Leser:innen die Referenz zu Dostojewski verstehen) und ist ein hybrides Format aus immersivem Theaterstück und öffentlicher Performance. Der gesamte Theaterraum bietet einen einstündigen Aufenthalt für geneigte Pönitent:innen um oder im Beichtstuhl und die Möglichkeit sich frei zu bewegen und auf die Erfahrung selbstbestimmend einzulassen.
Falls Sie in der Nähe sind oder sich öffentlich ent-schuldigen wollen, kommen Sie doch gerne vorbei! Ich freue mich immer über Gleichgesinnte!“
SCHULD+BÜHNE
Eine Performance-Installation von Mia Fyu / ab 16 Jahre / 2G-Plus-Vorstellung
mit freundlicher Unterstützung von Kieler Klosterverein e.V und Muthesius Kunsthochschule Kiel
Spielort: Kieler Kloster, Falckstraße 9, 24103 Kiel
Termine: Do, 10.03. | Fr, 11.03. | Sa, 12.03.2022
Dauer: 1 Stunde. Keine Pause.
(1) Beginn 19:00 | Einlass 18:45
(2) Beginn 20:30 | Einlass 20:15
Karten nur mit Reservierung via E-Mail: schuld-und-buehne@skymail.de
Ensemble: Claus, Sandra, Anna Regie: Mia Fyu, Regieassistenz: Nadine Scharsitzke Bühne: Mia Fyu Kostüm: Mia Fyu, Nadine Scharsitzke Sound: Rían http://www.klangformat.org, Dramaturgie: Mia Fyu Sound:
Autorin: Teresa Steiner arbeitet als freie theater- und filmschaffende Regisseurin und Dramaturgin, sowie Grafik Designerin unter dem Pseudonym Mia Fyu in Deutschland und Österreich. Derzeit absolviert sie nebenberuflich ihre beiden Masterstudien Raumstrategien und Film an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel, Deutschland.
Bücherempfehlungen:
Bublitz, Hannelore. Im Beichtstuhl der Medien: Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis, Bielefeld: transcript Verlag, 2014. ISBN: 978-3-8376-1371-1
Greenblatt, Stephen: Die Geschichte von Adam und Eva: Der mächtigste Mythos der Menschheit. München: Siedler Verlag, 2018. ISBN 9783827500410
Mulack, Christa: Und wieder fühle ich mich schuldig… Die Ursachen eines weiblichen Problems und seine Lösung. Schalksmühle: Pomaska-Brand Verlag, 2008. ISBN: 393593758X
Van Schaik,Carel / Michel, Kai: Die Wahrheit über Eva: Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern. Hamburg: Rowohlt Buchverlag, 2020. ISBN: 978-3-498-00112-4
Bildquellen:
„Next line for confession“ © Shalone Cason (unsplash); bearbeitet von Teresa Steiner
Grafik „Körper der Schuld“ © Teresa Steiner
Banner „Schuld“ © Teresa Steiner