In der Ukraine forcieren sich die Bemühungen, drei bislang getrennte orthodoxe Kirchenstrukturen in einer gemeinsamen, autokephalen Kirche der Ukraine zu vereinen. Darüber sind nun das Patriarchat von Moskau und das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel in den denkbar größten Konflikt geraten. Der Autor Predrag Bukovec sortiert die Mischung aus Politik, Kirche und Mentalitäten.
Seit Oktober ist die Einheit der Orthodoxie auf eine schwere Probe gestellt, als die Russische Orthodoxe Kirche die Gemeinschaft mit dem Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel aufkündigte. Vorausgegangen war im September die Initiative der Ständigen Synode des Ökumenischen Patriarchats, um den seit Jahrzehnten schwelenden kirchlichen Konflikt in der Ukraine mit den drei konkurrierenden orthodoxen Kirchen einer Lösung zuzuführen: Man nahm das sog. Kiewer Patriarchat und die zahlenmäßig kleine Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche in die Kommuniongemeinschaft auf, damit eine Einheitssynode der beiden bis dahin schismatischen Kirchen mit der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats – der größten Kirche im Land – stattfinde und sich daraus eine einzige autokephale, von Moskau unabhängige Kirche formiere. Dies geschah am 15. Dezember in der Kiewer Sophienkathedrale.
Die Kirche von Moskau betrachtet die Ukraine als Stammland.
Dass Moskau nicht erfreut reagieren würde, war abzusehen, versteht es doch die Ukraine als Teil des eigenen kanonischen Territoriums und müsste im Fall der Abtrennung ein Viertel (oder sogar ein Drittel) der Gläubigen verlieren. Dieser Aderlass hätte für Moskau eine Größenordnung, die das momentane Auffahren härtester Geschütze zu rechtfertigen scheint. Auch symbolisch hat Kiew für die Russische Orthodoxe Kirche eine historische Bedeutung: Die mittelalterliche Kiewer Rus ist die Wiege der eigenen christlichen Geschichte.
Konstantinopel versteht sich als zuständig.
Die Argumente auf der Sachebene, die beide Konfliktparteien öffentlich austauschen, betreffen die Frage nach der kanonischen Zuständigkeit: Das Ökumenische Patriarchat als Ehrenoberhaupt der Orthodoxie versteht sich als Koordinator und Anerkennungsorgan im Falle einer Autokephalie und begründet diese Legitimation mit dem Vorrang, den es seit der Alten Kirche innehat. Das Konzil von Chalcedon hat im Jahr 451 die entsprechenden Rechte eingeräumt, außerhalb des Römischen Reiches letzte Instanz zu sein. Moskau hingegen beruft sich auf ein 1686 von Konstantinopel gewährtes Privileg, den Metropoliten von Kiew zu weihen, und sieht in der jüngsten Intervention eine unzulässige Einmischung in interne Angelegenheiten der Russischen Orthodoxen Kirche, die über Russland hinaus auch auf dem Gebiet anderer Länder ihre historischen Wurzeln hat.
Doch dieser Streit um formale Rechte und prozessuale Zuständigkeiten ist in diesem komplexen Fall nur ein Diskurs unter mehreren. Es kommen andere langjährige und ineinander verworrene Konfliktherde hinzu, die verständlich machen, warum diese Ukraine-Krise alles andere als leicht zu lösen sein wird. Mindestens drei Ebenen kann man m. E. unterscheiden, die aber dadurch verkompliziert werden, dass sie ineinandergreifen und wie der sprichwörtliche Gordische Knoten nur schwer zu lösen sind.
Die erste Ebene betrifft Grundsatzfragen panorthodoxer Entscheidungsfindung. Die Ukraine ist hierbei der Anlass, die Gründe liegen aber viel tiefer.
Kräftemessen zwischen zwei Akteuren.
Wie das 2016 auf Kreta abgehaltene Konzil schon gezeigt hat, hatte man sich schon im Vorfeld auf die Verschiebung des strittigen Themas „Autokephalie“ für eine spätere Gelegenheit geeinigt und setzte es nicht auf die Tagesordnung. Und dennoch fehlte Moskau gemeinsam mit drei weiteren autokephalen Kirchen; dies weist schon auf die Entfremdung untereinander hin und mutet wie ein Vorbote der jetzigen Eskalation an. Zugespitzt gesprochen stehen sich der Ehrenvorrang des Ökumenischen Patriarchats und das Gewicht Moskaus als bei weitem zahlenstärkste orthodoxe Kirche gegenüber. Die Unterbrechung der Communio, die Moskau ausgesprochen hat, ist besorgniserregend und doch zugleich ein „bewährtes“ Mittel zur Austragung solcher Konflikte: Man darf nicht vergessen, dass zwischen Athen und Konstantinopel im 19. Jahrhundert ein solches Schisma bestand. Über 80 Jahre lang (1870–1953) standen Bulgarien und das Ökumenische Patriarchat nicht in Kommuniongemeinschaft. Und auch heute noch gilt dies für das Verhältnis der beiden Patriarchate von Antiochien und Jerusalem. Von ähnlicher Tragweite dürfte auch die Frage nach der Struktur der Orthodoxie in der Diaspora sein (Westeuropa, Nordamerika, Australien): Die Errichtung von Bischofskonferenzen aufgrund paralleler Jurisdiktionen ist laut Kreta ein Übergangs-zustand, der im Kern dem Ideal widerspricht, aber bis zur endgültigen Klärung einen angemessenen Modus operandi bietet. Dieses Problem betrifft die Ukraine zwar nicht direkt, wohl aber indirekt:
Die zweite Ebene hat nämlich mit politischen und geostrategischen Orientierungen zu tun.
Kirchenfragen sind politische Fragen.
Die Sympathie für die Autokephalie der Ukraine vonseiten des Ökumenischen Patriarchats, sowohl im Phanar als auch in der nordamerikanischen, griechischsprachigen Diaspora – einer seiner der größten Communities heute –, trifft sich mit dem Wunsch nach kirchlicher Unabhängigkeit in der Ukraine selbst. Im Osten des Landes sind hingegen die russlandtreuen Kräfte stärker. Es überschneiden sich also Ambitionen, die uns aus der politischen Ukraine-Krise, die in der Annexion der Krim 2014 offen zutage traten und heute weiterhin die Tagespolitik bestimmen. Nicht zufällig liegt es im ureigensten Interesse des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, die Autokephalie voranzutreiben. Hierfür reiste er vor wenigen Wochen in den Phanar und einigte sich vertraglich mit Konstantinopel auf das künftige Vorgehen.(1) Im März 2019 wird sich der Präsident der Wiederwahl stellen. Das Moskauer Patriarchat sieht in diesen Vorgängen eine Vermischung von Staat und Kirche, ist aber natürlich selbst dem Kreml nicht immer fern. Wladimir Putin hielt sich bisher vergleichsweise bedeckt, warnte aber schon vor Einmischung in die Kirche und sieht sich als Schirmherr der Kirchenfreiheit.(2) Dass die Ukraine und Russland im Osten des Landes faktisch im Krieg stehen, lässt böse Vorahnungen für die Zukunft befürchten, wenn sich jetzt das Schlachtfeld auf die Kirche verschiebt. In der Wortwahl rüstet man schon auf.
Was will eigentlich die Bevölkerung?
Als dritte Ebene kommt die Zivilgesellschaft ins Spiel. Jüngste Umfragen haben ergeben, dass sich in der Bevölkerung der Ukraine eine Mehrheit finden ließe, die beim von Konstantinopel angestoßenen Vereinigungsprozess mitziehen würde.(3) Es ist durchaus nachvollziehbar, dass sich viele Ukrainerinnen und Ukrainer fragen, warum sie mit ihrer langen Tradition keine eigene autokephale Kirche haben sollen, wenn dies in ihren Nachbarländern (Rumänien, sogar kleine orthodoxe Kirchen wie Polen und Tschechien/ Slowakei) möglich ist. In diesem Sinne hat sich auch die v. a. im Westen starke Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche solidarisch geäußert. Dem stehen in Russland sowie im Osten der Ukraine häufig Tendenzen zur alten Geschichtsnarration von Groß-, Klein- und Weißrussland entgegen; auch die Russische Orthodoxe Kirche selbst versteht sich nicht als Nationalkirche, sondern als multinationale Kirche, wenn auch unter starker russischer Präsenz. Diese wiederum wollen in der Ukraine eben viele nicht mehr.
Wie wird es weitergehen? Naturgemäß sind keine Prognosen möglich, erst recht nicht bei einem derart in sich verschachtelten Thema. Als wichtige Dynamiken kann man heute schon folgende ausmachen: Zuallererst sind die Ukrainerinnen und Ukrainer gefragt. Von der öffentlichen Meinung in der Bevölkerung wird ein Gutteil abhängen. Dann: Wie geschlossen bleibt die größte orthodoxe Kirche im Land, die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats? Wird es dazu kommen, dass sich vorerst nicht alle drei orthodoxen Kirchen, aber wenigstens die zwei nicht von Moskau abhängigen vereinen (d. h. das sog. Kiewer Patriarchat und die kleine Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche)? Als weiterer bedeutender Faktor wird sich die Positionierung der anderen autokephalen Kirchen herausstellen.
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Autor: Univ.-Ass. Dr. Predrag Bukovec, Institut für Historische Theologie, Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien
Foto: Aurelian Romain / unplasch.com
(1) S. https://www.pro-oriente.at/?site=ne20181103230149 (Abruf 25.11.2018).
(2) Kathpress Nr. 827 (9. November 2018), S. 9-11.
(3) Kathpress Nr. 826 (2. November 2018), S. 6.