Was sagen uns biblische Texte in Zeiten des Krieges? Können sie uns helfen – und wenn ja, auf welche Weise? Katrin Brockmöller sondiert ein komplexes Thema.
Die Bilder der zerstörten Städte, der Menschen vor Panzern, der Frauen mit ihren Kindern: dieser Krieg dringt tief in unsere Herzen ein. Ebenso all das, was wir hören aus dem Mund von politisch Verantwortlichen, von Soldatinnen und Soldaten, von Frauen und Männern auf der Flucht, das Weinen oder Verstummen der Kinder. Die Wirkung ist die, die ein Krieg immer auslöst: Die Sicherheit geht verloren: Die Selbstverständlichkeit von Positionen, die klare Differenzierung von gut und böse, richtig oder falsch, ja, das Vertrauen in die Welt. Die Welt ist ambivalent, jede Nachricht mehrdeutig und ganz Verschiedenes kann gleichzeitig wahr sein. Noch stärker als bisher wird jedes Wort, jeder Gedanke, jedes Gebet und jede Handlung zur Gewissensprüfung: Wo stehe ich? Wem glaube ich? Wie reagiere ich? Wen verletze ich? Mit wem bin ich solidarisch? Wo sind meine eigenen Grenzen? Zu welchem Einsatz bin ich persönlich bereit?
Vielleicht ist es gerade die wichtigste spirituelle Übung, all diese Ambivalenzen offen zu halten – und genau darin Gottes Geistkraft zu begegnen?
Immer wieder werde ich gefragt, was sagt jetzt eigentlich die Bibel zum Krieg? Ich bin mir in einer Sache sehr sicher: Die Bibel hat keine eindeutige Position in dieser Frage. Sie zeigt mir aber die vielen Positionen, die über Jahrtausende praktiziert, erlebt oder erhofft wurden. In dieser Vielfalt wandere ich, prüfe die Kontexte, schöpfe Hoffnung und ahne, wie alles mit allem verbunden ist.
Oder ich kann mich fallen lassen in biblische Worte und Gebete, meiner Seele erlauben, leise zu weinen, zu wüten, zu hassen und friedlich zu ruhen. Ich brauche und gebrauche diese Texte. „Der Wert eines Gedichts steigt im Winter. Vor allem in einem harten Winter. Vor allem in einer leisen Sprache. Vor allem in unberechenbaren Zeiten. (Serhij Zhadan, ukrainischer Dichter)
Es ist eine alte Weisheit, die ich gerade neu begreife: Gebet und Reflexion sind die Quellen für meine Entscheidungen.
Sie erlernen nicht mehr den Krieg
„Am Ende der Tage“ so beginnt dieser berühmte Text (vgl. Jesaja 2,1-5 und Micha 4,1-5). Ich entdecke, dass die großen Übersetzungen hier einen Unterschied machen. Wird sich diese Vision erfüllen am Ende der Welt (so die Einheitsübersetzung und Luther: letzte Zeit) oder spricht sie über zwar jetzt noch „ferne Tage“ (so Zürcher Bibel)? Hält der Text seine Realisierung selbst für möglich? Eigentlich wäre es praktisch, wenn das nur eine Vision für das Ende der Welt wäre. Schön, aber aktuell nicht erreichbar. Liegt nicht in meiner Verantwortung. Ich kann mich entspannen und von den schönen Bildern verzaubern lassen.
Ich schlage meine hebräische Bibel auf und dazu gleich den Kommentar von Ulrich Berges und lerne: Es geht wohl doch nicht um das Ende der Welt, sondern konkret um die Rückkehr Zions zu Recht und Gerechtigkeit. Für die damaligen Leserinnen und Leser eine Vision, die sie erwarten dürfen – und zugleich ein moralischer Appell! Und heute? Ich spüre meine Sehnsucht, ja bitte: Jede und jeder wohnt unter seinem Weinstock und Feigenbaum und nichts erschreckt sie. Und wie Micha ergänzt: Jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes.
Im Buch Micha wird die Friedensvision bekräftigt mit: „Ja, der Mund des Herrn der Heerscharen hat gesprochen.“ Der Gottesname JHWH wird kombiniert mit dem Begriff Zebaoth, dessen Bedeutung nicht eindeutig ist. Es kann sein, JHWH Zebaoth verweist grundlegend auf die Macht Gottes – vielleicht aber auch konkret auf die himmlischen Heerscharen oder gar auf das Heer des Volkes Israel. Wird Gott also ausgerechnet in diesem Friedenstext mit seinem „militärischen“ Beinamen angesprochen? Was schwingt wirklich mit bei diesem Gottesnamen, bei den ersten Hörerinnen und Hörern, bei uns heute?
Schaut zu, wie Gott euch heute rettet
In wenigen Wochen lesen wir wieder in der Osternacht von der Rettung des Volkes Israel am Schilfmeer. Immer neu dreht sich die Diskussion um diese Frage: Wie kann Gott die Ägypter töten? Wieso hat er kein Mitleid und keine andere Idee? Die Soldaten haben doch auch Frauen, Mütter und Kinder? Die Freude an der Rettung ist schwer einfühlbar. Vielleicht weil in Westeuropa seit mehreren Generationen kriegerische Angriffe auf unsere Freiheit undenkbar waren?
Bisher habe ich rund um den Exodus immer auf die religionsgeschichtlichen, historischen oder literarischen Hintergründe verwiesen. In der Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens kämpfen metaphysische Mächte. Die Erzählung ist ein literarisch umgesetzter Kampf zwischen Gut und Böse an sich. Die gute Macht ist „JHWH“ und mit ihm sein Volk (und dazu ein Haufen anderer Leute vgl. Ex 12,38). Die böse Macht geben „Pharao“ und seine ägyptischen Untertanen. Die Pointe ist eindeutig: Eine Gottheit, die nicht schafft, ihr Volk zu schützen, erweist sich eben als nicht stark genug – so wechseln in der Antike die Bekenntnisse immer mit den Siegern. In diesem Fall gewinnt JHWH – zumindest literarisch.
Dazu kann man auch eine zweite, historisch begründete, Spur legen: Wenn erzählerisch die ägyptische Streitmacht zerstört wird, kann das nur eine Fiktion und also eine Mut-mach-Erzählung sein. Das ägyptische Großreich blüht in der erzählten wie in der Zeit, in der Erzählung ihre letzte Redaktion erhielt. Ja, nicht ein einziges Mal in der Geschichte konnte das kleine Israel dem ägyptischen Großreich widerstehen oder es gar wirklich entscheidend schwächen. Alles, was vielleicht historisch möglich war, ist die Flucht einer kleinen Gruppe von Sklavinnen und Sklaven. Immer war das Volk Israel zwischen den Großmächten zerrieben. Wenn Gott in biblischen Texten für und mit Israel kämpft, so ist das immer ein Bekenntnis gegen die Erfahrung. Eine Hoffnung und eine immer neu eingeforderte Bindung an den Gott JHWH.
Es bleibt als drittes also die literarische Deutung relevant. Diese Geschichte wird erzählt, um die Rettung zu feiern und um Gottes Handeln für Israel und die wechselseitige Bindung zu tradieren. Natürlich sterben die Bösen, wie eben auch Hänsel und Gretel die Hexe umbringen und niemand Mitleid mit ihr hat.
Im Kontext des aktuellen Krieges erhält die Ambivalenz des nicht erst heute so oft empfundenen Mitgefühls mit den Ägyptern noch eine weitere Dimension. Schon die rabbinische Tradition weiß darum und erzählt daher zwei ganz unterschiedliche Reaktionen der Engel: Als das Meer die ersten Ägypter ertränkte, fingen die Engel im Himmel an zu klatschen, zu tanzen und zu feiern. Da schritt Gottes sorgenvolle Stimme ein und sagte: „Das Werk meiner Hände, meine Schöpfung, ist im Meer versunken!“ Parallel gibt es auch die rabbinische Tradition, dass die Engel weinten, als sie sahen, wie die Ägypter starben.
Wenn ein Zustand so eskaliert ist, dass es um Leben und Tod geht, die Wahl tatsächlich Freiheit oder Sklaverei heißt, dann ist die tödliche Vernichtung des Feindes nötig und gerechtfertigt? Ist das eine Position, die unter dem Text des Auszugs liegt? Und wieder ist die Antwort Ja und Nein – gleichzeitig. Ja, Gott rettet und nimmt den Tod der Ägypter in Kauf. Aber: Nicht Israel kämpft. Gott selbst ist aktiv und Israel soll „stehen und schauen und ruhig abwarten“ (vgl. Ex 14, 13-14).
Die Erzählung besteht sogar darauf, dass Gott sein Volk auf der Wanderung durch die Wüste vor Kriegserfahrungen schützt und erklärt so die Umwege der Wanderungen: „Die Leute könnten es sonst, wenn sie Krieg erleben, bereuen und nach Ägypten zurückkehren wollen.“ (vgl. Ex 13,17).
Wohin sollt ihr noch geschlagen werden?
Die innerbiblische Reflexionsspirale dreht sich immer weiter, Text für Text, Erzählung für Erzählung, Gebet über Gebet. Gott ist es, der die Ägypter bekämpfte. Die Großmächte Assur und Babylon sind Werkzeuge in Gottes Händen. Assur und Babylon strafen im Auftrag Gottes, so die redaktionell der gesamten biblischen Tradition eingeschriebene Deutung, Israel für seine soziale und religiöse Unaufmerksamkeit und Ungerechtigkeit. Gott hörte damals auf die Klage seines Volkes: „Ich habe sorgsam auf euch geachtet und habe gesehen, was man euch in Ägypten antut“. Israel aber hört nichts. Es bleibt unbarmherzig und ignoriert das Schreien der Unterdrückten und die prophetischen Rufe: „Überall Unterdrückung, nichts als Betrug! Sie weigern sich, mich zu kennen“ (vgl. Jeremia 9,5 u. ö.)
So kommt es zur Eskalation, Etappe für Etappe verliert sich das Volk: „Ihr bleibt ja doch widerspenstig. Der ganze Kopf ist wund, das ganze Herz ist krank. Von der Fußsohle bis zum Kopf ist nichts heil an ihm, nur Beulen, Striemen und frische Wunden, sie sind nicht ausgedrückt, nicht verbunden, nicht mit Öl gelindert. Euer Land ist verwüstet, eure Städte sind feuerverbrannt. Fremde verzehren vor euren Augen den Ertrag eures Ackers.“ (Jesaja 1,6-7)
Ich beende hier meine Textwanderung im Wissen darum, dass es noch so viele Ebenen zu entdecken gibt. Die Kernfragen lauten immer neu: Was ist historisch geschehen? Wie wurde das theologisch gedeutet und in Sprache gebracht? Welche verschiedenen Positionen gibt es? Und wie bewältigen wir heute ein Gottesbild, das so viele und ambivalente Facetten beinhaltet?
Ein Gott, der den Kriegen ein Ende setzt
Neben all den biblischen Texten, die von Schuld und Versagen, von Ausbeutung und Machtmissbrauch, von Ignoranz und Überheblichkeit erzählen, finde ich noch eine weitere Spur, die Abstand vom Krieg nimmt. Eine Hoffnungsspur, die von Kriegen erzählt, die nicht gekämpft werden.
Der schönen Witwe Judit gelingt es, Holofernes den Kopf abzuschlagen und so ihr Volk zu retten. Der Anführer ist tot. Voll Jubel singt sie (wie Mirjam): „Stimmt ein Lied an für meinen Gott unter Paukenschall … rettete mich aus der Hand der Feinde. Assur kam von den Bergen des Nordens mit seiner unzählbaren Streitmacht; die Masse der Truppen verstopfte die Täler, sein Reiterheer bedeckte die Hügel. Brandschatzen wollten sie mein Gebiet, die Jugend morden mit scharfem Schwert, den zarten Säugling am Boden zerschmettern, die Kinder als Beute verschleppen, als billigen Raub die Mädchen entführen. Doch der Herr, der Allmächtige, gab sie preis, er gab sie der Vernichtung preis durch die Hand einer Frau.“ (vgl. Judit 16,1-5)
Dass ausgerechnet eine Witwe den obersten Kriegsherrn so betören kann, macht die vornehmliche Stärke des männlichen Militärs lächerlich. Die Tat Judits ermächtigt zum Handeln in scheinbar ausweglosen Situationen. Die „kopflosen“ Soldaten fliehen und sind nicht in der Lage sich selbst zu organisieren. Nicht nur die Brutalität, das Leid, sondern eben auch die Dummheit, die sich im Krieg offenbart, ist hier wunderbar erzählerisch umgesetzt. So ein Text macht Hoffnung, vor allem dann, wenn diese Geschichte diejenigen erzählen, die immer unterlegen sind.
Ein weiterer Text, der mich sogar zum Schmunzeln bringt, ist Deuteronomium 20,1-9. Wenn das Heer aufgestellt wird, dann sollen zunächst einmal große Reden gehalten werden, die einstimmen auf das Kommende, Mut machen und auf den Kampf einschwören. Dann aber soll folgende Befehle erteilt werden: Alle sollen heimgehen und nicht kämpfen, die gerade ein Haus gebaut, einen Weinberg gepflanzt, sich verlobt haben oder einfach vor Angst zittern. Es wird einfach niemand übrigbleiben, um den Krieg zu führen.
Hast du uns denn ganz verworfen?
Eine Freundin sagte mir, ich habe keine Lust mehr, um Frieden zu beten. Wenn ich ehrlich bin, hasse ich Gott, weil er nichts tut. Genau das ist die biblische Spur: Das Gespräch mit Gott nicht aufzugeben, das Lesen nicht aufzugeben und das Beten mit den Worten, die das Grauen zum Ausdruck bringen und die Verzweiflung: „Am Boden liegen in den Gassen Kind und Greis. Meine Mädchen und jungen Männer fielen unter dem Schwert. Du hast sie erschlagen.“ (Klagelieder 2,21).
Es gehört Mut dazu, diese Frage zu wagen mit der auch das Buch der Klagelieder endet: Hast du uns denn ganz verworfen? (vgl. Klagelieder 5,22).
Die Hoffnung bleibt, dass wir eines Tages, „in die Antwort hineinleben“ und sich „Gerechtigkeit und Frieden küssen“ werden (vgl.Ps 85,11).
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Katrin Brockmöller ist Direktorin des Katholischen Bibelwerk e.V. in Stuttgart.
Bild: Gerhard Prantl – pixelio.de