Im Zusammenhang mit der Frage, wie die katholische Kirche den Missbrauchsopfern begegnen könnte, plädiert Annette Meyer für eine Vergebungsliturgie an Ostermittwoch.
War zunächst die weltweite Kirche im Fokus der Missbrauchsskandale, steht spätestens nach dem 12. September 2023, dem Datum der Veröffentlichung der nationalen Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche, auch die Schweiz vor einem Scherbenhaufen. Ein „dies horribilis“ als Wendepunkt für die Schweizer Katholiken und Katholikinnen, blickten sie doch bisher teilweise etwas verstohlen auf die Nachbarländer und befanden sich als eher nicht betroffen – so zumindest in meinem Umfeld.
Der Umgang der katholischen Kirche mit ihren Opfern bleibt bislang eine der grossen Leerstellen.
Bereits über ein Jahr ist seither vergangen. Einiges ist zwischenzeitlich schon geschehen, viel Grundlegendes und Strukturelles muss (auch weltweit) noch angegangen werden: So kümmerte sich das kanonische Recht lange Zeit im wahrsten Sinne des Wortes um die Täter; die Opfer waren nicht der Rede wert[1]. Auch wenn in neuerer Zeit je nach Bistum aktivere Bemühungen erkennbar sind, ist und bleibt der Umgang der katholischen Kirche mit ihren Opfern bislang eine der grossen Leerstellen. Es mutet schal an, wenn eine Institution, der gerade in Katastrophenfällen oder bei Grossschadensereignissen heute zumindest noch eine liturgische/rituelle Kompetenz zugesprochen wird, offensichtlich nicht adäquat zu agieren weiss: So zeugen doch gerade die Sakramente und ihre Liturgien an den entscheidenden Lebenswendepunkten wie Geburt (Taufe), Heirat oder am Ende des Lebens, aber auch bei Krankheit (Krankensalbung) und aufgeladener Schuld (Beichte/ Bussgottesdienst) davon, dass die Kirche die Menschen durch ihr ganzes Leben hindurchtragen und begleiten möchte.
Und die Opfer?
Was aber ist mit den Opfern? Lassen sich die Opfer von physischem und psychischem/geistlichem/spirituellem Missbrauch überhaupt liturgisch-sakramental verorten? Aus altrechtlicher kanonischer Perspektive vor dem Jahr 2021 müsste man ein Opfer kirchlichen Missbrauchs wohl ebenfalls der Beichte zuweisen, hat es sich doch gegen einen Kleriker versündigt – so die damalige Auslegung, welche die Schuld am Missbrauch beim Opfer festmachte. Denkbar wäre auch die Krankensalbung für die Opfer, da im Kontext von kirchlichem Missbrauch grundsätzlich kein Übergriff denkbar ist, ohne dass damit nicht mindestens psychische und seelische Beeinträchtigungen einhergehen. Aber, Hand aufs Herz, ist dies passend?
Für viele Opfer ist Vergebung (…) ein essentieller Akt der Befreiung und Heilung.
Für viele Opfer ist – oft nach langer Leidenszeit und vielfach nach therapeutischer Arbeit – Vergebung ein essentieller Akt der Befreiung und Heilung. Gerade bei kirchlichen Missbrauchsopfern beschränkt sich die Vergebung zudem nicht nur auf die eigentliche Täterschaft. Das Opfer sieht sich meist mit einem sehr viel grösseren Kreis konfrontiert: Den Wegsehenden; den geflissentlich Übersehenden; den Personen, die ins Vertrauen gezogen wurden, aber aus Angst, ihre kirchliche Gemeinschaft (auch!) zu verlieren; schweigen („der [narzisstische] Pfarrer ist halt so“) und das Opfer bitten, niemandem zu sagen, dass sie etwas wissen; den plötzlich nicht mehr oder nur noch knapp Grüssenden im Dorf; den aktiv Vertuschenden; den mundtot machenden Verantwortlichen, die nicht nur in bischöflichen/priesterlichen Leitungsgremien sitzen, sondern in der Schweiz aufgrund des dualen Systems in den ehrenamtlichen Kirchgemeinderäten als Anstellungsbehörden in den Pfarreien agieren – dies oft auch aufgrund einer besonderen Verbundenheit mit dem Seelsorgeteam vor Ort … Diese Liste liesse sich beliebig verlängern.
Die Bibel selbst gibt Zeugnis von göttlicher Vergebung – von Kain bis zum Schächer am Kreuz. Menschliche Vergebung und damit einhergehende befreiende Heilung ist jedoch nicht erzwingbar – selbst beim besten Willen eines Opfers nicht. Sie ist Gnade.
Ein liturgischer Raum für Vergebung
Die Rückbesinnung der Kirche auf ihren Auftrag, Heilsort zu sein, tut Not – vor allem, wenn die Kirche selbst zum Unheilsort geworden ist. Um (wieder) Heilsort zu werden, ist der offensichtlich fehlende Raum zur Vergebung im Gesamtvollzug als tragende Gemeinschaft zu öffnen[2].
Ich plädiere (…) für die Schaffung einer Vergebungsliturgie.
Dieser naheliegende Raum liegt im Herzen der Kirche, in ihren Grundvollzügen: in der Leiturgia. Ich plädiere in diesem Sinne für die Schaffung einer Vergebungsliturgie[3] und deren Aufnahme in die Praxis der Kirche, wobei die Ausgestaltung den Mitfeiernden bewusst keine Vertrautheit mit Ritualen abverlangen soll – einerseits, um nicht alte Wunden wieder aufleben zu lassen, andererseits, um die Liturgie allen zugänglich zu machen.
Gemeinschaftlich gefeierte und getragene Vergebungsliturgie
Gemeinschaftlich getragen und für jede einzelne mitfeiernde Person individuell ansprechend kann eine Vergebungsliturgie nach Themeninhalten gestaltet werden, beispielsweise nach Jean Monbourquette[4]:
- Sich nicht rächen und die auch sich selbst verletzenden Handlungen beenden,
- eigene Verletzungen und eigene innere Armut anerkennen,
- eigene Verletzungen mit jemandem teilen,
- eigener Verlust klar identifizieren, um über ihn trauern zu können,
- eigene Wut und den Wunsch nach Rache annehmen,
- sich selbst vergeben,
- den Schuldiger verstehen,
- für die Verletzung den Sinn im Leben finden,
- aufhören, um jeden Preis vergeben zu wollen und
- sich der Gnade der Vergebung öffnen.
Gemeinschaftlich gefeierte Liturgie kann nicht heilen, aber sie kann den notwendigen neuen, fruchtbaren und heilswirksamen Boden schaffen.
Eine Vergebungsliturgie an Ostermittwoch
Aber, wo ist ein Ort für eine solche Vergebungsliturgie? Was hat Vergebungsliturgie mit dem Ostermittwoch zu tun, wie einleitend vermerkt?
Die Kirche kennt die Dreitage vor Ostern – das Leidenstriduum von Gründonnerstag bis zur Osternacht. Papst Urban VII. erklärte als Parallele dazu im Jahr 1642 das Auferstehungstriduum von Ostersonntag bis Osterdienstag, um den Akzent deutlicher auf Ostern zu legen. Heute wird zwar kein Auferstehungstriduum mehr gefeiert, da die Osterzeit als eine einzige 50-tägige Freudenzeit verstanden wird. Entsprechend fiel das arbeitsfreie Auferstehungstriduum bis Osterdienstag weg. Symbolisch knüpfen die nachfolgenden Gedanken dennoch an diese Dreitage an:
In ihren Liturgien an diesem Hochfest zeigt die Kirche den Weg vom tiefsten Dunkel ins Auferstehungslicht von Ostern. Danach folgt jedoch unversehens der Ostermittwoch und damit der Alltag, in welchem sich die Opfer zurechtfinden müssen. Der Ostermittwoch steht damit als Symbol für den Alltag.
Ein heilender Weg der Vergebung
Den Opfern kann in diesem Alltag ein heilender Weg der Vergebung, getragen von der Gemeinschaft, liturgisch eröffnet werden, um so die Kirche wieder zu einem Heilsort werden zu lassen. Dafür hat sich die Kirche auf ihren Auftrag zurückzubesinnen, der mit einem konkreten Schritt auf die Opfer zu und in ihre alltäglichen Lebenssituationen beginnen sollte.
Annette Meyer, Dr. iur., Advokatin, BTh, schreibt derzeit ihre Masterarbeit an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern über die Pflicht zur Schaffung einer mit umfassenden Kompetenzen ausgestatteten Stelle betreffend geistlichen Missbrauchs.
Bild: Annette Meyer
[1] Mit der Revision des Codex Iuris Canonici im Jahre 2021 wurden die Defizite auf Opferseite etwas entschärft.
[2] Neben dem gemeinschaftlichen Vollzug in der Liturgie wären auch andere Formen der kirchlichen Vergebungsarbeit und inneren Heilung, beispielsweise speziell ausgestaltete ignatianische Exerzitien, wie sie in der (französischen) Schweiz von der Fraternité du bon Samaritain als Chemin de conversion et de pardon angeboten werden, zu fördern und neue Modelle zu entwickeln.
[3] Ein Ansatz findet sich in den grossen Fürbitten von Karfreitag.
[4] Vgl. Jean Monbourquette, Vergeben lernen in zwölf Schritten, Ostfildern 2010.
Beitragsbild: Franziska Loretan-Saladin
Leserinbrief zu „Ein Heilsort, wo Kirche selbst zum Unheilsort geworden ist?“
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