Einen denk- und fragwürdigen Jahrestag, nämlich den Beginn der „Flüchtlingskrise“ im September 2015, lässt Hanspeter Schmitt über die wiederholten Forderungen nach einer Wertedebatte in den deutschsprachigen Ländern nachdenken. Eine solche Wertedebatte müsste den komplexen ethischen wie interkulturellen Herausforderungen entsprechen.
Ein Jahr nach dem Beginn der Flüchtlingskrise lohnt es sich, noch einmal hinzusehen: Was hat im September 2015 wirklich begonnen? Was sind Entwicklungen, deren Ursachen weit davor liegen? Tatsächlich begann vor einem Jahr ein immens gesteigerter Zustrom besonders von Menschen aus Syrien nach Österreich und Deutschland. Dies geschah aufgrund einer ad hoc veränderten und humanitär begründeten Aufnahmepraxis. Die indiskutable Alternative war, tausende Flüchtlinge an ungarischen Zäunen, auf Autobahnen und Bahngleisen zugrunde gehen zu lassen.
Beeindruckende zivilgesellschaftliche Bewegung und unkoordinierte Aktivitäten der Politik
Zugleich begann in den betroffenen Staaten, Kommunen und über sie hinaus eine beeindruckende zivilgesellschaftliche Bewegung der Solidarisierung und täglichen Hilfe. Es folgten unkoordinierte Aktivitäten der Politik, die frei flottierende Einwanderung zu stoppen, das Asylrecht dabei nicht auszuhebeln und für eine faire Verteilung der Ankommenden zu sorgen. Hier traten die Grenzen politischer Handlungsfähigkeit offen zu Tage: nationale wie regionale Egoismen blockierten kluge, international wie kommunal tragfähige Lösungen. Immer mehr grassierte und regierte die Angst, den Herausforderungen nicht gewachsen zu sein bzw. selbst zu kurz zu kommen oder gar unterzugehen.
Angst – und eine auf sämtliche Gesellschaftsschichten zugreifende Verunsicherung
Inzwischen hat sich einiges davon gelegt: Der ordnungspolitische Notstand scheint überwunden, zumindest hält die stärkere Sicherung der EU-Außengrenzen sowie das umstrittene Abkommen mit der Türkei die Migration in die EU aktuell in Schranken. Auch die breite Solidarisierung lässt nach, was angesichts der andauernden enormen Belastung der Helfenden zu erwarten war. Geblieben sind jedoch die besagte Angst und eine soziotraumatisch anmutende, auf sämtliche Gesellschaftsschichten zugreifende Verunsicherung. Diese schüren und benutzen rechtspopulistische Akteure, um daraus ihr ganz eigenes Kapital zu schlagen.
Den Flüchtlingen werden Probleme in die Schuhe geschoben, für die sie nicht die Ursache sind.
Zu diesem Zweck werden den Flüchtlingen des letzten Jahres pauschal Probleme in die Schuhe geschoben, für die sie nicht die Ursache sind: Migration aufgrund lebensbedrohlicher Konflikte, herausfordernde Integrationsfragen, Terror, Kriminalität etc. All das sind zentrale Herausforderungen, die manchem zwar erst jetzt (wieder) bewusst werden, aber schon Jahrzehnte bestehen! Auch künftig werden sie die Gestaltung globalisierter Lebensräume beschäftigen. Dabei auf Angst, nationale Abschottung oder billige Schuldzuweisung zu setzen, löst nichts davon und ist ungerecht. Denn deren Gründe liegen stets auch im jeweils eigenen Land. Zudem sind Elend, Migration und Radikalisierung erheblich vom wirtschafts- und machtpolitischen Druck jener Staaten verursacht, die sich jetzt mit den betroffenen Menschen konfrontiert sehen.
Politische Kräfte fordern eine neue Debatte über Werte und Leitbegriffe.
In dieser Lage fordern politische Kräfte in den deutschsprachigen Ländern eine neue Debatte über maßgebliche Werte und Leitbegriffe. Es geht ihnen um eine für alle verbindliche kollektive Orientierung an Grundprinzipien demokratischer Verfassungen – und zwar mit ausdrücklichem Bezug auf die abendländisch tradierte christliche Kultur. Einmal angenommen, diese Initiativen bleiben keine wohlfeilen Sonntagsreden: Um zu einem politisch relevanten Beitrag zu werden, müssen sie sich auch selbst den kritischen Einwänden und einer demokratisch wie sachlich ausgewiesenen Prüfung stellen. Dabei ist die Komplexität und individuelle Auswirkung sozialer Realitäten genauso produktiv aufzugreifen wie die historische Tatsache, Chance und Brisanz interkultureller Lebensräume. So gestaltet bergen Wertedebatten womöglich das Potential, eine rationale wie konkrete Bewältigung der bedrängenden Probleme anzubahnen.
Dreierlei wäre bei einer Wertedebatte zu beachten.
Allerdings gilt es in puncto Werte, mindestens dreierlei zu beachten:
Erstens taugen sie nicht für einseitige Vorhaltungen, sondern setzen auf allen Seiten Dialog und selbstkritisches Denken voraus. Anders gesagt: Wer mit „Würde“, „Wohlfahrt“, „Freiheit“, „Toleranz“ etc. nur eigene Interessen und die seinesgleichen verfolgt, ist vom menschenrechtlichen wie christlichen Kern solcher Werte weit entfernt.
Zweitens gedeihen Werte und entsprechendes Tun nicht auf Basis bloßer Appelle. Ob gutes, bedrohliches oder pädagogisches Zureden: es erzeugt Frustration und Empörung, wenn nicht zugleich jene strukturellen Voraussetzungen im Bereich Bildung, Arbeit, kultureller Austausch und Lebensunterhalt geschaffen werden, die die Entfaltung humaner Werte erst ermöglichen.
Das Dritte kennt jeder und jede aus eigener Erfahrung: Werte zu predigen, ist leicht. Sie selbst zu leben, darauf kommt es an! An diesem Erfordernis der Glaubwürdigkeit wird sich auch in der künftigen Flüchtlingspolitik vieles entscheiden.
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Hanspeter Schmitt ist Professor für Theologische Ethik an der Theologischen Hochschule Chur.
Bild: Dirk Wahn einfachmalraus.net / pixelio.de