Esther Jonas-Märtin ist Rabbinerin. Sie lebt und arbeitet in Leipzig. Dort hat sie im Oktober 2018 das Lehrhaus Beth Etz Chaim gegründet. Julia Enxing hat für feinschwarz.net nachgefragt.
Frau Rabbinerin Jonas-Märtin, Sie haben in Deutschland, Israel und den USA studiert. Seit wann sind Sie als Rabbinerin in Leipzig tätig und: weshalb Leipzig?
Nach meinem Abschluss und der Ordination zur Rabbinerin im Mai 2017 habe ich mich entschlossen, zurück in meine Heimatstadt zu gehen, um hier meine Kenntnisse und Fähigkeiten in die Tat umzusetzen. Vor 20 Jahre musste ich aus Leipzig weggehen, weil es dort nicht das gab, was ich lernen und leben wollte. Mein Weg führte mich via Berlin/Potsdam, Jerusalem und Los Angeles wieder in die Stadt, in der ich aufgewachsen bin und die ersten – zaghaften – Schritte machte in Richtung meiner jüdischen Identität, meiner Jüdischkeit.
Weshalb Leipzig? Zum einen möchte ich zur Vermittlung von Wissen über Judentum, jüdische Menschen und Jüdische Geschichte beitragen. Wenn ich „Wissen“ sage, dann meine ich ein Wissen, das durch das Kennenlernen des/r Anderen zu Empathiefähigkeit beitragen soll. Empathie ist nicht etwas, das uns angeboren ist, sondern Empathie müssen wir wieder und wieder üben und einüben – wie ein Muskel, der schwach wird, wenn man ihn nicht beansprucht, so ist es auch bei der Empathie.
Zum anderen hoffe ich, dass ich vielleicht für andere das sein kann, was es für mich nicht gab: Eine Adresse zum Entdecken der eigenen jüdischen Identität, wie auch immer man sie für sich selbst definieren möchte.
Ich habe oft erlebt, dass Menschen Deutschland verlassen haben, weil sie hier als jüdische Menschen nicht leben konnten, nicht so leben konnten, wie sie ihr Judentum leben wollten. Menschen verlassen Orte, die keinen Anknüpfungspunkt bieten und/oder wo jüdischen Menschen – wenn überhaupt – gerade noch zugestanden wird als historische Objekte existieren zu dürfen. Meine Arbeit richtet sich auch gegen die etablierte Erinnerungskultur, gegen die Objektifizierung jüdischer Menschen, jüdischer Kultur für das Verfolgen der Agenda einer Mehrheitsgesellschaft (z.B. dienen in über 90% von Verfilmungen jüdische Figuren dazu, den moralischen Standpunkt der eigentlichen Protagonist*innen darzustellen; Jüdinnen und Juden werden stereotypisiert und entweder als Opfer oder Täter dargestellt, differenzierte Darstellungen sind selten!).
2018 gründeten Sie das Lehrhaus Beth Etz Chaim. Was bedeutet „Beth Etz Chaim“ und was müssen wir uns unter einem Lehrhaus in Leipzig vorstellen? Was findet dort statt und wer darf kommen?
Die Gründungsversammlung für das Lehrhaus fand im Oktober 2018 statt. „Beth Etz Chaim“ bedeutet „Haus des Baumes des Lebens“. „Haus“ ist im übertragenen Sinn gemeint, es bezieht sich auf das, was wir alle in uns tragen, was unser eigener Lebensbaum oder unsere eigene Lebenskraft ist, egal wo wir unsere Zelte aufschlagen.
Es braucht viel Geduld und viel Motivationsarbeit, um ein solches Projekt zu verwirklichen, weil es für die meisten Menschen ungewohnt und ungewöhnlich ist und weil es einen anders gelagerten Fokus hat – anders sowohl hinsichtlich der Jüdischen Gemeinden als auch der Vereine, die sich sonst jüdischer Geschichte und Kultur widmen. In der Vereinssatzung des Beth Etz Chaim. Lehrhaus-Gemeinschaft-Teilhabe e.V. fehlt jeglicher Hinweis auf die Shoah oder den Holocaust – das ist Absicht!
Der Fokus des Lehrhauses ist: Leben im Hier und Jetzt; die Verortung unseres Selbst inmitten einer Welt, die immer mehr Möglichkeiten bietet, und dabei vergessen lässt, dass wir Sinnhaftigkeit und Verwurzeltsein (wie ein Baum) brauchen, um starke Menschen zu sein und unseren Beitrag zu einer besseren Welt leisten zu können. Willkommen sind alle, die zum Dialog bereit sind und die die Bereitschaft mitbringen, im respektvollen Umgang miteinander zu wachsen.
Was ist das Besondere an Beth Etz Chaim? Was passiert dort, was sonst nirgends (in Sachsen) passiert?
Der Titel „Rabbinerin“ bedeutet „Lehrerin“ – ich nehme das sehr wörtlich und bin Lehrerin mit Leib und Seele. Gleichzeitig bin ich mir dessen bewusst, dass das Lernen nie aufhört. Ich möchte Menschen dort „abholen“ wo sie sind und bei den Fragen unterstützen, die gerade in ihrem Leben angesagt sind. Dabei ist es unwichtig, ob Sie Atheist*in, Christ*in, Muslim/a, Anthroposoph*in, Agnostiker*in etc. sind (und bleiben) – mir geht es um das Miteinander- und Aneinander-Lernen und -Lehren. Neugierig sein und die Bereitschaft mitzubringen, sich auf Neues und Unbekanntes einzulassen, sind Voraussetzung für uns alle, um uns auf unserem Weg der Vervollkommnung unserer Persönlichkeiten weiter entwickeln zu können. Das Lehrhaus bietet einen geschützten Raum, ethische, moralische oder spirituelle Fragen zu stellen und zu diskutieren. „Richtig“ und „falsch“ sind dabei Kategorien, die von den Teilnehmenden selbst entschieden werden. Basis für alle Gespräche sind Texte aus den jüdischen Traditionen, von Bibel bis jüdischer Philosophie, Religionsauslegung heute und natürlich mein Fundus an Wissen und meine Kreativität, Quellen thematisch in Kontext zu setzen.
Das Besondere ist, dass hier Frauen und Männer egalitär sind. So wie das Lernen allen gilt, die kommen, so gilt auch das Feiern allen, die kommen. Lehrende sind auch Lernende und Lernende sind auch Lehrende.
Wie erleben Sie Ihren Alltag als Rabbinerin in einer der säkularsten Städte Deutschlands?
„Es ist nicht an dir, das Werk zu vollenden, aber es ist auch nicht an dir, dich ihm zu entziehen“. (Pirkei Avot 2:21)
Momentan ist es so, dass ich nicht erkennbar bin bzw. nicht erkannt werde als Rabbinerin, daher ist ein Alltag unproblematisch und dem der Mehrheitsbevölkerung recht ähnlich. Mein Erleben des Alltags unterscheidet sich jedoch möglicherweise fundamental von anderen, gerade hinsichtlich der Wahrnehmung von Philo- und Antisemitismen, Antijudaismen oder antizionistischen Ressentiments. Was fehlt, ist nicht mehr Bildung, aber eine Bildung, die über Ursachen und Wirkungen reflektiert, eine Bildung, die nicht in alte Muster zurückfällt, eine Bildung, die Diversität und diverse Meinungen in gegenseitigem Respekt unterstützt und zulässt, eine Bildung, die die Empathiefähigkeit stärkt. Es fehlt das Verständnis eines Bildungsideals, das – wie es in der Idee der Bildung des 19 Jahrhunderts angelegt war – an der Vervollkommung der eigenen Persönlichkeit und des Menschseins arbeitet.
Dialog mit jüdischen Menschen ist nicht nur schwierig, weil es so wenige gibt, sondern vor allem, weil es beinah unmöglich ist, Dialog auf Augenhöhe zu führen (200.000 jüdische Menschen und ca. 83 Mio. Menschen in Deutschland ist ein zu ungleiches Verhältnis). Dazu kommt, dass jüdische Menschen hierzulande allzu oft die Erfahrung machen, allein in einer bestimmten Funktion daseinsberechtigt zu sein: Stichworte dazu sind „Gedächtnistheater“ und „Museumsobjekte“. Jüdische Menschen sind mit Projektionen belegt, mit Erwartungshaltungen anderer, die wiederum zu Enttäuschungen führen und auch in Hass umschlagen können, wenn diese Erwartungen jüdischerseits nicht erfüllt werden (können). Das Problem ist auch hier der Mangel an Reflexion seitens der Mehrheitsbevölkerung. Antisemitismus (wie Antijudaismus/oder Antizionismus) ist nicht das Problem der jüdischen Bevölkerung, sondern es ist eines der Gesamtgesellschaft: Die gesamte zivile Gesellschaft ist gefordert, wenn es darum geht, freiheitlich-demokratisch Grundwerte zu verteidigen und unser aller Freiheit zu schützen.
Gerade im Osten Deutschlands scheint mir Nachholbedarf hinsichtlich des Umgehens mit Menschen zu bestehen, die als „fremd“ oder „anders“ wahrgenommen werden. Ungewohntsein, mangelndes Wissen über andere Religionen oder Weltanschauungen, die aus der in der DDR typischen generellen Ablehnung alles Religiösen resultiert sowie ein Ungeübtsein im Umgang mit demokratischen Möglichkeiten, dazu mangelhafte politische Bildung und fehlendes Training von Diversität haben Spuren hinterlassen, die nicht erst im letzten Wahlergebnis deutlich zutage getreten sind.
Des Weiteren wäre ein offenerer Umgang mit unseren Vorurteilen notwendig, allein deshalb, weil Vorurteile evolutionär in uns allen angelegt sind und sich doch nur die wenigsten mit ihren Vorurteilen auseinandersetzen.
Was ist Ihre Vision für das Lehrhaus und für die Jüdinnen und Juden in Sachsen?
Es beginnt bei jedem selbst: Das Leben als jüdischer Mensch, kal vaKhomer (umso mehr) als Rabbinerin, trägt bereits eine Vision in sich, die Vision einer besseren, gerechteren und friedlicheren Welt. Eine Vision, die, mit der Initiative des Lehrhauses, Türen öffnen kann zu gelebter und toleranter Diversität, zu mehr – jüdischer – Lebendigkeit in Sachsen.
Neben Ihrer Tätigkeit als Rabbinerin forschen Sie wissenschaftlich. Woran genau? Welcher Frage gehen Sie nach und was bewegt Sie als Wissenschaftlerin?
Meine Tätigkeit als Rabbinerin und meine wissenschaftlichen Interessen greifen vielfach ineinander und oft bedingen sie sich gegenseitig – es lässt sich nicht einfach trennen, wann ich mehr Rabbinerin bin und wann mehr Wissenschaftlerin. Neben vielerlei Vorträgen arbeite ich derzeit an meiner Dissertation: Beyond Cain and Abel – Individuality and the Challenges of Worship. Ganz im Mittelpunkt steht dabei die Frage danach, wie wir mit zunehmender Individualisierung umgehen und wie wir trotz aller Unterschiedlichkeit Wege finden, gemeinsam Gottesdienst zu feiern, Gemeinschaften zu bilden und dabei jeden Menschen einbeziehen können.
Esther Jonas-Märtin, M.A. Jewish Studies, Religionswissenschaften, Moderne Geschichte, Master of Arts in Rabbinic Studies, Ordination zur Rabbinerin. Dozentin, Referentin, Leiterin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig und Promovendin an der Philosophischen Fakultät der TU Dresden.
Bild: Esther Jonas-Märtin