Gott wird nicht nur Teil der Welt, er wird Körper: mit all seinen Bedürfnissen, gefährdet und angewiesen auf menschliche Fürsorge: der Bruch mit dem Bild eines souveränen Gottes. Von Saskia Wendel.
„Gott ist im Fleische, wer kann dies Geheimnis verstehen“ heißt es in einem Weihnachtslied Gerhard Tersteegens. Gibt man heute in eine bekannte Internet-Suchmaschine die Wortkombination „Gott ist/wird Fleisch“ ein, erhält man häufig Links zu Beiträgen, die sich damit beschäftigen, ob Jesus Vegetarier (warum nicht gleich Veganer?) gewesen sei, und ob man als Christ Fleisch essen dürfe. Dagegen ist die eher abstrakte Überlieferung vom „Wort, das Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat“, offensichtlich vergleichsweise uninteressant oder auch ungebräuchlich geworden. Und auch im christlichen Kontext begegnet ungleich häufiger der Begriff „Menschwerdung“ als derjenige der „Fleischwerdung“ Gottes, der teilweise als merkwürdig, auch etwas überspannt empfunden wird und auch zu ironischen Bemerkungen Anlass gibt.
Die „Menschwerdung“ Gottes als „Fleischwerdung“.
Wenn man nun aber nochmals im Blick auf weihnachtliches Kirchenliedgut auf die Suche nach dem Motiv der „Fleischwerdung“ und damit nach der eigentlichen Bedeutung des Wortes incarnatio geht, findet man dort auch verkürzte Auffassungen über „Fleisch und Blut“ Jesu. Man stößt zum Beispiel in dem auf Martin Luther zurückgehenden Lied „Gelobet seist Du, Jesu Christ“ auf folgende Zeile: „in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ew’ge Gut…“ Zum einen wundert man sich doch ein wenig darüber, dass von Gott als „Gut“ gesprochen wird, so als handle es sich um ein kostbares Ding bzw. erstrebenswertes Gut. Gott wird auf diese Art und Weise verdinglicht, zu einem bloßen „Etwas“ gemacht. Und zum anderen feiert im Verb „verkleidet“ immer noch der frühchristliche Doketismus fröhliche Urständ’ – mitten in Kirchengesangbüchern des 21. Jahrhunderts. Gott verkörpert sich nicht ganz und gar, gleichsam „mit Haut und Haar“, sondern „nimmt“ den Körper nur „an“.
Doch genau der Aspekt des Ineinsfallens der Differenz von Geist und Körper und derjenige, dass Gott darin sich vereinzelt und sich der Endlichkeit aussetzt, machen ja die Radikalität des Gedankens göttlicher Inkarnation aus. Diese Radikalität wird im überlieferten Kirchenlied eingehegt: Keine Sorge, Ihr frommen Bürgersleute, Gott bleibt ewiger, vollkommener Geist, der Körper wird im Inkarnationsgeschehen nicht zur „großen Vernunft“ (Nietzsche), sondern bleibt wie gewohnt die klitzekleine Vernunft und entsprechend in jeder Hinsicht ungefährlich! Auch deshalb wird im Übrigen wohl lieber von „Menschwerdung“ statt von „Fleischwerdung“ gesprochen, um sich allzu konkrete Vorstellungen von Fleisch und Blut buchstäblich vom Leibe halten zu können.
Eine Ikonographie der Nacktheit, der Verletzlichkeit, der Reinheit und Unschuld, bis hin zum Topos des verklärten Leibes.
Die Konkretion der Verkörperung Jesu sucht sich dann allerdings andere Wege, so etwa in der Bildenden Kunst oder im Film. Hier gibt es eine eigene Ikonographie des Christuskörpers, insbesondere eine besondere Ikonographie der Nacktheit (ein nur mit Lendenschurz bekleideter Gekreuzigter, ein in Windeln gewickeltes Kind in der Krippe), der Verletzlichkeit (der verwundete, geschundene Körper des Gefolterten, der Blut schwitzende Jesus in Gethsemane), der Reinheit und Unschuld (das kleine, unschuldige „Jesuskind“), bis hin zum Topos des verklärten Leibes des Auferstandenen. Jene ikonographischen Traditionen prägen unsere Vorstellungen von Jesus bis heute, sie konstruieren unser Bild vom Körper Jesu bzw. sind selbst schon Dokumentationen solcher Konstruktionen.
Und Brechungen dieser Ikonographie:
Gott – verkörpert in einem unvollkommenen Körper?
Der Körper Jesu liegt nicht einfach vor, es existiert kein Bild, in den Evangelien gibt es keinerlei Beschreibung seines Aussehens. Entgegen unseren tradierten Vorstellungen könnte es sein, dass Jesus alles andere als ein gutaussehender, langhaariger Bartträger gewesen ist. Ggf. war er sogar körperlich beeinträchtigt gewesen, doch das gilt als völlig undenkbar: Gott – verkörpert in einem gleichsam unvollkommenen Körper? Es kommen noch andere Konstruktionen hinzu, etwa die ethnische Vorstellung, dass Jesus „weiß“ gewesen ist, und natürlich ganz entscheidend Konstruktionen seiner Geschlechtlichkeit und seiner sexuellen Identität: eindeutig männlich, heterosexuell und zölibatär (da ehelos, was offensichtlich als gleichbedeutend mit „keusch“, also „sexuell inaktiv“ galt), ggf. aber sogar eher asexuell. Jesu Fleisch und Blut, das steht dann eher im Konnex zum „Haupt voll Blut und Wunden“, also zu Leid und Schmerz, weniger aber zu Lust und Genuss.
Gebrochen wird die Ausklammerung von Lust und Genuss. Gebrochen wird auch das Bild der Asexualität.
Diese Konstruktionen werden jedoch auch in mehrfacher Hinsicht aufgebrochen. Gebrochen wird erstens die Ausklammerung von Lust und Genuss etwa durch die Überlieferung der häufigen Praxis des Mahl Haltens und des damit verknüpften „Eros“ von Essen und Trinken, und durch die Überlieferung des Vorwurfs der Gegner Jesu, dass er ein „Fresser und Weinsäufer“ sei. Hier ist die Ikonographie aber gleichsam zurückhaltend und nur wenig exzessiv.
Gebrochen wird zweitens auch das Bild der Asexualität bzw. der generellen Ausklammerung des Erotischen, etwa in der Darstellung des an der Brust Jesu ruhenden Jüngers, den er liebte, oder in den Narrativen der Salbung Jesu durch eine Frau oder der Begegnung des Auferstandenen mit Maria von Magdala. Aber auch dies geschieht allenfalls andeutend, niemals explizit – geradezu unvorstellbar, dass der „fleischgewordene Gott“ in seiner Verkörperung eine sexuelle Beziehung eingegangen sein könnte.
Begründet wird dies meist damit, dass Jesus sich nicht an eine einzelne Person hätte binden können, zum einen aufgrund seiner Aufgabe, zum anderen aufgrund dessen, dass er ja die Liebe Gottes zu allen Menschen verkörpere, und die Liebe zu einer einzelnen Person stünde in Widerspruch dazu. Hier regiert die (verschwiegene) normative Voraussetzung, dass die Liebe zu einer einzelnen Person erstens grundsätzlich hinderlich für das Vollbringen seines Zeugnisses sei und zweitens so exklusiv angelegt sei, dass sie die Verkörperung einer universalen Heilszusage verunmöglicht.
Wenn Jesus ein sexuell Begehrender gewesen wäre, hätte das der Fleischwerdung Gottes Abbruch getan?
Zudem ist zu vermuten, dass hier insgeheim eine körperfeindliche Tradition am Werke ist: wenn schon Körper, dann eben nicht zu viel, und schon gar nicht ein Zuviel an Begehren und Sexualität, diesen oft als „sündhaft“ apostrophierten „Neigungen“, mit denen der „sündlose“ Jesus doch wohl gar nicht „behaftet“ sein konnte!
Was aber, wenn auch Jesus ein sexuell Begehrender war, in einer sexuellen Beziehung lebend? Hätte das der Fleischwerdung Gottes tatsächlich in irgendeiner Art und Weise Abbruch getan? Oder hätte es sie nicht sogar noch eher vertieft? Stehen Eros und Agape tatsächlich in solch einem konträren Verhältnis zueinander, dass derjenige, der die unbedingte Liebe und Zuwendung Gottes an alle Kreatur verkörpert, dies nicht zugleich auch auf erotische Art und Weise verkörpern darf?
Wie sehr ist unser Blick auf Jesus immer noch durch ethische Ideale der Stoa wie Ataraxie, Autarkie und Apathie geprägt, Ideale, die auch in biblische Texte eingeflossen sind? Wie sehr wurden und werden unsere Vorstellungen von Jesus vom Ideal des stoischen Wanderphilosophen bestimmt, der die oben genannten Ideale zu verkörpern hat?
Die Überlieferung von einem Gott, der als Säugling in seinen Windeln liegt.
Aufgebrochen wird nun aber auch drittens die quasi „keimfreie“ Darstellung der Körperlichkeit Jesu (jenseits der Bilder des verwundeten, mit Blut übersäten Gekreuzigten), und dies dadurch, dass etwa im Lukasevangelium gleich zweimal erwähnt wird, dass das Kind in Windeln gewickelt ist (Lk 2, 8.12). Die Windel ist ja kein besonderes Kleidungsstück, sondern „ein körpernah eingesetzter Saugkörper zur Aufnahme von Urin und Stuhl (Kot). Sie dient dem hygienischen Auffangen von Exkrementen und verhindert die Beschmutzung der Kleidung. Sie wird von Menschen getragen, die ihre Ausscheidungen nicht kontrollieren können.“ (Wikipedia)
Spätestens hier wird die Vorstellung, dass der Körper Jesu gleichsam nur die Einkleidung des göttlichen Logos gewesen ist bzw. dass die Menschwerdung Gottes zwar Verkörperung bedeutet, aber bitte nicht zu viel an körperlicher Konkretheit und vor allem fehlender Kontrolle, und wenn überhaupt, dann nur im Kontext der Passion und quasi immer im Duktus frei gewählter Erniedrigung und Entäußerung, geradezu grotesk.
Der Bruch mit dem Bild eines souveränen Gottes, der alles im Griff hat.
In unseren Köpfen existiert nun aber meist das Bild des gemarterten Gekreuzigten oder des stigmatisierten Auferstandenen – oder eben das kleine Wickelkind, friedlich im Stroh schlummernd zwischen Maria und Joseph als Teil der „Heiligen (Klein-)Familie“, eingerahmt von Ochs und Esel. Die Vorstellung eines bürgerlichen Familienidylls, das die harte Realität des Elends und der Demütigung verdrängt, die in der Lukanischen Erzählung doch eigentlich primär gezeichnet wird, und auch die Überlieferung von einem Gott, der als Säugling in seinen Windeln liegt. Allerdings lässt sich das auch insofern leichter verdrängen, als das Windeln von Säuglingen (im Gegensatz zu demjenigen alter Menschen) als normal und alles andere als würdelos oder „fies“ gilt, vielmehr als Teil eines verniedlichenden Kindchenschemas selbstverständlich in Kauf genommen wird, und das lässt sich dann auch gleichsam bruchlos mit dem „holden Knaben in lockigem Haar“ zusammenbringen.
Gott wird nun aber christlichem Verständnis gemäß nicht nur einfach Teil und Moment der Welt, sondern er wird Körper, mit allem, was Körperlichkeit bedeutet und ausmacht, und dieses Bekenntnis ist in mehrfacher Hinsicht radikal. Denn es bedeutet den Bruch mit dem Bild eines souveränen Gottes, der alles im Griff und unter Kontrolle hat. Verkörpert zu existieren bedeutet ja gerade, nicht alles kontrollieren zu können, bedeutet auch, Widerfahrnissen ausgesetzt zu sein, die sich dem eigenen Zugriff entziehen.
Gott wird Mensch, damit wir Gott werden. Damit wir Menschen unter Menschen werden.
Zudem kommt gerade im Bild des in Windeln gewickelten Säuglings zum Ausdruck, dass Gott keineswegs der Zeit enthoben ist: Gott wird in Jesus nicht einfach nur abstrakt Mensch, sondern er wird buchstäblich, konkret, entwickelt sich, hat eine Biographie wie jeder andere Mensch auch.
Darüber hinaus ist der in Windeln gewickelte Jesus zunächst einmal wie wir zutiefst abhängig, angewiesen auf Fürsorge, Zuwendung und Liebe, andernfalls ginge er zugrunde. Das menschliche Zeichen der Liebe und Zuwendung Gottes bedarf vorgängig und notwendigerweise selbst einer konkreten menschlichen Zuwendung, um überhaupt zu diesem Zeichen werden zu können. Bleibt diese konkrete menschliche Zuwendung aus, ist es auch mit der göttlichen Zuwendung dahin!
Letztlich bedeutet Verkörperung Gottes, dass sich Gott mit uns solidarisiert, sich in allem uns gleichmacht, und genau darin wurzelt die Möglichkeit des „wunderbaren Tauschs“: Gott wird Mensch, damit wir Gott werden. Und, so müsste man ergänzen: damit wir Menschen unter Menschen werden. Gott wird Fleisch (und Blut) – eine revolutionäre Geschichte einer Verkörperung, die allerdings an jedem Weihnachtsfest immer wieder neu den Versuchen entrissen werden muss, sie gesellschaftlich bekömmlich und politisch unschädlich zu machen, gerade in Zeiten wie diesen.
Saskia Wendel ist Lehrstuhlinhaberin für Systematische Theologie an der Universität zu Köln.
(Bild: melits, pixelio.de)