Zum ersten Mal seit 70 Jahren findet in London eine königliche Krönung statt. Martin Ott erklärt Hintergründe und Neuerungen des Krönungsrituals und ordnet es kirchenpolitisch ein.
Am 6. Mai 2023 wird Charles III. in einer prunkvollen Zeremonie in der Westminster Abbey in London gekrönt. Die Feier ist im Kern ein anglikanischer Gottesdienst, dem der Erzbischof von Canterbury Justin Welby vorsteht. Symbole und Riten, Gesänge und Gebete bringen eine einzigartige Fusion des christlichen Glaubens mit der nicht kodifizierten Verfassung des Vereinigten Königreichs zum Ausdruck und stellen zugleich einen Zusammenhang mit biblischen Geschichten her, in denen Patriarchen und Könige in ihr Leitungsamt „inthronisiert“ wurden. In den 39 Glaubensgrundsätzen der Anglikanischen Kirche (Thirty-Nine Articles) aus dem Jahre 1562 heißt es vom englischen Monarchen: „Being by God’s Ordinance, according to our just Title, Defender of the Faith and Supreme Governor of the Church.”
Die Zeremonie trägt (fast) alle Kennzeichen eines Sakrament.
Das Vereinigte Königreich ist die einzige europäische Monarchie, die eine solche Zeremonie beibehalten hat. Sie besteht aus dem Festzug vom Buckingham Palace zur Abtei, dem feierlichen Einzug, der Anerkennungszeremonie, den Krönungseiden, der Salbung, der Huldigung und schließlich dem Festzug zurück zum Palast. Die englische Sprache reserviert für die königliche Krönung den Begriff Sacring. Vom Gesichtspunkt einer katholischen Dogmatik trägt diese Zeremonie (fast) alle Kennzeichen eines Sakraments und folgt der klassischen Abfolge eines rite de passage mit den Phasen séparation, transformation und réintégration. Symbolisiert ist das mit dem Auszug aus dem Buckingham Palast, dem Einzug in den „Initiationsraum“ des Gotteshauses und der feierlichen Prozession zurück in den Palast nach der Feier. Der eigentliche Moment der transformation ist die Salbung des Königs, bei der der Statuswandel des Initianten im Ritual vergegenwärtigt wird.
Das Salböl basiert auf einer Formel, die auch bei der Krönung von Elisabeth II. im Jahr 1953 verwendet worden war. Es wurde am 6. März 2023 von Patriarch Theophilos III. von Jerusalem in der Grabeskirche unter der Aufsicht von Hosam Naoum, dem anglikanischen Erzbischof von Jerusalem, geweiht. Die Basis bildet Olivenöl, das mit ätherischen Ölen aus Sesam, Rosen, Jasmin, Zimt, Neroli (den Blüten der Bitterorange) und aus Harz des Siam-Benzoe-Baums parfümiert wurde. Es wird aus Oliven gewonnen, die auf dem Ölberg geerntet und in der Nähe von Bethlehem gepresst wurden. Auf diese Weise wird der enge persönliche Bezug Charles III zum Heiligen Land (seine Großmutter väterlicherseits ist dort beerdigt), zu den biblischen Königssalbungen, zur Person Jesu und der christlichen Tradition der sakramentalen Salbung hergestellt. Im Jahre 1953 wurde noch Zibetöl (gewonnen aus den Drüsen dieser Katze) und Amber (aus den Eingeweiden von Pottwalen) verwendet. Auf beide Ingredienzen wurde in diesem Jahr verzichtet. Die geänderte Rezeptur spiegele „die Besorgnis von König Charles und seiner Gemahlin Camilla über Tierquälerei und die Notwendigkeit des Schutzes der Tierwelt wider“.
Königskrone ist Ausdruck des Character indelebilis
Erzbischof Justin Welby wird Charles III. an Kopf, Brust und Händen salben. Der Monarch wird dafür – abgeschirmt von den Gästen und den Kameras – seine Königsrobe mit einem einfachen weißen Gewand tauschen. In einer Anspielung an den katholischen Taufritus wird Charles gleichsam zu einem unschuldigen Kind, um als König wiedergeboren zu werden. „In the midst of this glorious spectacle is a moment of stillness and simplicity“ – so charakterisiert Erzbischof Justin Welby dieses den Augen der Weltöffentlichkeit entzogene Ritual. Der König nimmt dann auf dem St. Edward‘s Chair Platz, der eigens in der Mitte des Kirchenschiffes positioniert wurde. Auch das ist ein Ausdruck der nun veränderten, erhöhten und zentralen Position des Monarchen.
Andere Elemente der Liturgie, wie die Verwendung der Bibel, die Auswahl der Lesungen, die Gesänge, die Einbettung des Rituals in eine Kommunionfeier unterstreichen den quasi-sakramentalen Charakter der Krönungsfeier. Bei den Insignien nimmt die Krone – neben Zepter und Reichsapfel – eine besondere Rolle ein. Laut vorgesehenem Protokoll soll Erzbischof Welby dem König die Krone um die Mittagsstunde aufsetzen, während im ganzen Vereinigten Königreich Trompeten ertönen und Salutschüsse abgefeuert werden. Die Königskrone ist Ausdruck des Character indelebilis, des untilgbaren Prägemals, das den Monarchen nach seiner Krönung nun auszeichnet. Sie manifestiert diesen mit dem Sacring gewonnenen hohen Status von Schönheit und Herrlichkeit. Nach der Huldigung wird auch Königin Camilla in einer einfacheren Zeremonie gesalbt, gekrönt und inthronisiert werden, ohne dass sie einen Eid ablegen muss.
Nicht die Person prägt das Amt, sondern das Amt die Person.
Nach dem Tod von Königin Elisabeth II. am 8. September 2022 trat Charles unmittelbar die Nachfolge an. Der neue Monarch muss laut Gesetz bei oder kurz nach seiner Thronbesteigung drei religiöse Eide ablegen. Einen ersten Eid schwor Charles III. bereits am 10. September 2022, nachdem er vom sogenannten Accession Council zum König ausgerufen worden war. Seine Rolle als Verteidiger des Glaubens musste er bereits an diesem Tag ausfüllen – aber anders als er sich das erhofft hatte. Im Jahr 1994 hatte der damalige Prince of Wales noch erklärt, er wolle sich nicht nur als Verteidiger der Rechtgläubigkeit der anglikanischen Kirche (Defender of the Faith), sondern als Verteidiger aller Religionen im Königreich verstehen (Defender of Faith). Am 10. September 2022 musste er nun aber schwören: „Ich Charles, von Gottes Gnaden König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland und meiner anderen Reiche und Territorien, Verteidiger des Glaubens (Defender of the Faith) verspreche und schwöre treu, dass ich die Regelung der wahren protestantischen Religion, wie sie durch die in Schottland erlassenen Gesetze festgelegt ist, unverbrüchlich aufrechterhalten und bewahren werde“. Die Tradition hatte den neuen König eingeholt und es sollte sich schnell bewahrheiten, dass nicht die Person das Amt, sondern das Amt die Person prägt.
In einem zweiten Eid während der Krönung wird er schwören, die Rechte und Privilegien der Kirche von England zu wahren, in einem dritten, ein treuer Protestant zu sein. Alle drei Eide sind Überbleibsel aus verschiedenen Abschnitten der Geschichte des Königreichs. Rechtlich gesehen ist aber keiner der Eide heute noch notwendig. Mit dem Church of Scotland Act von 1921 wurde der Status der Church of Scotland als nationaler Kirche vom Parlament rechtlich gesichert. Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Menschenrechtsgesetz von 1998 enthalten alle Garantien für die Religionsfreiheit – Garantien, die heute nicht mehr ein Monarch gibt.
Diese Brüche zwischen Ritual und Wirklichkeit, zwischen traditionellem Anspruch und politischer Bedeutung in der Gegenwart sind Merkmale des britischen Königshauses geworden. Der Souverän hat keine politische oder exekutive Funktion mehr. Seine Rolle als Staatsoberhaupt ist auf repräsentative Aufgaben beschränkt. Eine Befragung unter 3070 Briten durch YouGov im April 2023 ergab, dass zwei Drittel der Befragten die Krönung Charles III. „nicht besonders“ (35%) oder „überhaupt nicht“ (29%) interessiere. Diese Abneigung ist mit 75% besonders hoch bei Jüngeren im Alter von 18 bis 24 Jahren. Aber selbst unter den deutlich königstreueren Menschen über 65 Jahren sagten 53%, dass sie sich wenig für das Ereignis interessieren.
Die Krönung als Ausdruck britischer Identität
Was das Verständnis und das Mittragen der Liturgie und seiner Symbole am 6. Mai angeht, dürfte es noch dramatischer aussehen. In der Church of England sind nur 2% regelmäßige Kirchgänger. In einem Viertel seiner etwa 16.000 Kirchen besuchen an einem Sonntag weniger als 20 Gottesdienstbesucher den Gottesdienst – in ländlichen Gebieten sind es sogar weniger als 10. Weltweit ist die anglikanische Gemeinschaft wegen unüberbrückbarer theologischer Unterschiede vor allem in Bezug auf Homosexualität und die Ordination von Frauen am Rande der Kirchenspaltung. Der neue König ist zwar formal Supreme Governor of the Church, hat aber de facto keinen theologischen oder kirchenpolitischen Einfluss. Wer im säkularisierten Großbritannien sieht in der Thronbesteigung Charles III. noch den Willen Gottes am Werk? Hat die religiöse Dimension der Krönungszeremonie der anglikanischen „High Church“ noch eine „Erdung“ in der Volksreligiosität? Auch für die verbleibenden Royalisten dürfte die Krönung – in der überwiegenden Mehrzahl – wohl eher ein Ausdruck ihrer britischen Identität und Kultur als eine religiöse Erfahrung sein.
Die Königskrönung als „Überlebsel“
Mit dem Begriff Survival bezeichnete der englische Ethnologe Sir Edward Burnett Tylor die Beharrungstendenz jeder Kultur, dass Sitten weitertradiert werden, obwohl sie ihren ursprünglichen Sinn verloren haben. Ist die Krönung Charles III. mit all ihrer religiösen Symbolik solch ein „Überlebsel“ – so die etwas ungeschliffene deutsche Übersetzung für Survival? Ich fürchte „Ja“ und ich glaube, dass ohne eine tiefgreifende Reform des britischen Königshauses – wie das in anderen Dynastien in Europa bereits erfolgt ist – das englische Königshaus sich immer weiter von der sozialen und politischen Realität der Menschen im Vereinigten Königreich und – nicht zu vergessen – im ganzen Dominion[1] entfernen würde. Erste Hinweise eines Wandels finden sich bereits in den veröffentlichten Texten zur Krönung 2023. Verweise auf ein Gottesgnadentum sind ebenso verschwunden wie reformatorische oder antikatholische Credos. Im Jahre 1953 weigerten sich die katholischen Bischöfe noch, an der Krönung teilzunehmen; für die Krönung im Jahre 2023 schenkte Papst Franziskus dem König ein Kreuz mit einem angeblich „echten“ Partikel vom Kreuz Jesu, das an der Spitze der Krönungsprozession getragen werden wird. Erzbischof Welby zeichnet den König von seiner menschlichen Seite: „Er ist einer aus dem Volk, der unsere menschliche Gebrechlichkeit und Verwundbarkeit teilt und deswegen für seinen Dienst an Land und Leuten die Hilfe Gottes benötigt“.
Die Rolle des Königs in einer modernen Demokratie
Um die Rolle des Königs in einer modernen Demokratie zu retten, haben im Vereinigten Königsreich auch Verfassungsrechtler Vorschläge unterbreitet, wie durch eine neue Gesetzgebung z.B. die königlichen Schwüre an den veränderten Kontext angepasst werden könnten. In einer radikalen Neuformulierung könnte der schottische Eid zu einem Eid auf die Union werden; die Beitrittserklärung, die traditionell vor dem Parlament abgegeben wird, könnte zu einem Eid auf die Verfassung und die britischen Gesetze werden; und der Krönungseid könnte zu einem Eid auf das Volk werden. Gott und Religion kommen in diesen Vorschlägen nicht mehr vor. Die Fundamente der Thirty-Nine Articles der anglikanischen Kirche aus dem Jahr 1562 werden sich unter Charles III. wohl endgültig als überholt erweisen – und damit auch seine Rolle als Oberhaupt der Anglikanischen Kirche, die seit 500 Jahren mit der Erblast Henry VIII. zu kämpfen hat. Wie sich in der Folge auch der religiöse Charakter der Krönungszeremonie ändern wird, bleibt abzuwarten. Die Akzeptanz und Zukunft der Monarchie wird zu einem hohen Maße von der Laune einer durch die Presse manipulierten Öffentlichkeit abhängen und ob es dem König und der Regierung gelingt, die notwendigen Verfassungsänderungen rechtzeitig vor dem Amtsantritt seines Sohnes William auf den Weg zu bringen.
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[1] Zum Dominion gehören alle Staaten des Commenwealth of Nations, die den britischen Monarchen als ihr Staatsoberhaupt anerkennen.
Dr. Martin Ott ist freier Gutachter und Coach. Er lebt in Potterhanworth/Lincolnshire.
Beitragsbild: Chris Jackson; https://www.royal.uk/downloadable-image-for-the-coronation