„Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und aufzufahren: das Fest ist die Aufhebung der Zeit“. Gregor Maria Hoff über diesen Gedanken von Thomas Mann zu Sigmund Freuds achtzigstem Geburtstag.
Weil Freud beim eigentlichen Festvortrag schwer erkrankt fehlte, trug ihm Thomas Mann seine Rede über „Freud und die Zukunft“ persönlich im kleinen Kreis vor. Tief beeindruckt von Freuds Werk, legte der Schriftsteller jene Verbindung von Psychoanalyse und Mythos dar, die seine im Entstehen begriffene Großerzählung von „Joseph und seinen Brüdern“ prägte. Umfunktionierung des Mythos ins Humane sollte Thomas Mann dieses Projekt später nennen. Es rückte den religiösen Komplex endgültig in das Interesse des Autors, und deshalb beschäftigte er auch Sigmund Freud mit seinen Gedanken zur Weihnacht.
Umfunktionierung des Mythos ins Humane
Thomas Mann war zeitlebens ein großer Liebhaber dieses Festes. In der Familie wurde jedes Weihnachten mit feierlichem Ernst und erheblichem Aufwand an Kulisse und Geschenken begangen: der Zauber einer verlorenen, für den Künstler aber stets gegenwärtigen Kindheit. An Freud gerichtet, betonte Mann ausdrücklich die „infantile Natur“ des Dichters, den spielerisch unbefangenen Wirklichkeitskontakt, der im Weihnachtsfest auflebt. In diesem mythischen Menschheitsfest konzentriert sich ein Vorgang, den der Erzähler in seinem Josephsroman vielfältig auslegt: „Menschliche und göttliche Bedürftigkeit verschränken sich.“ Dieser Leitsatz geht weiter, er führt auf die Gottesentdeckung Abrahams zurück, der Gott hervordachte. Gleichzeitig setzt sich dieser Gott in Abrahams Gedanken durch: „Dieser Abram ist gewissermaßen Gottes Vater. Er hat ihn erschaut und hervorgedacht; die mächtigen Eigenschaften, die er ihm zuschreibt, sind wohl Gottes ursprüngliches Eigentum, Abram ist nicht ihr Erzeuger, aber in gewissem Sinn ist er es dennoch, da er sie erkennt und denkend verwirklicht. Gottes gewaltige Eigenschaften – und damit Gott selbst – sind zwar etwas sachlich Gegebenes außer Abram, zugleich aber sind sie auch in ihm und von ihm; die Macht seiner Seele ist in gewissen Augenblicken kaum von ihnen zu unterscheiden, verschränkt sich und verschmilzt erkennend in eins mit ihnen, und das ist der Ursprung des Bundes, den der Herr dann mit Abram schließt und der nur die ausdrückliche Bestätigung einer inneren Tatsache ist.“
Abraham, der Gott hervordachte
Religion ist Ausdruck solcher Bindung, Weihnachten ihr christliches Fest. Thomas Manns Werk weist zahlreiche Spuren seiner Bearbeitung auf – Karl-Josef Kuschel hat sie in einer detailgenauen Studie nachgewiesen 1. Sie führen, erstaunlich genug, bis in den Josephsroman. Weihnachten geschätzte tausend Jahre vor der Geburt Jesu? In seiner Princetoner Einführung in den Joseph zählt Thomas Mann das mythische Motiv der Vereinigung von Gott und Mensch zum religionsgeschichtlichen Menschheitserbe, weil es einen elementaren Geburtsvorgang zum Ausdruck bringt: „die Geburt des Ich aus dem mythischen Kollektiv, des abrahamitischen Ich, welches anspruchsvollerweise dafür hält, daß der Mensch nur dem Höchsten dienen dürfe, woraus die Entdeckung Gottes folgt.“ Das aber bildet für Mann den Treibsatz jener evolutionären Dynamik, die den Menschen zum Menschen macht, ihn humanisiert, indem er „nach seinem Woher und Wohin, seinem Wesen und Ziel, nach seiner Stellung im All, dem Geheimnis seiner Existenz, der ewigen Rätsel-Aufgabe der Humanität“ fragt.
Während Freud an der psychoanalytischen Aufhebung des infantilen Gotteskomplexes arbeitet, bringt Thomas Mann eine eigene Fassung religiöser Aufklärung ins Spiel. Sie steht im Zeichen einer „psychologischen Theologie“. Von Theologie spricht Thomas Mann immer wieder – und er weiß, welchen Boden er damit betritt. Es geht um den Gehalt und die Autorschaft des Gottesmotivs. Für den großen Erzähler tritt es nicht als bloße Projektion zutage, er verbindet es grundlegend mit der menschlichen Existenz. Wenn Thomas Mann festhält, dass „die Seele als Geberin des Gegebenen“ zu betrachten sei, nimmt er eine Grundeinsicht Freuds ernst, nutzt sie aber zugleich für die Entfaltung des Gottesgedankens. Denn die „Idee einer Gottheit, die nicht reine Gegebenheit, absolute Realität, sondern mit der Seele eins und an sie gebunden wäre“, hält die Frage nach dem Ursprung dieser verschränkten Inkarnation von Gott und Mensch offen. Wobei für Thomas Mann offensichtlich ist, dass es sich nicht um das Abfallprodukt begehrlicher Kontingenzentlastung handelt. Ohne die Überschreitung des Ich erreicht es nicht das Bewusstsein seiner selbst. Die Gottesgeburt des Menschen ist kein Zufall, sondern zeichnet ihn aus.
Die Geburt des Ich aus dem mythischen Kollektiv
Freilich folgt für Thomas Mann daraus kein christliches Bekenntnis. Das Dogma kann ihn nicht überzeugen. Er versteht sich als Kulturchrist – das aber im emphatischen Sinn. Denn die Religion des „Menschheitssymbols“, das den zivilisatorischen Weg zu einem human gehaltvollen Verständnis des Bundes zwischen Gott und Mensch führte, begreift er als die kulturelle Evolution schlechthin. Sein späterer Weg zu den Unitariern, den Heinrich Detering als „Thomas Manns amerikanische Religion“ 2 ausgeschildert hat, entspricht dem. Dabei bleibt eine Frage offen: die nach dem Wirklichkeitssinn der weihnachtlichen Veranstaltung.
Daran entzündet sich Streit, seit der Anspruch auf eine Menschwerdung Gottes religionskonstitutiv wurde. Am erschütternden Realismus dieses Gedankens hängt der christliche Gottesbegriff. Thomas Mann nimmt ihn beim Wort. Im mythischen Stoff legt er das Modell eines anspruchsvollen Transzendenzbezuges frei. Die Rede von der Menschwerdung Gottes ist für Thomas Mann dabei nicht fromme Prosa, auch nicht einfach der Auswuchs märchenhafter Wünsche, sondern bezeichnet das Material, aus dem der Mensch gemacht ist. Die Gottesgeburt im Menschen geschieht, wo er sich „dem Geheimnis seiner Existenz“ stellt. Weihnachten ist sein Symbol.
Die Gottesgeburt im Menschen geschieht, wo er sich ‚dem Geheimnis seiner Existenz‘ stellt.
Im Gebrauch von Symbolen betritt der Homo sapiens die weltgeschichtliche Bühne. „Die Verschiebung von der Mittel- zur Zeichenproduktion: das ist die Menschwerdung im engeren Sinn.“ 3 Am Übergang von Leben und Tod, dem der Mensch eine Bedeutung zuschreibt, tritt diese zeichenhafte Menschwerdung in Kraft: am Grab. Zunächst ein Verstauraum für Tote, werden die Verstorbenen später mit Gaben und Erinnerungszeichen beigesetzt. Das Begräbnis avanciert zum rituellen Akt, der Sinn freisetzt. Indem sich der Mensch an den Passagen von Leben und Tod selbst zu verstehen beginnt, vom Grab auf seine Geburt schaut, bewegt er sich in einem Sinnhorizont, der nur ihm zur Verfügung steht und ihn zugleich unendlich überschreitet.
Auf diesem Weg färbt sich das christliche Inkarnationsmotiv realistisch ein. Sein Wirklichkeitsgehalt, an dem Thomas Mann in der Umfunktionierung des Mythos ins Humane liegt, gewinnt zeichentheoretisch Kontur. Menschwerdung Gottes vollzieht sich in den Zeichen, mit denen Transzendenz ausgewiesen und als Gegenwartsform Gottes in der Welt gedeutet wird. Sie verorten ihn in der Natur, geben ihm Raum in einem Heiligtum, lassen ihn durch und zu Menschen sprechen. Thomas Mann gibt dies in seinem Joseph als Entwicklung Gottes zu lesen: Die Vorstellung Gottes verändert sich in der Geschichte, damit aber der Gott, der sich im Menschen offenbart. Er manifestiert sich im Gottesbezug des Menschen, er verwandelt sich mit dem Menschen, der sich biblisch als Bild Gottes interpretiert.
Das Weihnachtsfest geht an dieser Stelle einen waghalsigen Schritt weiter. Es hebt die Zeit gerade nicht auf, sondern bindet die Menschlichkeit Gottes an das Leben eines konkreten Menschen. Christliche Theologie identifiziert in Jesus von Nazaret die schöpferische Lebensmacht Gottes, die am Anfang von allem steht. Der Prolog des Johannes-Evangeliums wählt dafür das Zeichen des Logos. Ohne ihn wäre nichts. Er macht verständlich, was es heißt, zu verstehen und sich sinnvoll zu dieser Welt zu verhalten. Der Logos, in Jesus Christus inkarniert, tritt nicht nachträglich auf, sondern gibt der Schöpfung Raum. Kosmos und Geist gehören zusammen. So kommt Gott zur Welt.
Seine Wirklichkeit vermittelt sich in Zeichen, die ins Bild setzen, was Gotteskontakt bedeutet: die akute Gegenwart von Transzendenz. Solcher Zeichengebrauch steckt im evolutionären Erbe des homo sapiens, der sich für seine Welt interessiert und in seinen Weltdeutungen über sich hinauswächst. Als Zeichenmenschen sind wir alle Menschen und werden wir es immer neu mit jedem neuen Menschen. Mit dem Zeichen „Gott“ tritt menschheitsgeschichtlich eine Chiffre auf, die den ekstatischen Zug dieses Wesens auszuleuchten und zu begründen vermag. Hier bricht der Gott durch, den Thomas Manns Abraham entdeckte.
Die akute Gegenwart von Transzendenz
Anders als in Zeichen lässt sich von solcher Menschwerdung Gottes nicht sprechen. Die bildbezogene Anlage unseres Denkens, seine zeichengebundene Kommunikation ist die Form, in der Gott wirklich Mensch wird. Für Christen vollzieht sich dies in den Zeichen, die Jesus von Nazareth als das Zeichen Gottes selbst (Lk 2,34) gesetzt hat. In seinem Leben repräsentiert er die schöpferische Wirklichkeit Gottes, die alles, was tödlich wirkt, in Leben verwandelt. Dem entspricht das Zeugnis von der Auferweckung des Gekreuzigten, mit dem das Weihnachtsfest theologisch beginnt: als Bekenntnis zu dem Gott, ohne den nichts und durch den alles ist. Der Jesus der Evangelien verkörpert diese Gegenwart Gottes im Menschen: einzigartig, weil sich das Handeln Jesu radikal („ungetrennt und unvermischt“ nennt es das altkirchliche Dogma) von Gott her bestimmt; allgemein, indem er die Gottesgeburt in jedem Menschen zur Geltung bringt. In der Vergegenwärtigung dieses „Menschheitszeichens“ lässt sich Weihnachten mit Thomas Mann feiern. Zumal die Umfunktionierung des Mythos ins Humane politisch-theologisch im Ausgang dieses Jahres nicht weniger dringlich erscheint.
Text: Gregor Maria Hoff, Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie, Universität Salzburg; Bild: Elisabeth Patzal, pixelio.de