Lukas Bärfuss hat zum 100-Jahr-Jubiläum eine sinnsensible Calderón-Adaption geschaffen, die menschlichen Grundfragen weiträumig Resonanz verschafft. Christoph Gellner stellt sie vor.
«Das Welttheater in Einsiedeln stellt für einen Dramatiker eine unmögliche Aufgabe dar. Zuerst ist es die Bühne, der gewaltige Klosterplatz. Wer hier ein Theater aufführen will, muss größenwahnsinnig sein», streicht der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss (*1971) im Nachwort zu seiner Neufassung des Einsiedler Welttheaters heraus, der Rowohlt Verlag bietet zur Mundartspielfassung eine Übertragung ins Schriftdeutsche[1]. Die Anlage gehöre «der größten Theatercompagnie des Abendlandes», gemeint ist der vom Benediktinerorden geführte wichtigste Wallfahrtsort der katholischen Innerschweiz. Zum 100-jährigen Jubiläum der Aufführung von Calderón de la Barcas Fronleichnamsspiel El gran teatro del mundo (1635) in Einsiedeln hat Bärfuss das geistliche Spiel «in eine zeitgemäße Form gebracht».
Das Theater ist die Welt
Vor der einzigartigen Einsiedler Klosterkulisse brach erstmals Thomas Hürlimann mit seinen Neufassungen von Calderóns Welttheater 2000 und 2007 (Regie: Volker Hesse, Musik: Jürg Kienberger) bewusst den transzendenzverriegelten Alltag auf irritierend andere Dimensionen hin auf. Dabei machte der frühere Einsiedler Klosterzögling die Ambivalenz des Religiösen (Wahn, Fanatismus, Magie, Kommerz) ebenso erlebbar wie das tiefe Verlangen nach Heil, Erlösung, ja, einer unversöhnten Glaubenssehnsucht. Sein modernes Welttheaterspektakel «voller Zweifelsflöhe und Zeitgestank»[2] hob sich so vom Sommerfreilichttheater-Mainstream deutlich ab. Auf Druck von rechtskatholischen Kreisen, die Teile des Stücks von 2007 der Blasphemie bezichtigten[3], forderte der damalige Klostervorsteher unter Verweis auf Silja Walters Mysterienspiel Haus der neuen Schöpfung eine stärker affirmative Neuausrichtung, die Menschen helfe, «die Augen für die Gegenwart Gottes in unserer Zeit zu öffnen»[4].
Die wesentlichen Parameter eines Lebens kontrollieren wir nicht.
Gott sei Dank, mussten sich weder Tim Krohn 2013 (Regie: Beat Fäh, Musik: Carl Ludwig Hübsch) noch Lukas Bärfuss für ihre Gegenwartsversionen des Einsiedler Welttheaters darauf einlassen. Während Krohn mit dem Fokus auf Krankheit und Gesundheit im Gentechzeitalter barocke Bezüge weitgehend vermied, modelliert der Büchner-Preisträger des Jahres 2019 in seiner säkularen Fort- und Umschreibung (Regie: Livio Andreina, Musik: Bruno Amstad) ganz elementare menschliche Grundfragen heraus: «Allegorie, Frömmigkeit, Innigkeit, Mystik: All dies rückt uns Calderón in weite Ferne. Doch auch der Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist dem Schicksal ausgeliefert, den Wechselfällen des Lebens, dem Zufall, der Krankheit, der freudigen Überraschung, dem Tod. Die wesentlichen Parameter eines Lebens kontrollieren wir nicht. Wir bestimmen nur zu einem Teil über unsere eigene Rolle. Ist das der Weg zu Calderón? Seine zentrale, bis heute unbeantwortete Frage: Welche Rolle ist deine Rolle? Und was heißt es, seine Rolle auszufüllen, sie gut zu spielen?»
Wirbel des Daseins, Strudel der Zeit
«The Great Theatre oft he World is cancelled!», lässt Bärfuss nach einem Slapstick-Vorspiel den Autor unter Applaus der Calderónschen Protagonisten verkünden: offensichtlich passen die traditionellen Rollen von Bauer und König, Armem und Reichem, Vernunft und Schönheit niemandem mehr. Spielen wollen nur die beiden unerzogen-ungeborenen Kinder, die noch nie spielten, Emanuela überredet Paolo mitzuspielen und gleich alle Rollen zu übernehmen.
Schon Hürlimann ersetzte «Gott» durch die «Welt», die bei Bärfuss das Bühnengeschehen mitleidlos bis zynisch im Rhythmus der Jahreszeiten sowie von Geburt und Tod antreibt. Sie erscheint auf einem Lama, ihr folgen «die Wunder der Welt»: «die alten, die von früher» sind der Stille Ozean, Süd- und Nordwind, Morgenrot, Frost, die neun Kontinente, Plattentektonik, Jetstream, Dürre. «Die jungen, frischen» setzen Hürlimanns Endspiel fort: «Der Permafrost. Er schmilzt. El Nino. Er bringt viel Leid. Ein Hurricane der Stufe neun. Eine Pandemie! Ein Waldbrand. Die Sturzflut. Und ein Downburst.» Daraus ersteht der Wirbel des Daseins:
Wind und Feuer, Wasser und Erde.
Zeugen, gebären und leben und sterben!
Wehe, brenne, tränke, wachse.
Dreh, du Welt, dreh um die Achse!
Vom Wirbel erfasst lernt Emanuela: Die Welt dreht sich und dreht sich, unaufhörlich. In der Rolle des Bauern sind beide Kinder Unwetter, Hitze und Insektenplagen ausgesetzt:
Krampfen, schwitzen, säen, jäten,
schlafen, essen, trinken, beten!
Krampfen, schwitzen, säen, jäten,
am Anfang ist es lustig.
Aber langsam wird es lästig.
Mit der Geschlechtsreife lernen sie: die Zeit gehört zum Spiel. Emanuela will Königin sein, ihr wird ein Thron errichtet, sie fürchtet um Krone und Macht, kämpft mit Pablo, schleudert ihn in den Tod und folgt ihm «durch den Hades, das Fegefeuer, die Hölle, das Nirwana, wie immer man das Jenseits nennen mag» – eben noch eine junge Frau, ist sie verwandelt, gealtert zu einer reifen Frau, ihre verlorene Jugend/Liebe/Hoffnung steht neben ihr. Der Autor erklärt:
Das Leben ist nie,
was wir darüber denken.
Und erst, wenn sie gespielt ist,
verstehen wir unsere Rolle.
Verrückt geworden sehen wir Emanuela als Bettlerin inmitten von Elenden und Obdachlosen, unter ihnen auch Hiob und Jesus, der spricht: «Es ist kein Fehler und keine Schande, wenn man versucht und hofft und kämpft.» Der Arme klagt und hält die Welt für einen Dreck. Emanuela appelliert: «Wir machen es anders. Für die Gerechtigkeit! Für ein neues Spiel!» Die Revolte verliert sich in Gier und Hybris, der Autor wird geschlagen, mit ihm geht auch die Vernunft ab. Die Armen plündern die Klosterkirche, Emanuela reisst das Gnadenbild der Schwarzen Madonna samt Gold, Schmuck und Edelsteinen an sich und will die Schönste sein.
Die Welt lässt einen letzten Wirbel entstehen
Die Welt lässt einen letzten Wirbel entstehen, der Emanuela in eine Greisin verwandelt, worauf die Schönheit zu der Altgewordenen sagt: «Jetzt bist du wahr, jetzt bist du schön!» Die Welt bestätigt ihr: «Du und das Spiel, ihr seid vollendet». Doch Emanuela wirft ein: «Das Spiel muss weitergehen.» Die Welt gibt ihr zu verstehen: «Das geht es auch. Es geht weiter ohne dich.» Statt zu verschwinden, wehrt sich Emanuela: «Nein. Ich bleib!» Ihre Alter Egos, das Kind, die junge Frau, die reife Frau treten neben sie, letztere spricht: «Pablo ich liebe ich! Das geht nicht vorbei.» Die Greisin steigt auf ein Lama auf und verschwindet mit der Welt. «Wer soll jetzt mit mir spielen?», fragt das Kind. Die beiden Mondheber aus dem Vor- und Zwischenspiel treten auf, zum Schlussbild strömen viele Kinder auf den Klosterplatz und betrachten den aufgehenden Vollmond, der mit seinem feinen Lächeln in der Nacht strahlt.
Das Abenteuer, ein Leben zu leben
Im freikirchlichen geprägten Berner Oberland aufgewachsen, konnte er unvoreingenommen an Calderons Mysterienspiel herangehen, sagte Bärfuss im Interview und erwähnte eines seiner erfolgreichsten Theaterstücke, für das er 2005 den Mülheimer Dramatikerpreis erhielt: Der Bus (Das Zeug einer Heiligen) handelt von einer jungen Frau, die von Gott den Auftrag erhält, nach Tschenstochau in Polen, wo es wie in Einsiedeln eine Schwarze Madonna gibt, zu pilgern. Es wurde als «ein Stück über Glauben und dessen Abwesenheit» gerühmt, «über das spirituelle Vakuum des alten Europas und den verzweifelten Versuch, der Leere etwas entgegenzusetzen»[5]. Auch sein mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneter Romanessay Koala (2014)[6] wirft sinn- und spirituell sensibel[7] Fragen nach dem guten, richtigen Leben auf.
Wir alle werden in ein Leben geworfen, keiner wird gefragt, in welche Zeit, an welchen Ort. Daher handelt klüger, wer seine Rolle annimmt, das Beste daraus macht – und sie dadurch am Ende überwindet.
«Wir alle werden in ein Leben geworfen, keiner wird gefragt, in welche Zeit, an welchen Ort. Daher handelt klüger, wer seine Rolle annimmt, das Beste daraus macht – und sie dadurch am Ende überwindet: Hier hat Calderón einen Punkt», betont Lukas Bärfuss und fügt hinzu: «Für einen Dramatiker ist das Welttheater eine unmögliche Aufgabe, nicht aber für das [Laien-] Spielvolk in Einsiedeln» mit 500 Mitwirkenden auf und hinter der Bühne.
Die geteilte Erfahrung der unausgesetzten Transformation macht aus dem Welttheater in Einsiedeln eine soziale Installation.
«Es war der Glaube an die Verwandlung, die eine Feier bringen, begleiten, bewundern kann. Die geteilte Erfahrung der unausgesetzten Transformation macht aus dem Welttheater in Einsiedeln eine soziale Installation.» Die alle Sinne ansprechende Neufassung von 2024 belegt einmal mehr, wie der Bruch mit der auf Eichendorffs Calderón-Übersetzung von 1846 basierenden Einsiedler Welttheatertradition 1924–1992 diese durch eine für die Jetztzeit sensible Fort- und Umschreibung neu beleben kann, wenn sie in ästhetischer Offenheit existentielle Fragen essentiell verdichtet: «Wir können uns im Spiel kennenlernen, wir können das Spiel durch die Befolgung der Regeln überwinden, wir können alles, was uns geschieht, teilen, das Schöne und das Hässliche, die Freude und das Leid», konstatiert Lukas Bärfuss. Ja, «wir können in der Unmöglichkeit der Aufgabe, ein Leben zu führen, in unserem Scheitern den Sinn erkennen, den Versuch, aus unserer ungefragten Existenz eine notwendige zu machen.»
[1] Lukas Bärfuss: Einsiedler Welttheater. Nach dem Schauspiel von Don Pedro Calderón de la Barca, mit einer Übertragung ins Schriftdeutsche und einem Essay des Autors, Hamburg 2024.
[2] Christoph Gellner: Auf- und Ab- und Übergänge. Thomas Hürlimanns neuestes Welttheater und die Bedeutung der Religion in seinem Oeuvre, in: Hans-Rüdiger Schwab (Hg.): «… darüber ein himmelweiter Abgrund». Zum Werk von Thomas Hürlimann, Frankfurt/M. 2010, 380-393.
[3] Urs Wisel Ochsner: Zäsur in einer Tradition. Dokumentation des Einsiedler Welttheaters 2007, Zürich 2020, 146-151.261-273.
[4] Stellungnahme von Abt Martin Werlen zum Welttheater 2007, in: Zeitschrift Kloster Einsiedeln 4/2007.
[5] John von Düffel: Glaube, Liebe, Abgrund. „Der Bus“ von John von Düffel, in: Theater heute 2004, 146f. Vgl. Peter-Jakob Kelting: Die (Un-) Möglichkeit des Glaubens. Versuch über Lukas Bärfuss‘ Stück „Der Bus (Das Zeug einer Heiligen)“, in: Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liaison, hg. v. Albrecht Grözinger u.a., Würzburg 2009, 151-169.
[6] Christoph Gellner: Eine neue Leichtigkeit des Seins? Suchbewegungen in der Literatur unserer Zeit, in: Stimmen der Zeit 139 (2014) 689-699
[7] Dazu eingehend Christoph Gellner: „Wo Sinn war, ist Suche“. Spielarten des Spirituellen in der Gegenwartsliteratur, Freiburg i.Br. 2024.
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Christoph Gellner, Dr. theol., ist Experte für Religion und Literatur. sowie Mitglied der Gesellschaft für die Erforschung der Deutschschweizer Literatur G.E.D.L.
Beitragsbild: Logo des Einsiedler Welttheaters 2024