Dem Thema Trauer begegnet Helga Kohler-Spiegel aktuell in Kinderbüchern wie in der psychotherapeutischen Praxis. Sie weist darauf hin, welche Prozesse mit dem Trauern einhergehen, und was hilft, mit der Trauer zu leben.
„Eines Tages kam die Traurigkeit zu mir und ich habe beschlossen, ihr ein Zuhause zu geben. Meiner Traurigkeit baue ich eine Wohnung und heiße sie dort herzlich willkommen.“ Wunderbar wird mit Bild und Farbe und Sprache gezeichnet, wie das ist, wenn die Traurigkeit bei uns Wohnung hat. Und es wird beschrieben, was die Traurigkeit zum Wohnen braucht, und was sie bekommt und was sie braucht – „wenn sie mag.“ … „Sie soll all das tun, was ihr guttut.“
„Hin und wieder“, so sagt das „Ich“ in diesem Kinderbuch, „werde ich meine Traurigkeit jeden Tag besuchen. Sogar jede Stunde, wenn nötig. Manchmal werden wir uns entgegenlaufen und in die Arme fallen und uns festhalten und weinen und reden… …und ein anderes Mal sitzen wir einfach nebeneinander und sagen nicht. Gar nichts. … Manchmal werde ich zu beschäftigt sein, um meine Traurigkeit zu besuchen. Aber das ist natürlich in Ordnung…“ (Anne Booth und David Litchfield: Ein Ort für meine Traurigkeit. Übersetzt von Mechthild Schroeter-Rupieper, Gabriel in Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart 2021, o.S.).
Die Trauer wahrnehmen, ihr begegnen, der Trauer einen Ort geben.
Wenn in Kinderbüchern ein Thema verstärkt auftaucht, ist dies m.E. oft auch Hinweis darauf, dass das Thema insgesamt angesagt ist. Die Trauer wahrnehmen, ihr begegnen, der Trauer einen Ort geben, ihr die Tür öffnen und ihr ein Zuhause geben…
„Manchmal kommt die Traurigkeit unerwartet. Sie folgt dir überallhin. Und sitzt so nah bei dir, dass du kaum atmen kannst. …“ In einfachen Worten und reduzierten Zeichnungen werden die Leserinnen und Leser hingeführt, die Angst vor der Traurigkeit zu verlieren und mit ihr ins Tun, ins Handeln zu kommen – so im Kinderbuch „Gebrauchsanweisung gegen die Traurigkeit“ von Eva Eland, Hanser Verlag München 3. Aufl. 2019, o.S.
Trauern – und die Unfähigkeit…
Es war 1967, als Alexander und Margarete Mitscherlich das psychoanalytische Werk „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens“ veröffentlicht haben. Sie beschreiben darin die Mechanismen der deutschen Gesellschaft in der Nachkriegszeit, Trauer zu vermeiden, zu verdrängen, zu verlagern u.v.m., anstatt sich emotional und sozial mit der Zeit der Nationalsozialistischen Diktatur und ihren sozialen und psychologischen Auswirkungen auseinanderzusetzen.
Aus heutiger Sicht ist bekannt, dass es bei der Trauer um eine Veränderung der Bindung geht.
Bereits 1917 hat Sigmund Freud in seinem Werk „Trauer und Melancholie“ zwischen diesen beiden Stichworten unterschieden, wobei „Melancholie“ heute wohl im weiteren Sinn als „Depression“ verstanden würde. Dabei betont Sigmund Freud: „Trauer ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person…“ Aus heutiger Sicht ist bekannt, dass es bei der Trauer um eine Veränderung der Bindung geht, dass es anspruchsvoll ist, sich vom Verlorenen und dem, was unwiederbringlich ist, zu lösen – und sich zugleich für eine Veränderung und Verinnerlichung der Verbundenheit zu öffnen, wenn es sich um eine stärkende Beziehung handelt.
Trauer kann zahlreiche Gewänder tragen.
Angesichts der zahlreichen Kinderbücher zum Thema sei die Frage nach dem „Trauern“ auch bei Erwachsenen erlaubt. In der psychotherapeutischen Praxis kommt mir „Trauer“ in zahlreichen „Verkleidungen“ entgegen – als Müdigkeit, Zorn, Zynismus, als Anspannung oder in Aktivitäten… Trauer kann zahlreiche Gewänder tragen. Trauer kann ohnmächtig machen und zornig, zynisch oder resignativ, sie kann überspielt werden, verharmlost oder verlagert auf andere, die dann abgelehnt werden, Trauer kann vermieden werden, oder sie führt zu Ablenkungen.
„Trauer“ ist ein Sammelbegriff für verschiedene Aspekte, Trauer beschreibt eine Basisemotion, einen seelischen Schmerz. Trauer wird als Prozess, genauer als Bewältigungsprozess verstanden. Trauer beschreibt einen „Verhaltenskodex“, der als ein Set von festgelegten Regeln und Ritualen verstanden werden kann. Trauer wird im sozialen Kontext sichtbar gemacht, dies ist oft auch verbunden mit Definitionen, wer worüber trauern darf – und wer nicht.
Erschwerte Trauer
Kenneth J. Doka hat sich intensiv mit verschiedenen Aspekten der Trauerbewältigung beschäftigt, sein Konzept des „disenfranchised grief,“ der „erschwerten Trauer“, ist ein zentraler Beitrag in der Trauerforschung. In den 1980er Jahren erstmals vorgestellt und später weiter ausgearbeitet, hat Doka das Konzept 1989 in „Disenfranchised Grief: Recognizing Hidden Sorrow“ (Lexington Books, London u.a.) ausformuliert.
Trauer, die von der Gesellschaft oder bestimmten sozialen Gruppen nicht anerkannt bzw. entwertet wird.
„Disenfranchised grief“ bezieht sich auf die Trauer, die von der Gesellschaft oder bestimmten sozialen Gruppen nicht anerkannt bzw. entwertet wird. In solchen Fällen fühlen sich trauernde Menschen oft isoliert und haben Schwierigkeiten, ihre Trauer angemessen auszuleben. Dies kann aus verschiedenen Gründen geschehen, dazu gehören Verluste, die in der Gesellschaft als nicht bedeutend angesehen werden, z.B. der Verlust eines Haustieres, eines Arbeitsplatzes, einer Freundschaft. Oder verborgene Verluste wegen einer „nicht anerkannten“, häufig auch „heimlichen“ oder „verbotenen Beziehung“ aufgrund persönlicher Umstände, familiärer Situationen, kultureller Unterschiede. Oder wenn den betroffenen Personen unterstellt wird, dass sie den Verlust nicht begreifen können – dies geschieht immer wieder gegenüber Kindern oder Menschen mit starken Beeinträchtigungen. Angehörigen wird das Recht auf Trauer häufig aberkannt und abgesprochen, wenn z.B. der Verstorbene zum Täter geworden und andere mit in den Tod gerissen hat.
In einem Kinderbuch zum Thema „Trauer“ bei einem Todesfall heißt es dann ganz lapidar: „Und da sind sie schon wieder, die Tränen.“ (in: Bette Westera und Harmen von Straaten: Seinen Opa wird Jan nie vergessen, Lappan-Verlag Oldenburg 2001, o.S.)
Trauer in Veränderungsprozessen
Nicht zu übersehen ist, dass Veränderungsprozesse, die Menschen nicht selbst bestimmen können, die auf sie zukommen und denen sie sich stellen müssen, Trauerprozesse auslösen wie bei einem Verlust. William Worden (in: Beratung und Therapie in Trauerfällen. Ein Handbuch, Verlag Hans Huber 4. Aufl. Bern, 43-59) hat diese Herausforderungen bei Trauer und ungewollten Veränderungen in vier „Traueraufgaben“ beschrieben:
- Aufgabe: Die Wirklichkeit des Todes und des Verlusts begreifen – oder: Realisieren, dass es so ist, wie es ist…
- Aufgabe: Die Vielfalt der Gefühle durchleben – oder einfach gesagt: So viele Gefühle…
- Aufgabe: Veränderungen in der Umwelt wahrnehmen und gestalten – oder: All die Erinnerungsmomente, und die Unsicherheit… Die Veränderung betrifft (fast) alle Lebensbereiche…
- Aufgabe: Der oder dem Toten einen neuen Platz zuweisen – oder: Wieder – Schritt für Schritt für Schritt – im Alltag ankommen.
meiner Traurigkeit ein Zuhause geben
In der psychotherapeutischen Praxis ist dies ein häufiges Thema, bei ungewollten Veränderungen und bei Verlusten die Trauer – und den Zorn und die Enttäuschung und die Ohnmacht und die Schuldgefühle und die Einsamkeit und die Angst und die Verzweiflung und und und – nicht auszublenden und zu tabuisieren. Vielleicht ist es wieder an der Zeit, die Trauer nicht abzuwehren, sondern „einen Ort für meine Traurigkeit“ zu suchen, meiner Traurigkeit ein Zuhause zu geben.
Ein letzter Hinweis auf ein weiteres Kinderbuch: Verbunden mit kleinen, feinen Zeichnungen ist dieser Text von Lena Raubaum und Katja Seifert (Mit Worten will ich dich umarmen. Gedichte und Gedanken, Tyrolia-Verlag Innsbruck – Wien, 5. Aufl. 2023, S. 36f) für Kinder geschrieben – und nicht nur für Kinder, denke ich:
Ungewöhnlicher Besuch
Neulich um die Mittagszeit
besuchte mich die Traurigkeit.
Erst fand ich das unerhört,
hab ihr gesagt, dass sie mich stört,
und tat, als wäre sie unsichtbar.
Doch sie blieb –
blieb einfach da.
Also bat ich sie herein,
lud sie glatt zum Essen ein.
Wir aßen, sprachen, hörten zu.
Und – du glaubst es nicht – im Nu
war sie verschwunden – ohne Worte,
dabei gab es ja noch Torte.
Helga Kohler-Spiegel, Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, Österreich. Psychotherapeutin und Lehrtherapeutin, Psychoanalytikerin und (Lehr)Supervisorin.
Beitragsbild: Lisa Runnels / Pixabay