Orte, an denen Menschen schlicht Mensch sein dürfen, können als Orte sozialer Gegenkultur bezeichnet werden. Für Jacqueline Keune gehört das bunte Leben im Treffpunkt Stutzegg in Luzern dazu.
Es gibt eine Not, die nicht laut ist, die nicht ins Auge springt und nicht mit spektakulären Zahlen aufwarten kann und Menschen doch in ihrer ganzen Existenz erfasst. Menschen, die zwar irgendwie über die Runden kommen, aber viel von dem entbehren, was die Güte des Lebens mit ausmacht: einen Anruf dann und wann, eine Ansichtskarte alle paar Monate, zwei, drei alltägliche Kontakte, eine würdige Unterkunft, irgendeine Arbeit oder Aufgabe, eine Handvoll Wertschätzung, seelische und körperliche Stabilität, genug Geld zum Leben und eine Perspektive, an die sich in Nächten halten lässt.
Die Welt, die würde sich weiterdrehen und die Stadt nicht viel davon bemerken, wenn es unser Gasthaus an der Baselstrasse morgen nicht mehr gäbe. Aber gut hundert Menschen würden viel oder vielleicht gar allen Boden unter ihren Füssen und Herzen verlieren. Menschen, die in besonderem Masse verletzlich sind und mit denen wir einen Ort sozialer Gegenkultur in unserer Stadt geschaffen haben und immer neu schaffen. Überzeugt davon, dass solche Andersorte not-wendig sind in einer Welt, die alles und alle auf ihre Rentabilität abklopft.
Hôtel Dieu
Seit 20 Jahren gibt es unseren Treffpunkt, der vom Verein Hôtel Dieu geführt wird, dessen Name vom Hôtel Dieu in Beaune herrührt, einem mittelalterlichen Hospiz für Kranke und Arme. Gestiftet von einem vermögenden Paar angesichts des Elends, das nach dem Hundertjährigen Krieg Mitte des 15. Jahrhunderts im Burgund geherrscht hat, und geleitet von der Überzeugung: „Nichts ist schön genug für die Armen Christi“ (aus der Stiftungsurkunde).
Das Herzstück der Anlage bildet eine Kirche, in deren Chor der Priester die Messe gefeiert und in deren Schiff – gesäumt von Betten – zeitgleich die Kranken gepflegt wurden. Dieser Ort des Verwobenseins von Menschen- und Gottesdienst wurde zum Ursprung der Spitalschwestern und über sie zur spirituellen Grundlage unseres Treffpunkts, an die wir seit Jahren jeden Montag im Abendgebet anknüpfen.
Wir verstehen den Stutzegg nicht nur als Stück Familie, sondern auch als Stück Kirche. Eine Kirche, die nicht zuerst Kult und Ästhetik, sondern Begegnung und Beziehung meint und in der alle, wirklich alle Erfahrungen des Lebens sein dürfen.
keine Gewalt geduldet
Unser Treffpunkt war nicht von Anfang an fertig, sondern er ist geworden. Ein Arbeiterpriester, einer der drei GründerInnen: „Der Umgang der Gäste miteinander war nicht von Beginn weg so schön wie heute. Am Anfang war öfters die Polizei hier drin.
Mit den Jahren hat sich eine wunderbare Kultur entwickelt. Es wird zwar immer noch gestritten, aber alle bemühen sich, niemanden zu verletzen.“ Alle wissen auch, dass im Treffpunkt keine Gewalt geduldet wird, auch keine verbale, und sexistischem oder rassistischem Reden sofort ins Wort gefallen wird – mittlerweile tun das die Gäste auch selber.
Gäste, nicht KlientInnen
Der Stutzegg ist ein niederschwelliger Ort der Gemeinschaft und der Gastfreundschaft – entsprechend sehen wir die Aufsuchenden als Gäste, etwa im Gegensatz zu KlientInnen.
Wenn vereinzelt auch Kinder mit ihren Eltern oder einem Elternteil da sind, so sind unsere Gäste doch vorwiegend Frauen und Männer zwischen 35 und 85. Alle Mitarbeitenden teilen die Haltung, die Menschen als die zu respektieren, die sie sind, und sie nicht zu ändern zu versuchen.
Der Treffpunkt wird von fünf Teilzeitangestellten und 20 Freiwilligen geleitet und finanziert sich seit dem ersten Tag ausschliesslich von Spenden. Die Betriebskosten belaufen sich auf rund eine Viertelmillion Franken pro Jahr.
nichts müssen
Im grossen Gastraum, den wir als öffentliche Stube verstehen, können Menschen einfach sitzen und sein. Es macht mit die Qualität des Ortes aus, dass Menschen hier nichts müssen. Sie können reden oder schweigen, lachen oder weinen, mit anderen ein Spiel machen, für sich die Zeitung lesen oder auch einfach ein paar Stunden auf dem Sofa schlafen.
Viele sind müde, die den Stutzegg aufsuchen, und der Ort hält einiges aus. Ein Gast, der es gewohnt war, seine Konflikte immer aggressiv auszutragen, meint: „Ich habe hier drin viel gelernt. Als ich das letzte Mal Streit hatte, konnte ich ganz ruhig bleiben und wir konnten den Streit lösen. Ich hatte Hühnerhaut, als wir einander nachher wieder in die Augen geschaut haben.“
Gegessen wird immer gemeinsam, auch gefeiert: die Geburtstage der Gäste, die sonst niemand feiern würde, Ostern, Weihnachten und Silvester, weil sich Einsamkeit nie so einsam, Armut nie so arm und Ausgrenzung nie so ausgrenzend anfühlt wie an solchen Tagen.
Manchmal wird auch ein Film gezeigt, etwa über das Wasser, und anschliessend beredet. Oder wir besuchen – dank Spenden – eine Zirkusvorstellung, eine Theateraufführung oder auch mal ein Konzert im KKL – Dinge, die die allermeisten unserer Gäste sonst nie zu sehen und zu hören bekämen.
Raum der Stille
Zum Stutzegg gehört auch ein Raum der Stille, in den sich die Menschen zurückziehen können, wenn es ihnen im Gastraum zu laut wird oder sie über etwas reden möchten. Auch ein bescheidenes, leicht zugängliches Angebot an Meditation und Körperarbeit gehört zu diesem Raum.
So lädt eine Mitarbeiterin ab und an zu einer Handpflege oder Fussmassage ein, eine andere leitet eine einfache Yoga- oder Atem-Übungen an oder gestaltet eine kurze Meditation mit Text oder Bild.
Im Raum der Stille liegt zudem ein grosses Buch mit leeren Seiten auf, in dem wir an jene erinnern, die gestorben sind.
Im Quartierwerkraum wird den Gästen, die das wollen, gezeigt, wie sie ihre Kleider selber flicken oder abändern können. So gibt es Männer, die an der Nähmaschine sitzen und ein Paar Hosen kürzen, oder für sich – mit Unterstützung einer jungen Künstlerin, die im Gegenzug von uns ein kleines Atelier benützen kann – eine Puppe nähen. Eine Puppe, die der Mann schliesslich wie ein lebendiges Kindlein in seinen Armen hält, damit von Gast zu Gast geht, um sie allen zu zeigen, und nur Lob und Liebes dafür erntet. Oder eine alte Frau, die sich mit Hilfe der Künstlerin einen anderen grossen Wunsch erfüllt und für sich ein Orakel gekleistert und bemalt hat.
Lebensorte Gottes: Irma, Manuel, Beat…
Unsere Gäste bewegen sich eher an den Rändern der Gesellschaft, ohne sich deswegen als randständig zu empfinden. Sie sind materiell eher arm, ohne sich deswegen als arm zu fühlen. Viele von ihnen haben psychische Beeinträchtigungen, ohne sich deswegen als krank abstempeln zu lassen. Das beeindruckt mich sehr. Auch ihre Originalität, ihre Ehrlichkeit, ihre Direktheit und Offenheit.
So vieles kann ich hier lernen. Und so vieles kann erfahren, wer sich auf die Menschen im Stutzegg einlässt. Er oder sie erfährt etwa, dass eine alte Frau auf der Strasse leben kann, ohne bitter zu werden. Dass ein junger Mann vergessen kann, dass er stottert, wenn er keine Angst haben braucht und sich ganz angenommen fühlt. Dass eine selbst genähte Puppe einem Ruppigen seine ganze Liebe hervorlocken kann. Und dass Menschen mit unglaublich wenig zu leben vermögen. Vielleicht erfährt sie oder er gar, wo Gott wohnt und dass seine Lebensorte nicht Himmel oder Tabernakel, sondern Irma, Manuel, Beat, Mervan, Dragan oder Doris heissen.
der Blaue Akt von Henri Matisse
Eine Frau, die fast jeden Tag den Stutzegg besucht, hat mir ein Foto ihrer Stube gezeigt, die gleichzeitig auch ihr Schlafzimmer ist. An der Wand über dem Bettsofa hängt der Blaue Akt von Henri Matisse – ein Bild, das sie liebe. Das Bild hängt nicht als Reproduktion auf Papier da, sondern als grosses Badetuch, das sie für drei Franken in der Brockenstube gefunden habe. Früher hätte ich das als Ausdruck einer grossen Not gelesen. Heue lese ich es als Ausdruck einer grossen Ressource.
weinen und stottern und schräg sein dürfen
Es braucht viele Orte sozialer Gegenkultur. Denn wo gibt es noch Räume, wo Menschen einfach schweigen und trotzdem dazugehören dürfen? Wo gibt es noch Räume, wo Menschen langsam sein dürfen und trotzdem nicht hinausfallen? Wo noch Räume, wo Menschen nicht topfit und hellwach sein brauchen, nichts bieten und bringen müssen, und dennoch wertvoll sind? Wo Menschen ihr Visier hochklappen und ihr unverstelltes Gesicht zeigen und zumuten, wo sie weinen und stottern und schräg sein dürfen und doch ganz angenommen sind? Wo es kein Programm gibt, sondern einfach entstehen darf, was entsteht?
Orte, wo Ausgesteuerte keine Ausgesteuerten, Randständige keine Randständigen, Depressive keine Depressiven, Dicke keine Dicken, sondern schlicht Menschen sind. Orte, die nicht einteilen in oben und unten, in studiert und angelernt, in einheimisch und fremd, in namhaft und namenlos.
Heilsame, befreiende, gemeinsam gestaltete Lebensräume, in denen Menschen, in denen ich, in denen wir alle neuen Atem und frische Hoffnung schöpfen, Sprache finden, Solidarität erfahren und vielleicht auch Gott erlernen können.
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Die Theologin und Autorin Jacqueline Keune ist seit 2010 Co-Präsidentin des Vereins Hôtel Dieu, der den Treffpunkt Stutzegg führt.
Beitragsbild und Fotos: Jutta Vogel, Luzern