August H. Leugers-Scherzberg zieht Parallelen zwischen der Situation beim Tod Johannes‘ XXIII. am 3. Juni 1963 und heute – und entdeckt manche Gemeinsamkeiten.
„Unter seinen Vorgängern war die katholische Kirche in die Defensive geraten. … Schädliche Lehren wurden verboten, irrende Gläubige aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, kritische Theologen auf den Index gesetzt, Kontakte mit der nichtkatholischen Umwelt streng reglementiert. … Die Dogmen, Dekrete und Canones sollten die katholische Kirche in ein Getto verwandeln. Aber zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffte ein Abgrund, der sich zusehends vergrößerte. Den Getto-Regeln fügten sich jene Gläubigen, die ohnehin so kirchentreu waren, daß sie auch ohne die drohenden Canones nicht in unerlaubte Bezirke ausgewichen wären. Zahllose andere Katholiken aber nahmen sich innerhalb und außerhalb der Kirche die gleichen Freiheiten, die nichtkatholischen Christenmenschen vergönnt waren. Dem schwindenden Respekt der Gläubigen entsprach so die wachsende Bedeutungslosigkeit der aus Angst vor den ideologischen Gegnern immer strenger formulierten Verbote, Vorschriften und Weisungen.“
Freiheit, Aufbruch, Auszug aus dem Getto: ein Nachruf
Dies ist nicht etwa ein Text, der mit Blick auf das Pontifikat des gegenwärtigen Papstes geschrieben wurde. Er stammt vielmehr aus dem Nachruf des Hamburger Nachrichtenmagazins Der Spiegel auf Johannes XXIII. von Anfang Juni 1963. Man ist überrascht und irritiert über die Aktualität dieser Zeilen. Denn so oder so ähnlich ließe sich auch das Klima innerhalb der Katholische Kirche unmittelbar vor dem Amtsantritt des jetzigen Papstes beschreiben. Und die Parallelen gehen noch weiter. In den Würdigungen von Johannes XXIII. unmittelbar nach seinem Tod am Pfingstmontag 1963 wurde herausgestrichen, dass sein Pontifikat ein „Pontifikat des Aufbruchs“ gewesen sei, dass der Papst einen „freiheitlicheren Geist“ in die Kirche gebracht habe, dass ihm vorgeworfen worden sei, er habe die Kirche nach links geführt.
Seine Amtsführung wurde als Vermenschlichung des Petrusamtes bezeichnet, besonders wurde auch herausgestrichen, dass er immer wieder die strengen Rahmen des Zeremoniells gesprengt habe. Zudem wurde auf den grellen Kontrast zu seinem unmittelbaren Vorgänger hingewiesen: er als Nicht-Kurialist, der einen Vorgänger abgelöst hatte, der als lang gedienter Kurialist so sehr mit der römischen Kurie verwachsen gewesen sei, dass er nicht dazu in der Lage war, die Verkrustungen des vatikanischen Systems aufzubrechen.
Widerstände
Besonders wurde auch angemerkt, dass er innerhalb der Kurie auf erbitterten Widerstand gestoßen sei, vor allem auf den Widerstand des Präfekten der Glaubenskongregation, die damals noch Heiliges Officium genannt wurde. Auch wurde herausgestrichen, dass ein in rechtskonservativen Zeitschriften und in konservativ orientierten Qualitätsblättern schreibender deutscher Feuilletonist den Papst hart attackiert und ihn des politischen Missbrauchs des Petrusamtes geziehen habe, da er durch seine öffentlichen Äußerungen faktisch Partei für die Linken ergreife. Der Kirchenhistoriker Hubert Jedin hielt wenige Jahre nach dem Tode Johannes XXIII. im Handbuch der Kirchengeschichte fest, dass er bei seinem Tod von der ganzen Welt betrauert worden sei, »fast noch mehr außerhalb als innerhalb der Kirche«. Dass auch der heutige Papst außerhalb der Kirche mehr als innerhalb der Kirche verehrt wird, soll Franziskus bereits zu Lebzeiten bewusst sein.
Grenzen
Mit großer Nachsichtigkeit wurde in den Nachrufen auf Johannes XXIII. darauf hingewiesen, dass seine Reformtätigkeit auch Grenzen gehabt habe. Das wurde ganz allgemein formuliert, ohne näher darauf einzugehen. Dass es eine Reihe von Entscheidungen in seinem Pontifikat gegeben hatte, etwa im Hinblick auf die Exegese des Neuen Testaments, die Autorität des Lateinischen als Glaubenssprache oder dem Werk Teilhard de Chardins oder dass die römische Diözesansynode von 1960 alles andere als eine Reformsynode gewesen war, wurde stillschweigend übergangen. Ebenso wurde die Rolle, die Johannes XXIII. nach dem Krieg als Nuntius in Frankreich bezüglich der Nichtaufarbeitung der Verstrickung eines großen Teils des französischen Episkopats in das Vichy-Regime gespielt hatte, und seine Rolle beim Verbot der französischen Arbeiterpriester in Frankreich beschönigt.
Beim Tode Johannes XXIII. hielt die Welt gespannt den Atem an: Wie würde es nun mit der Katholischen Kirche weitergehen? Das Szenario schien klar: entweder würde das Konklave einen konservativen Nachfolger wählen, um das „linke“ Pontifikat durch ein nachfolgendes „rechtes“ zu korrigieren. Oder aber es würde einen progressiven Kandidaten wählen, der die Öffnung der Kirche weiterführen würde. Und der Spiegel wusste bereits wenige Tage nach dem Tode von Johannes XXIII., wer der progressive Hoffnungsträger sein könnte: der Mailänder Kardinal Giovanni Battista Montini!
Wie kam es, dass das kirchliche Klima fünfzig Jahre nach dem Tod von Johannes XXIII. wieder da angekommen zu sein schien, wo es vor seiner Wahl gewesen war?
Wie kam es, dass das kirchliche Klima fünfzig Jahre nach dem Tod von Johannes XXIII. wieder da angekommen zu sein schien, wo es vor seiner Wahl gewesen war? Es waren ja nicht die konservativen Betonköpfe, die die Kirche dahin geführt hatten. Die nachkonziliare Zeit wurde von Personen bestimmt, die während des Konzils allesamt zu den sog. gemäßigten Reformern gezählt wurden. Das waren neben dem Mailänder Kardinal Montini auch der junge Konzilstheologe Joseph Ratzinger und der Krakauer Weihbischof Karol Wojtyła. Waren sie allesamt in wenigen Jahren von Reformern zu Reaktionären geworden? Oder hatte die Reform des Zweiten Vatikanums die nachkonziliare Krise bereits in sich getragen? War die Reform in sich zu halbherzig gewesen oder war (und ist?) die katholische Kirche in ihrer historisch gewordenen Form letztlich irreformabel?
Zwischen Zeichenhandlungen und wirklicher Reform klafft noch ein großer Spalt.
Wenn beim Tode Johannes XXIII. nachsichtig auf die Grenzen der Reformmöglichkeiten des Papstes hingewiesen wurde, so gibt dies, denke ich, einen Fingerzeig. Die Öffentlichkeit, aber auch wir Theologen und Theologinnen, die sich eine Erneuerung der Kirche wünschen, sind schon begeistert, wenn ein Papst Zeichen der Reform und Erneuerung setzt. Aber zwischen Zeichenhandlungen und wirklicher Reform klafft noch ein großer Spalt.
(Bild: Dnalor_01, Wikimedia Commons: CC-BY-SA 3.0)