Im Juli 2020 bewarb er sich für mehrere Jobs: als Putzkraft, Kellner, Zusteller und Servicemitarbeiter. Er wollte unbedingt raus aus dem kirchlichen Milieu, um etwas anderes zu erleben und um bislang unbekannte Erfahrungen zu sammeln. Ein Bericht von Dalibor Milas.
Nachdem die Arbeitgeber meine Unterlagen durchsahen, reagierten sie stets skeptisch. Mit hochgezogenen Augenbrauen meinten sie: „Ein Priester als Putzkraft/Zusteller/Kellner? Was soll das?“ Ich hätte ihnen gerne geantwortet, dass ich nicht ausschließlich ein Priester bin, sondern auch ein Mensch, wie jeder andere, mit zahlreichen Facetten, und daher auch in keine feste Schublade oder Kategorie gesteckt werden kann. Die Frage war aber stets rhetorisch gemeint, eine Erklärung blieb aus. Von meinem Glauben spreche ich nicht, außer ich werde wirklich danach gefragt. Ich versuche so zu leben, dass man mich nach dem Warum fragt. Das ist eine Devise, die mich hoffen und leben lässt.
Ein Priester als Kellner? Was soll das?
Obwohl ich für die Jobs rein körperlich durchaus geeignet gewesen wäre, wurde ich ständig abgelehnt. Natürlich kann ich das irgendwie nachvollziehen, denn es ist nicht einfach, die Person von der Organisation, welche sie vertritt, zu trennen. Also beschloss ich, meine Bewerbungstaktik zu ändern und das Faktum, dass ich ein Priester bin, für mich zu behalten. Und es klappte. Innerhalb eines Tages bekam ich zwei Angebote: als Teilzeitbeschäftigter in einer Reinigungsfirma und als Servicemitarbeiter in einem Lokal in Graz.
Die Zeit im Lokal war viel spannender als das Fensterputzen – soviel muss ich zugeben. Der Manager des Cafés, ein gebürtiger Grazer, ist ein netter und kompetenter Mensch. Sein Vater eröffnete einst das berühmte Lokal und führte es über die Jahre sehr erfolgreich. Für den jungen Manager, der jahrelang im Ausland studiert hatte, ist es nicht einfach, aus dem Schatten seines Vaters zu treten. Besonders schwierig ist das, wenn der Vater seinen Ruhestand nicht genießen kann, sondern jeden Tag durchs Lokal rennt und kontrolliert, als ob er immer noch das letzte Wort hätte. Der Manager hat mich selbst eingeschult und geduldig erklärt, wie die Dinge hier laufen.
Ich bin zwar geprüfter Barista, habe aber keine abgeschlossene Ausbildung zur Restaurantkraft. Zu meinen täglichen Aufgaben gehörten z. B. die Bedienung der Gäste am Tisch sowie das Servieren der Gerichte und Getränke genauso wie Hilfstätigkeiten in der Küche und die ganze Logistik im Mittagsbuffetbereich. Also (fast) alles, was ich damals nicht konnte. Als Servicemitarbeiter übernimmt man viele Aufgaben eines Kellners, einer Kellnerin und steht allen Kolleginnen und Kollegen, wenn sie Unterstützung benötigen, zur Verfügung.
Man solle niemandem vertrauen, der Kellner:innen schlecht behandelt.
Der erste Tag war der turbulenteste und ich lernte meine neuen Kolleg:innen sehr rasch kennen. Es hieß gleich: „Schnell bitte die Suppe zu Tisch 36! Nein, das ist Tisch 20. Geh in die Küche und bring noch Salat!“ Gemäß dem Sprichwort „Der Kunde, die Kundin ist König:in“ muss man auch den Kund:innen zu jeder Zeit den bestmöglichen Service bieten. Am ersten Tag habe ich die Suppe verschüttet, zweimal den Gästen falsche Bestellungen serviert und viele weitere Fehler begangen. Dort konnte ich endlich verstehen, was der Ausspruch bedeutet, man solle niemandem vertrauen, der Kellner:innen und Servicemitarbeiter:innen schlecht behandelt.
Schon in den ersten Tagen konnte ich so einiges miterleben: im Kommandoton sprechende Gäste, Ausgelachtwerden, versteckte Anspielungen oder dass so getan wurde, als wäre ich unsichtbar. Ich fühlte mich wie ein Diener, der für die 50 Cent Trinkgeld, mit denen man schon gönnerhaft in der Tasche klimpert, gefälligst auf dem Boden zu kriechen hätte. Und wehe, irgendetwas passt nicht. Vor allem am Abend, wenn der Alkohol floss und den letzten Schein von Anstand wegspülte, war die Lage meist noch schlimmer.
Die Kolleg:innen: Alle waren Ausländer:innen.
Während der Arbeitszeit konnte ich aber glücklicherweise meine neuen Kolleg:innen besser kennenlernen. Wenn es uns nicht gut geht, ist das Gefühl des Zusammenhalts, von Wärme und Verständnis besonders wichtig. Obwohl ich anfangs sehr ungeschickt war, standen mir meine Kolleg:innen zur Seite, gaben mir Tipps und übernahmen sogar meine Aufgaben, obwohl ich für sie zuvor eigentlich ein Niemand war. Ganz interessant war auch, dass wir alle Ausländer:innen waren. Wir mussten alle unsere Heimat aus verschiedenen Gründen verlassen und sind nach Österreich emigriert. Migration ist keine einfache Angelegenheit und fühlt sich an, als müsste man beim Spiel des Lebens wieder zurück an den Start.
Sie wollten fast nie etwas über die Kirche wissen, manchmal aber über Gott, doch meistens sprachen sie über ihr eigenes Leben. „F., warum bist du hier? Wieso suchst du dir nicht etwas Besseres?“, habe ich nach einem Schichtdienst meinen Kollegen, einen 23-jährigen Nordmazedonier, gefragt. „Brate [Bruder], gerne, aber wie? Ich habe keine Perspektive. Ich bin hier allein. Ich wollte hier zuerst nur für zwei bis drei Monate arbeiten, bis ich etwas verdiene und etwas Besseres finde, und vielleicht würde ich noch etwas studieren, aber das ist schon drei Jahre her. Ich arbeite, esse und schlafe. Ich habe kaum Zeit für ein normales Leben. Das könnte ein Grund sein, warum ich älter ausschaue, als ich bin. (Lacht).“ Trotz allem war F. immer zuverlässig, effizient und stets gut gelaunt. Mit der Zeit konnte ich F. motivieren zu kündigen, einen besseren Job zu finden und sich zum Studium zu inskribieren.
Sie wollten fast nie etwas über die Kirche wissen, manchmal aber über Gott, doch meistens sprachen sie über ihr eigenes Leben.
Mein Kollege M. ist der Chefkoch. Er ist 53 Jahre alt und war anfangs stets schlecht gelaunt und grantig. Als wir einmal die Gerichte fürs Mittagessen bereitet haben, sagte er zu mir: „Wozu brauchen die Menschen Kirche und Religion überhaupt? Damit sie uns vorlügen, im Leben nach dem Tod würde alles besser, weil sie dann beim Christkind auf Wolke sieben sitzen und die Harfe zupfen dürfen? Denn die genährte Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod macht Ungerechtigkeit und Leid im realen Leben erträglicher. Nein, ich glaube nicht an Gott, an keinen Gott.“ Seine Worte brachten mich wirklich zum Nachdenken. Obwohl er keine Sympathie für die Kirche empfand, bemühte er sich wirklich, mit mir höflicher umzugehen.
Eines Tages schnitt ich in der Küche in aller Ruhe Salat, um ca. 60 Portionen fürs Mittagessen vorzubereiten. Der Chefkoch war schon mit dem Hauptgericht beschäftigt und ich wollte ihn bei dieser Aufgabe nicht stören. Da beginnt er plötzlich ein Gespräch: „Dalibor, du hast gesagt, dass du im Augustinum tätig bist. Das heißt, du bist ein Ordensmönch? Ein Augustiner, oder?“ „Nein, ich bin kein Augustiner. Ich bin ein ganz normaler Priester.“ „Und du hast die Bibel studiert?“ „Ja, ein bisschen. Die Bibel muss man ständig studieren.“ Er holte dann ein kleines altes Buch aus dem Regal, das Evangelium nach Johannes, und fuhr fort: „Hier steht, dass Jesus gekommen ist, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Was ist ein Leben in Fülle? Für wen ist das gedacht?“ „Ich glaube, Jesus denkt da an ein erfülltes Leben und das ist für alle gedacht.“
„Du hast gesagt, das Leben in Fülle ist für alle gedacht. Wann bin ich dran?“
Stille trat ein. Als ich mit dem Salat fertig war, bereitete ich alles für das Mittagsbuffet vor. Nach zehn Minuten war ich wieder in der Küche zurück und M. war mit der Zubereitung des Essens fast fertig. „Du hast letzte Woche F. gefragt, warum er immer noch hier ist. Was denkst du, warum ich hier bin?“ Daraufhin erzählte er mir seine Lebensgeschichte: Er war einmal sehr erfolgreich und besaß zwei Restaurants. Nach einer falschen Entscheidung ging plötzlich alles schief. Er ging pleite und seine Familie verließ ihn. Nun ist er alleine mit großen Schulden. Jetzt wurde mir klar, warum er stets schlecht gelaunt war.
Am Ende seiner Erzählung stellte er mir noch eine letzte Frage, auf die ich keine Antwort wusste: „Du hast gesagt, das Leben in Fülle ist für alle gedacht. Wann bin ich dran? Wo ist das Leben in Fülle für mich?“ Einige Zeit ist nun schon seit diesem Gespräch vergangen und ich habe immer noch keine Antwort für ihn, aber für M. war es wichtig, dass er endlich seine Geschichte erzählen konnte. Seit dem Gespräch legte sich aber seine schlechte Laune ein wenig. Er wurde, so schien mir, irgendwie ruhiger.
Mit der Arbeit im Lokal habe ich nicht begonnen, weil ich etwas für andere machen wollte, ich hätte auch nicht gewusst, was sie davon hätten, sondern um mir etwas Gutes zu tun. Aber ich habe begriffen, dass es mein Auftrag ist, mitten unter den Menschen zu sein.
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Dalibor Milas, Dr. theol., ist Spiritual im Campus Pastoralteam des Augustinum, Bischöflicher Campus für Bildung und Berufung, Graz.
Von ihm bereits auf feinschwarz erschienen:
https://www.feinschwarz.net/das-evangelium-nach-martin/
Photo: Christos Vittoratos (Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.)