Reinhold Boschki über historische und gegenwärtige Judenfeindschaft am Beispiel der Universitätsstadt Tübingen.
Der Gründer der Universität Tübingen war im Blick auf seine Judenfeindschaft eine äußerst problematische Figur, was erst jüngst wieder breiter diskutiert wird. In der Gründungsurkunde der Universität verfügte er gleichzeitig die Ausweisung aller Jüdinnen und Juden aus Tübingen. Ein Blick auf die religiöse Landschaft dieser Stadt und auf die gegenwärtige Lage des Antisemitismus soll zu einer „Mystik der offenen Augen“ (Johann Baptist Metz) provozieren.
Regelmäßig unternehme ich mit meinen Studierenden „interreligiöse Stadterkundungen“ in Tübingen, die für die angehenden Theolog:innen als Eye-Opener dienen sollen – in diesem Coronasemester leider nur virtuell. Wir besuchen vier sakrale Orte in der Stadt, erkläre ich im Voraus, verrate aber nicht welche. Nach fünfzehn Minuten Spaziergang stehen wir vor einem ganz normalen, nichtssagenden Wohnhaus. Alle schauen verdutzt, wenn ich verkünde, wir seien am ersten Ort angekommen.
Die Synagoge: ein Nicht-Ort, ein vernichteter Ort
Nach und nach entdecken die Teilnehmer:innen Hinweistafeln: „Hier stand die ehemalige Synagoge.“ Der erst sakrale Ort ist ein Nicht-Ort, genauer gesagt, ein vernichteter Ort. Es gibt ihn seit der Pogromnacht im November 1938 nicht mehr. In jener unsäglichen Nacht wurde zunächst das Innere des jüdischen Gotteshauses verwüstet, die Inneinrichtung zerschlagen, die Torahrollen herausgerissen, zertrampelt und schließlich in den vorbeifließenden Neckar geworfen. In der gleichen Nacht brannte die ganze Synagoge lichterloh.
Wie gerne würde ich mit meinen Studierenden anklopfen, den Rabbiner aufsuchen, der uns über seine Art zu glauben, zu beten, zu denken und zu leben erzählen könnte. Oder jüdische Jugendliche befragen, wie sie ihren Alltag hier in dieser Stadt gestalten. Es gibt sie als Gemeinde nicht mehr und nicht wieder.
Universitätsgründer Graf Eberhard wollte eine „judenreine“ Stadt
Am zweiten Ort befinden wir uns in der über die Dächer der Altstadt erhabenen Stiftskirche, deren Inneres geräumig und lichtvoll gestaltet ist. Ganz vorne, im abgetrennten Chorraum, ruht der Gründer der Universität Tübingen, Graf Eberhard im Barte. Seine Skulptur auf der Grabplatte zeigt ihn mit gefalteten Händen. In der Tat war er sehr fromm, doch seine christliche Frömmigkeit war gepaart mit einer aggressiven Ablehnung des Judentums. Im Dokument zur Gründung der Universität 1477 ließ er gleichzeitig alle Jüdinnen und Juden der Stadt verweisen. Graf Eberhard wollte eine, wie man später sagte, „judenreine“ Stadt, in der man ungestört lehren und forschen könnte, was bis ins 19. Jahrhundert seine Geltung behielt.
Die Begegnung mit der Geschichte sensibilisiert für die heutige Situation. Entgegen der Diagnose des Antisemitismusberichts der deutschen Bundesregierung im Jahr 2017, der noch einen „Rückgang“ antisemitischer Vorfälle diagnostizierte, ist Antisemitismus in den vergangenen Jahren weltweit stark ansteigend. Vor allem wurde das Internet zur Plattform judenfeindlicher Äußerungen.
Das Internet wurde zur Plattform judenfeindlicher Äußerungen
Wie die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel mit ihrem Team herausgefunden hat, sind antijüdische Motive, Sprüche, Einstellungen auch auf Mainstreamseiten zu finden. Wer beispielsweise in Suchmaschinen wie Google nach harmlosen Begriffen sucht wie „Pessach“, „Purimfest“, „Juden“, „Judentum“, „Holocaust“, „Israel“ etc., stößt in Bruchteilen von Sekunden auf antisemitische Inhalte. Auch in Suchportalen wie „Gutefrage.net“, „Hausaufgaben.de“, in den Kommentarspalten von Mainstream-Online-Medien oder in Foren, auf Youtube, Facebook, WhatsApp, Instagram und vielen anderen Alltagskanälen finden sich zuhauf antijüdische Motive.[1]
Kein Wunder, dass auf Schulhöfen wie selbstverständlich judenfeindliche Schimpfwörter zu hören sind, dass Fehl- und Desinformationen über das Judentum in den Köpfen vieler Menschen hartnäckig stecken. Mehr noch, solche Einstellungen manifestieren sich am Ende in konkreten Straftaten, in Beschimpfungen und Beleidigungen jüdischer Mitschüler:innen, in tätlichen Angriffen von kippatragenden Personen auf der Straße, in Sachbeschädigungen, Schmiereinen, Brandanschlägen. Die Angst geht um, dass die Türen zu Synagogen nicht immer so halten wie in Halle an Jom Kippur 2019.
Fehl- und Desinformationen über das Judentum halten sich hartnäckig in den Köpfen
Oft genug, wie während des jüngsten Israel-Palästinakriegs im Mai 2021, paaren sich alte Motive des Judenhasses mit israelbezogenem Antisemitismus, der hierzulande keineswegs nur „importiert“ ist, wie viele behaupten, also „nur“ ein Problem von Migration aus arabischen Ländern sei. Muslimischer Antisemitismus ist ein ernsthaftes Problem, das bearbeitet werden muss, aber der in der Mitte der Gesellschaft verwurzelte Antisemitismus bleibt genauso ein Problem.
Dabei hilft der international geführte, heftige Streit um die Definition des Antisemitismus nur bedingt weiter. Die von mehr als 50 Staaten anerkannte sog. „Arbeitsdefinition“ des Antisemitismus, die die „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA)[2] vorgelegt hat, wurde inzwischen mehrfach kritisiert, zuletzt durch die sog. „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ (JDA)[3]. Im Kern geht es um die Bedeutung des israelkritischen Antisemitismus. Nicht jede Kritik an Israel ist „per se antisemitisch“, wie die JDA mehrfach schreibt. Dem ist voll und ganz zuzustimmen. Dennoch hat auch die JDA ihre Schattenseiten, denn selbst sie klärt nicht, welche Formen von Israelkritik berechtigt, welche antisemitisch seien, weil sie auf alle Jüdinnen und Juden ausgeweitet werden.
Definitionen helfen im alltäglichen Kampf gegen Judenfeindschaft kaum weiter
Doch, wie gesagt, Definitionen helfen im alltäglichen Kampf gegen Judenfeindschaft kaum weiter. Viel wichtiger scheint mir, dass sich alle gesellschaftlichen Bereiche wie Politik, Bildung, Journalistik, Recht ebenso wie alle wissenschaftlichen Disziplinen um kritische und selbstkritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus bemühen.
Dabei ist meine eigenen Zunft durchaus in der Bringschuld. An theologischen Fakultäten wird selten zum Antisemitismus intensiv geforscht oder gelehrt. Überhaupt ist die Beschäftigung mit dem Judentum aus theologischer Perspektive – und zwar nicht nur mit dem biblischen Israel, sondern ausdrücklich auch mit geschichtlichem und gegenwärtigem jüdischen Leben – eher selten, was ein vergleichender Blick in die Modulhandbücher belegen kann. Echte Expertise zu Judentum und Antisemitismus sieht anders aus.
An theologischen Fakultäten wird selten zum Antisemitismus intensiv geforscht oder gelehrt
Ach ja, welche sind die zwei weiteren sakralen Orte der „interreligiösen Stadterkundung“, von der eingangs die Rede war? Die katholische Kirche St. Johannes und eine kleine Moschee, ein muslimischer Betsaal, der in einem Wohnhaus am Rande der Altstadt eingerichtet wurde. Auf Socken werden wir dort von dem Imam und weiteren Verantwortlichen der muslimischen Gemeinde gastfreundlich empfangen. Sie erzählen uns von muslimischem Glauben und Leben in dieser Gesellschaft, aber auch von Anfeindungen, Hassmails und alltäglichen Vorurteilen, mit denen sie konfrontiert sind.
Judenhass und Feindschaft gegen Muslime gleichermaßen entgegentreten.
Die Erfahrung des Nicht-Ortes der Synagoge hatte vielen von uns die Augen geöffnet, um den Gefahren des Judenhasses und der Feindschaft gegen Muslime gleichermaßen entgegenzutreten.
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Reinhold Boschki ist Professor für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen und Leiter des dortigen Zentrums für berufsorientierte Religionspädagogik KIBOR.
Bild: Astrid Kimmig
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[1] Monika Schwarz-Friesel, Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, Leipzig 2019, insbes. S. 93-108
[2] https://www.holocaustremembrance.com/antisemitism
[3] https://jerusalemdeclaration.org/