„Ein Friedenspreisträger soll nicht zum Krieg aufrufen. Aber darf er zum Gebet aufrufen?“ Diese Frage hat sich Navid Kermani in seiner Rede vergangenen Sonntag in der Frankfurter Paulskirche selbst gestellt. Was dann kam, ist ebenso umstritten wie symbolträchtig. (Michael Schüßler)
Kermani sprach zuerst über Syrien, die Gewalt des IS und jene Jesuiten, die sich für muslimisches Leben vor Ort engagieren. Doch er ließ seine Rede nicht mit guten Ratschlägen enden, oder einer süffisanten Pointe, sondern tatsächlich mit der Einladung zum gemeinsamen Gebet. Seitdem wird diskutiert, ob das eine ganz hervorragende oder eine hoch problematische Idee war.
Der Quellcode religiöser Traditionen ist unhintergehbar freigegeben.
Vor aller Bewertung macht dieses öffentliche Gebet ein Zeichen unser Gegenwart deutlich: Der Zugriff auf die Archivbestände der Religionen ist von seinen Nutzungsbedingungen her faktisch auf „open source“ umgestellt worden. Der Quellcode religiöser Tradition ist unhintergehbar freigegeben. Und das beunruhigt die vertrauten Konstellationen der alten Moderne.
Die Kirchen haben als ehemalige Monopolisten ihre hegemonialen Rechte in Sachen religiöser Rede verloren. Der Quellcode ihrer Traditionen wird situativ, existenziell und öffentlich weiter nachgefragt, aber der institutionelle Urheberschutz scheint ausgelaufen. Die religiöse Situation der Gegenwart zeigt, dass sich heute potenziell jeder über Bekenntnisschranken hinweg auf Kernelemente des Religiösen beziehen kann, ohne dass eine ekklesiale Kontrollinstanz dazwischen geschaltet wäre. Dass auch christliche Religionsbestände frei geben sind, dass sich jemand wie Navid Kermani reflektiert und höchst öffentlichkeitswirksam mit christlicher Sakralkunst beschäftigt, das hat die Katholische Kirche schon bei der Verleihung des Hessischen Kulturpreises höchst beunruhigt.
Doch irritiert sind nicht die Kirchen allein. Auch die Vertreter der aufgeklärten, säkularen Öffentlichkeit sind besorgt. Das öffentliche Gebet von Kermani hat die Präsenz von Religion in unsere postsäkulare Gegenwart für alle sichtbar gemacht. Religion ist zwar säkular relativiert (open source), aber keineswegs verschwunden. Genau das beunruhigt den anderen, säkularen Teil der alten Moderne. Im Feuilleton der SZ hält Johann Schloemann (SZ vom 20.102015) den Wechsel von Kermanis öffentlicher Rede ins „Register Gebet“ für einen „unerträglicher Übergriff“. Niemand hätte der kollektiven Andacht entkommen können. Auch wenn es menschenfreundlich gemeint war, mit diesem öffentlichen Gebet drohe man sich „jener Beschwörung einer politischen Theologie anzugleichen, die er (Kermani, M.S.) dem radikalen Islam als Übergriff vorwirft“.
Schloemann verweist auf die Paulskirchenrede von Jürgen Habermas aus dem Jahr 2001. Kermani habe den von Habermas damals definierten Standard unterlaufen, wonach Demokratien „ihre religiöse Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssten“. Aber sind religiöse Enthaltsamkeit oder die Übersetzung in säkulare Sprache wirklich das Gebot der Stunde? Der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor hat Habermas bei einer Diskussion in New York an genau dieser Stelle widersprochen. Dass dem säkularen Europa der Bezug auf Transzendenz befremdlich, sogar bedrohlich erscheint, das liege nicht nur an den Konflikten der liberalen Demokratien mit Religion. Das liege auch an „einer spezifisch erkenntnistheoretischen Unterscheidung, der zufolge religiös geprägtes Denken weniger rational ist als der rein ‚säkulare‘ Vernunftgebrauch“ (Eduardo Mendieta / Jonathan Antwerpen (Hg.), Religion und Öffentlichkeit, Berlin 2012, 78).
Taylor bezweifelt das. Die Grenzen auf dem Weg in eine humane Zukunft verlaufen nicht mehr allein zwischen säkularer Vernunft und Religion. Vielmehr wird zu einer entscheidenden Frage, wie Transzendenzbezug und immanente Lebensgestaltung miteinander ins Verhältnis gesetzt werden. Die wirklich wichtigen Auseinandersetzungen drehen sich nicht mehr darum, ob es Gott „gibt“, sondern um die praktische Frage, wie ein Verhältnis zum Heiligen formatiert werden sollte: mit welchen Folgen für die Gesellschaft, das Leben der anderen – und für einen selbst. Genau das thematisiert die Friedenpreisrede. Führt der Bezug auf Religion wie beim IS zu fanatischer Gewalt, die alles Andere und Konkurrierende tötet, andere Religionen, Zeugnisse andere Kulturen, andere Menschenleben? Oder führt sie wie im Fall der Jesuiten in Syrien und jener Muslime, die ihr Leben zu deren Rettung aufs Spiel gesetzt haben, zu einer Hingabe, die das Leben des Anderen nicht vernichtet, sondern ermöglicht.
Genau an dieser Stelle seiner Rede hat Kermani das Register gewechselt. Kritische Aufmerksamkeit ist da immer geboten. Die Stimmen, die jetzt vor Religion warnen, sind nicht überflüssig, denn der Bezug auf etwas Absolutes bleibt immer ambivalent. Doch in diesem Fall kann man wohl Entwarnung geben.
Dieses Gebet war keine Demonstration religiöser Macht. Es war der Versuch, einer Ohnmacht … Ausdruck zu verleihen.
Wer sich das Video der Rede aufmerksam ansieht, der hört gut abgewägte Worte, mit denen Kermani die Möglichkeit des Gebets einführt. Er markiert den Übergang der Redeweisen, weißt auf die Pluralität an Weltanschauungen hin und lässt deshalb in aller Freiheit offen, was in dieser Minute des Schweigens passiert.
„Und wenn sie nicht religiös sind, dann seien sie doch mit ihren Wünschen bei den Entführten und auch bei Pater Jacques, der mit sich hadert, weil nur er befreit worden ist. Was sind denn Gebete anderes als Wünsche, die an Gott gerichtet sind. Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder ohne Gott in unserer Welt wirken. Ohne Wünsche hätte die Menschheit keinen der Steine auf den anderen gelegt, die sie in Kriegen so leichtfertig zertrümmert.“
Dieses Gebet war keine Demonstration religiöser Macht. Es war der Versuch, einer Ohnmacht angesichts der Gewalt in Syrien Ausdruck zu verleihen. Es war Ausdruck und solidarische Würdigung jener Verletzbarkeit, in der die Menschen in Syrien leben, Muslime wie Christen. Genau für diese ohnmächtige Solidarität wären die Archive der Religionen heute zu gebrauchen. Es gilt, was Kermani gesagt hat: Ein Friedenspreisträger sollte nicht zum Krieg aufrufen. Doch er darf zum offenen Gebet aufrufen, gerade wenn es aus Ohnmacht und Friedenssehnsucht gesprochen wird und damit die Alternative des Krieges suspendiert.