Nach der Übersetzung des Buchs von John D. Caputo, The Folly of God, im Frühjahr 2022 im Grünewald Verlag erschienen, haben Herbert Rochlitz und Helena Rimmele den Autor im März 2023 in Philadelphia (USA) besucht. Im Folgenden erzählen sie von ihren Eindrücken und erläutern mit Ausschnitten aus einem dort aufgezeichneten Interview wesentliche Gedanken der herausfordernden Philosophie und Theologie Caputos.
Diese Reise war tatsächlich ein Geschenk und wir sind froh, dass wir es gewagt haben! Wir hatten die einmalige Chance, die Lebens- und Arbeitsumgebung von John D. Caputo kennenzulernen. Mit 82 Jahren ist er ungeheuer fit und energiegeladen und er ließ uns teilhaben an seiner Sicht auf die gesellschaftliche und politische Situation in den USA und nicht zuletzt an seinen Gedanken über die katholische Kirche. Fasziniert stellten wir fest, wie er seit dem Erscheinen seines von uns übersetzen Buchs sein Themenspektrum erweitert und vertieft hat.
Ein wesentliches Element seines Nachdenkens über Gott ist seine Aussage: Gott ist schwach, ein Kerngedanke des Buchs „The Folly of God“. Er existiert nicht als Höchstes Wesen und ereignet sich in dieser Welt als Ruf. „God doesn’t exist, he/she/it insists” ist eines seiner zentralen Themen. Das ist der Ausgangspunkt des Interviews.
Die Schwäche Gottes ruft nach der Stärke der Menschen.
Rimmele & Rochlitz: Gott existiert nicht, er oder sie insistiert. Und die Menschheit ist taub, sie überhört den Ruf. Wir ruinieren diese Welt und tun bei weitem zu wenig um den Klimawandel zu bekämpfen. Der schwache Gott hat schwache Menschen erschaffen. Haben Sie einen hoffnungsvollen oder optimistischen Gedanken, der uns hilft, das zu ertragen?
Caputo: Wenn ich von der Schwachheit Gottes spreche, dann befürworte ich nicht die Schwäche der Menschen. Die Schwäche Gottes ruft geradezu nach der Stärke der Menschen als Antwort auf seinen Ruf. Ich bin nicht gegen Stärke, ich hoffe auf die Kraft der Guten. Ich möchte die Idee eines Gottes entmystifizieren, der uns beschützt und für uns interveniert, wenn wir nur hartnäckig genug beten und Opfer bringen. Das ist ein magischer Glaube. „Gott“ ist nicht der Name von „Jemandem“, es ist der Name eines Rufs, der uns aufruft zu antworten und uns für die Schwachen und Unterdrückten einzusetzen, einzustehen für Gerechtigkeit. Das ist unsere Verantwortung. Wir müssen Teil der Geschichte Gottes werden, die menschliche Geschichte ist unsere Antwort auf diesen Ruf. Wir beten: Dein Reich komme. Aber wir müssen dafür sorgen, dass es kommt. Wir müssen auf den Ruf antworten, uns für die Witwen und Waisen stark machen. Gott wird nicht all die Plastikflaschen aus dem Meer fischen. Das müssen schon wir tun.
Rimmele & Rochlitz: Im Folgenden spricht Caputo dann über dieses „Höchste Wesen“ und über unsere Vorstellungen von Gott. Kann man ihn/sie ansprechen? Wie ist das mit dem Gebet? Und er warnt gleichsam vor seinen nun folgenden Gedanken:
Caputo: Und jetzt kommt eine Häresie. Vielleicht sollten manche Menschen sich die Ohren zuhalten. „Gott“ ist eine Konstruktion unserer Vorstellungskraft, von all dem was wir hoffen, glauben, lieben und verehren. Das „Höchste Wesen“ ist eine Personifikation. Wenn du eine Pflanze hast, die du dein ganzes Leben lang gepflegt hast, dann sprichst du vielleicht manchmal mit ihr, wenn niemand in der Nähe ist: Wie geht es dir? Das ist eine Personifikation, aber sie ist real. Nicht wirklich in dem Sinn, dass da tatsächlich jemand ist. Es ist eine Art und Weise echten Kontakts mit einem natürlichen Objekt, einem Teil der Schöpfung herzustellen. Gebet, also das Sprechen zu Gott als „Jemandem“, ist sehr wertvoll und unverzichtbar, aber es ist eine Personifikation. Dieser „Jemand“ wird nichts für dich tun.
Die Fragen der Menschen verdienen eine Antwort.
Rimmele & Rochlitz: In der Auseinandersetzung mit diesem Gottesbild Caputos und im Gespräch mit Menschen, mit denen wir darüber diskutieren, merken wir (auch bei uns selbst), wie schwer es ist, einen Gott jenseits der geprägten Bilder zu denken. Caputo erzählt, dass er als junger Philosoph und Lehrer seiner Mutter gesagt habe, dass der Rosenkranz eine mittelalterliche Erfindung sei und nichts, was die Jungfrau Maria den Gläubigen gegeben habe. Seine Mutter war entsetzt. Damals habe er den Vorsatz gefasst, so etwas nie wieder zu sagen.
Caputo: Störe ihr sinnerfülltes Leben nicht, verwirre sie nicht. Das sind alles Ergebnisse einer kreativen Vorstellungskraft, all die katholischen Glaubenssätze, all die Geschichten aus dem Neuen Testament, alle Bilder im Haus. Ich werde diesen Symbolismus nicht stören. All das gab ihrem Leben und dem meines Vaters Bedeutung und Sinn. Aber die Welt dreht sich weiter und es gibt immer weniger Menschen wie meine Eltern. Immer mehr Menschen zweifeln und haben Fragen. Ihre Fragen verdienen eine Antwort.
Rimmele & Rochlitz: Aber was ist mit Menschen, die geplagt sind und denen unerträglich Schweres zugemutet wird. Ihnen möchte man tröstende Worte sagen: „Gott hält dich und er/sie wird dir Kraft geben, das zu ertragen und zu überwinden“. Wir fragen Prof. Caputo, was er zu diesem eher mütterlichen Gottesbild sagt. Caputo erzählt von einem jungen Mann, der nach einer Veranstaltung zu ihm kam und von einer Situation in dem Hospiz berichtete, in dem er als Seelsorger arbeitet. Dort erzählte er einer Patientin, die künstlich ernährt wurde, vom himmlischen Hochzeitsmahl. Und er sagte: Ich kann so nicht mehr reden. Ich glaube das nicht mehr.
Caputo: Ich fragte: „Und was machen Sie jetzt?“ Er antwortete: „Ich halte einfach ihre Hand. Manchmal sage ich einfach nichts. Manchmal reden wir und erinnern uns an die alten Zeiten.“ Diese Beieinandersein – das ist es, was im Namen Gottes geschieht. Das ist das Ereignis. So sollte man mit so einer Situation umgehen. Einfach die Hand halten. Und das ist einer der Gründe warum ich Philosoph und Professor geworden bin und kein Doktor oder Seelsorger. In so einer Situation wollte ich nicht sein.
Offenheit für das Ereignis
Rimmele & Rochlitz: Einer der zentralen Begriffe im Buch ist das „Event“. Gott ereignet sich. Wir beschreiben, dass Kirchenmenschen eher negativ über ein „Event“ sprechen. Es ist „nur ein Event“, oberflächlich, vergänglich, wir hören es oft als Vorwurf, z.B. wenn wir einen Kirchenraum flexibler nutzen und für Kunst, Kultur und Soziales öffnen. Wir fragen Prof. Caputo nach seiner Einschätzung. Wie gehen wir mit diesem Widerstand um? Wie können wir Menschen ermutigen das Ereignis, das Neue und Riskante zuzulassen?
Caputo: Wenn du nicht offen bist für das Ereignis, reproduzierst du beständig die Vergangenheit anstatt dir die Erlaubnis zu geben in Bewegung und vorwärts zu kommen. Ohne die Offenheit für das Ereignis hätte es kein Christentum gegeben, weil dafür der Bruch mit dem traditionellen Judentum nötig war. „Ereignis“ ist, wie die Dinge geschehen. „Events“ sind riskant, weil du dich für etwas Unvorhergesehenes und Anderes öffnest. Es kann in einem Desaster enden. Wir haben Donald Trump nicht vorhergesehen. Er war ein Ereignis, aber er war eben auch ein Desaster.
Videoaufnahme des Gesprächs mit John D. Caputo
Rimmele & Rochlitz: Caputo spricht über “Tradition” im katholischen Sinn. Für ihn ist Tradition richtig verstanden nicht gleichbedeutend mit Vergangenheit. Gemeint ist der Prozess des Weitergebens, des Weiterentwickelns. Es sei zutiefst antikatholisch, diese Bewegung der Tradition zu blockieren. An dieser Stelle sagt er auch, dass Pfingsten das wichtigste Fest der Christenheit sei (nicht Ostern). Der Geist ist nun zur Welt gekommen und er spricht durch das Volk Gottes.
Caputo: Der Geist spricht zu uns. Er sagt: Nein, nein, nein, so kannst du Frauen nicht behandeln… Es gibt eine Diversität der menschlichen Erfahrung, eine Diversität der Formen der Liebe… Der Geist spricht und wir hören nicht. Zumindest hören viele nicht. Wenn sie hören würden, wäre die Kirche wirklich Kirche, eine Gemeinschaft, in der der Geist sich ereignet. Das ist für mich „Event“. Das bricht nicht mit der Vergangenheit. Es greift etwas Unerhörtes aus der Vergangenheit auf. Jetzt kommt die Vergangenheit aus der Zukunft zu uns.
Über das Gebet Rechenschaft ablegen
Rimmele & Rochlitz: Nach den intensiven Gesprächen während unseres Aufenthalts in Philadelphia trauen wir uns nach seiner persönlichen Spiritualität zu fragen. Was gibt ihm Halt im Leben? Der erste Satz seiner Antwort ist: „Prayer! I pray like mad!“ Er erzählt von den vier Jahren, die er als junger Mann im Kloster bei den De La Salle Brothers gelebt hat. Dort hat er eine meditative Spiritualität gelernt und geübt und er hat das nie verloren. Aus dieser Zeit stammt auch sein Morgenritual. Mit dem Glockenschlag ist er wach, holt sich einen Kaffee und geht nach draußen und geht…
Caputo: Es gibt da eine Stelle am Meer… Der Ozean ist für mich der „Seinsgrund“. Für manche Menschen sind das die Berge, für mich ist es das Meer. Alles was du da hörst, ist das Wasser, die Wellen. Und wenn du Glück hast und es ist eine klare Nacht, dann ist da der Vollmond und sein Lichtstrahl durchquert das Wasser und erreicht genau dich… Ich mache mich nicht lustig über das fürbittende Gebet… doch manchmal tue ich das, wenn Menschen für den Sieg ihrer Fußballmannschaft beten. Fürbittgebete sind ernsthafte Gebete, aber für mich ist das meditative Gebet wichtig, in dem du das hast, was Heidegger „Offenheit“ nennt. Dann überwinde ich die Sicht auf die Welt als ein „Objekt“, das getrennt von mir als „Subjekt“ ist – ich bin eins und spüre Frieden. In solchen Momenten bist du einfach offen für das Dasein. Wenn du so etwas nicht hast, fehlt dir etwas. Dann geht das Leben einfach so vorbei. Man kann nicht ernsthaft über Gott sprechen, wenn man nicht über das Gebet Rechenschaft ablegt.
Rimmele & Rochlitz: „Die Torheit Gottes“ (und eben auch die Religion) hat immer auch etwas „Verrücktes“: Auch wir haben etwas Verrücktes gewagt, indem wir einfach so dieses Buch übersetzt haben. Es hat sich gelohnt, denn es hat uns fasziniert, herausgefordert, verändert. Und es hat Kreise gezogen, in unserer Gemeinde und darüber hinaus. Auch unsere Reise in die USA mit der intensiven Begegnung mit John D. Caputo und seinem Leben hatte etwas „Verrücktes“, etwas ungeheuer Inspirierendes, Berührendes und zugleich Warmherziges. Davon wollten wir in diesem Artikel einen kleinen Eindruck vermitteln. Wer sich für das ausführliche Interview interessiert findet es in englischer Sprache auf YouTube (Link), Caputos Antworten z.B. auf die Frage nach Auferstehung, Schöpfung und seine Empfehlungen für eine Revolution in der katholischen Kirche.
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John D. Caputo hat sich als Philosoph und Theologe mit dem Verhältnis von Christentum und Postmoderne, insbesondere mit Jacques Derrida, beschäftigt. Der Dialog mit der postmodernen Gegenwartskultur und mit atheistischen und agnostischen Denkansätzen ist ihm ein Anliegen. Er war Professor an der Universität von Villanova (Pennsylvania) und an der Universität von Syracuse (New York). Zuletzt ist in deutscher Übersetzung erschienen: „Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten“ (Grünewald-Verlag, Ostfildern 2022).
Herbert Rochlitz ist leitender Pfarrer in der kath. Kirchengemeinde Emmendingen-Teningen.
Helena Rimmele ist Gemeindereferentin in der kath. Kirchengemeinde Emmendingen-Teningen und Dozentin in der Ausbildung und Berufseinführung kirchlicher Mitarbeiter:innen im pastoralen Dienst.
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