Im Vorfeld des 100. Deutschen Katholikentages betrachtet Florian Bock die Geschichte der Deutschen Katholikentage.
In wenigen Tagen findet der Katholikentag zum 100. Mal statt. Die schon vor einigen Monaten angelaufene Werbetrommel preist die Großveranstaltung katholischer Laien als „Spiegelbild kirchlichen Lebens“, „an dem sich Katholiken den politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen ihrer Zeit stellen und nach Wegen suchen, die Welt aus ihrem Glauben heraus zu gestalten.“ Doch ist dies eigentlich noch zeitgemäß? Wie passt das zusammen, eine Pastoral des 21. Jahrhunderts, getragen von liquid church und open source einerseits, und andererseits ein Veranstaltungsformat, das in einem geschlossenen, milieuorientierten Sozialkatholizismus des 19. Jahrhunderts wurzelt?
Sind Katholikentage noch zeitgemäß?
Dieser – scheinbare – Anachronismus lädt zu einer historischen Spurensuche ein, denn bekanntlich schärfen sich erst vor der Folie des Vergangenen die Konturen des Gegenwärtigen. Und in der Tat: Die Programme der vergangenen Katholikentage, im historischen Längsschnitt gelesen, entpuppen sich als sensibler Seismograph der jeweiligen Zeitumstände. Dabei dürfte es sich von selbst verstehen, dass – retrospektiv betrachtet – einige Katholikentage vielleicht nachhaltigere Schneisen durch die Kirchengeschichte zogen als andere. Ja überhaupt fällt das Schneisenziehen schon schwer genug. Schon 1897 kapitulierte ein Monsignore angesichts der riesigen Materialberge, die die ersten 44 Katholikentage hinterlassen hatten: Eine Geschichte der Laientreffen zu schreiben, war ihm eine zu große Herausforderung. Wagen wir dennoch einen Parforceritt.
Die Programme der Katholikentage sind sensible Seismographen der jeweiligen Zeitumstände.
Am Anfang war 1848. Ausgerechnet die Deutsche Revolution bereitete dem politischen und sozialen Katholizismus hierzulande den Boden. Denn sie ermöglichte erst die bürgerlichen Freiheitsrechte, die die Päpste zwar verdammten, ohne die aber der „Katholische Verein Deutschlands“, ein Zusammenschluss der bereits bestehenden über 400 katholischen Vereine mit rund 100.000 Mitgliedern, den ersten Katholikentag in Mainz nicht hätte organisieren können. Die Bischöfe wurden vorsichtshalber erst gar nicht um ihr „Placet“ gefragt, auch wenn man ansonsten gerade während der ersten Katholikentage, etwa 1849 bei der Diskussion des Frauendiakonats, genau darauf achtete, nicht bischöfliche Kompetenzen zu beschneiden.
Themen der ersten Katholikentage waren die „großdeutsche“ Lösung, also der Einbezug Österreichs in den deutschen Nationalstaat (Breslau 1849), ketzerische Kirchenarchitekturen (Linz 1850), die Unterstützung von Katholiken im Orient (Salzburg 1857) oder der deutschen Diaspora (Freiburg i. Br. 1859). So traditionell sich diese und andere diskutierte Themen auf den Katholikentagen dieser Zeit ausnahmen („Syllabus Errorum“!), so modern waren die Mittel, derer man sich zur Verwirklichung dieser Ziele bediente: Auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes trat die Zentrumspartei, gegründet 1870, an die Stelle der Vereine. Mit dem Zentrum fühlten sich die Katholiken gegen die Herausforderungen der Moderne (z.B. neben dem Kulturkampf die Schul- und Arbeiterfrage) gewappnet und bereit, sich in öffentlichen Angelegenheiten mehr Gehör zu verschaffen.
Katholiken verschaffen sich in öffentlichen Angelegenheiten Gehör.
Das Zentrum blieb auch im späteren Kaiserreich „das stehende Heer“ der Katholikentage, die Feindachse hatte sich allerdings im Vergleich zum Kulturkampf verschoben. Gegner waren nun nicht mehr Staat und Regierung, denn die Katholiken waren voller Patriotismus im Kaiserreich angekommen. Vielmehr machten nun die Sozialdemokraten das Gegenüber aus. Während Reformkatholiken, sozusagen „Anti-Antimodernisten“, der Zutritt zu den Katholikentagen verwehrt wurde, ließen sich gleichzeitig Tendenzen der Verkirchlichung beobachten. Nicht nur der Ortsbischof, sondern auch weitere Mitglieder des Episkopats nahmen nun am Katholikentag teil, teilweise sogar als Redner. Mehr noch: Das aus Italien hinüberschwappende Konzept der „Katholischen Aktion“, vorgestellt auf dem Katholikentag 1928 in Magdeburg, würde die Zentrumspartei, und damit den politischen Katholizismus in Deutschland, schwächen, so die Sorge vieler.
Verkirchlichung des Katholikentages und Sorge vor einer Schwächung des politischen Katholizismus
Das Anliegen dieses Modells: Um vor Entzweiung und Verirrung zu schützen, hatten sich die Laien nach dem Willen Pius XI. verstärkt dem Klerus unterzuordnen und auf ein kulturell-caritatives Engagement zurückzuziehen. Ein solcher Prozess der Entpolitisierung macht vor allem die Pfarrei bzw. die Diözese zu einer Art Startbasis, von der aus die Laien – in Räten organisiert – die säkularisierte Gesellschaft missionieren sollten. Die faktische Wirkungskraft der Katholischen Aktion blieb jedoch in Deutschland gering. Und als sei dies alles nicht genug, änderte sich in den 1920er-Jahren noch etwas: Herrschte am Anfang eine nahezu geschlossene, clubartige Atmosphäre bei den damals noch „Generalversammlungen der Katholiken Deutschlands“ genannten Katholikentagen, wurde die Teilnehmerschaft bald nicht mehr nur für delegierte Männer aus gutbürgerlichen Kreisen, sondern auch für Arbeiter, Jugendliche und – zunächst kaum vorstellbar – für Frauen (1921) geöffnet.
Seit 1921 nahmen – zunächst kaum vorstellbar – auch Frauen teil.
In den „dunklen“ Jahren zwischen 1933 und 1945 fiel auch der Organisationskatholizismus der totalitären Gleichschaltung zum Opfer. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren es im Westen die christlichen Kirchen, die aus den noch qualmenden Häuserruinen der Stunde Null als „Siegerin in Trümmern“ hervorgehen sollten. Kirchlich genormte Religiosität wurde in ihrer moralischen Autorität weitgehend unterstrichen und anerkannt. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte gegenüber den Protestanten nicht in der Minderheit, spielten Katholiken bei politischen Entscheidungsfindungen (Familien-, Schul- und Sozialgesetze) in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle. In der Folge entspannte sich das Verhältnis zum Staat. Auf die Agenda der Katholikentage kamen ab den 1950er-, erst recht aber ab den 1960er-Jahren weniger staatspolitische Themen als vielmehr innerkirchliche Problemfelder (Konflikte um die „richtige“ Rezeption des Zweiten Vatikanums) oder globale Themen wie die „Option für die Armen“ der Dritten Welt, die Ökologie oder die atomare Nachrüstung.
Auf die Agenda kamen die „richtige“ Rezeption des Zweiten Vatikanums und die „Option für die Armen“.
Der Katholikentag 1952 in Berlin, auch als „Wallfahrt nach Berlin“ bekannt, versinnbildlicht die Gemengelage im Osten eindrucksvoll. Dessen Veranstaltungen waren ganz auf das Überleben in einer atheistischen Umwelt abgestimmt, handelte es sich doch um eine durch staatliche Repressalien forcierte Massenpilgerschaft, da die Ulbricht-Regierung ihren katholischen Bürgern keine Sonderzüge nach Berlin genehmigte.
„Wir reden nicht über die Pille –
wir nehmen sie.“
Im Westen ließen sich Diskussionen über die innere Verfasstheit des Katholizismus wie in einem Brennglas auf dem Katholikentag 1968 in Essen beobachten. Wenige Wochen vorher war die Enzyklika „Humanae Vitae“ Papst Pauls VI. erschienen, die Katholikinnen und Katholiken die Einnahme künstlicher Empfängnisverhütungsmittel verbot. Während des Katholikentags in der Essener Gruga-Halle nun schien es so, als habe sich in den Reaktionen auf die Enzyklika ein mitunter unkontrollierter Reformstau, aufgestaut in den Jahren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Vatikanischen Konzil, endlich entladen können. Kein Thema sollten die Tage zwischen dem 4. und 8. September 1968 so dominieren wie das jüngste Schreiben des nun „Pillen-Paul“ titulierten Papstes. Dafür sollte schon allein die „katholische Außerparlamentarische Opposition“ („KAPO“) sorgen. Mit Beifallsstürmen beklatschte Transparente mit Aufschriften wie „Wir reden nicht über die Pille – wir nehmen sie“, Sprechgesänge in Richtung des gastgebenden Bischofs wie „Hengsbach, wir kommen, wir sind die linken Frommen“, ein Forum zum Thema Ehe und Familie mit bis zu 5.000 Teilnehmern – all das war vollkommen neuartig und führte bei den Veranstaltern nicht selten zur Verunsicherung.
„Hengsbach, wir kommen, wir sind die linken Frommen.“
Nachdem sich in Essen das Gesprächsklima grundlegend geändert hatte, wurden die Katholikentage zunächst einmal für tot erklärt – von Skeptikern wie von Verantwortungsträgern. Wenn überhaupt, dann nur noch alle vier Jahre, so hieß es. Dennoch gelang den Katholikentagen eine Fortsetzung: Sie wurden jünger, präsentierten sich als Markt der Möglichkeiten und bekamen gerade in den letzten Jahrzehnten immer mehr einen Festivalcharakter. Ihr buntes Programm entspricht der zeitgenössischen Diagnose, dass es im Bereich von Bildung, Geburtenentwicklung, Rente, Atomkraft, Krankenversicherung etc. nicht mehr den einen, weltanschaulich geschlossenen katholischen Blickwinkel gibt. Das beste Beispiel dafür: der „Katholikentag von unten“. Im Juni 1980 in Berlin taten sich enttäuschte Reformgruppen, die den traditionellen Katholikentag als „geschlossene Gesellschaft“ empfanden, zusammen und veranstalteten ihr eigenes Programm, am selben Ort, zeitgleich. Dies war insofern eine unerhörte Provokation, als sie damit das offizielle Programm als „von oben“ aufoktroyiert erklärten.
Markt der Möglichkeiten, Festivalcharakter und „Katholikentag von unten“
Ungefähr seit den 2000er-Jahren minimieren sich zusehends solche Initiativen „von unten“. Die Aktivitäten vieler aus den Neuen Sozialen Bewegungen entwachsener katholischer Gruppen, die z.B. gegen das Zölibatsgebot und gegen die Diskriminierung von Homosexualität sowie ganz allgemein für ein liberaleres Lehramt eintraten, verringerten sich bzw. wurden ganz eingestellt. Vielleicht auch, weil das für die Organisation zuständige Zentralkomitee der deutschen Katholiken von sich aus „heiße Eisen“ aufgriff, wie etwa 2012 die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion.
„Heiße Eisen“ werden zunehmend seitens der Organisator*innen aufgegriffen.
Was bleibt nach dieser historischen tour de force festzuhalten? Den Katholikentag hat es nie gegeben. Vielmehr unterlagen sein Inhalt und seine Gestalt einem stetigen Wandlungsprozess, seine Struktur war „liquide“. Und: Was auf den letzten 99 Katholikentagen geschah, war immer mehr als ein bloßes Abfeiern der eigenen Konfession. Die Katholikentage stellten stets Podien dar, auf denen Katholiken zeitgenössische Anliegen von durchaus gesamtgesellschaftlicher Relevanz verhandelten. Dies geschah sowohl ad intra als auch ad extra. Sei es in Fragen der staatlichen Sozialgesetzgebung, in Fragen der Ehe und Sexualität oder der – zur Zeit wieder hochaktuellen – Integration von Fremden und Außenseitern: Die deutschen Laien diskutierten mit und sind vielleicht gerade deshalb in Rom für ihr Selbstbewusstsein und ihre Eigenständigkeit bekannt?
Literaturempfehlung:
Holger Arning/Hubert Wolf: Hundert Katholikentage. Von Mainz 1848 bis Leipzig 2016, Darmstadt 2016.
100 Katholikentage im Zeitstrahl:
https://www.katholikentag.de/ueber_uns/das_jubilaeum/zeitstrahl_100_katholikentage.html (12.05.2016)
(Bild: Katholikentag)