Auf der Liste der kuriosen Feiertage erscheint am 15. Februar der Tag des Regenwurms. Zu diesem Anlass hat sich Rainer Hagencord das kleine Tier und seine Verwandten aus der Sicht der Theologischen Zoologie genauer angeschaut.
Manchmal wirkt die Erde in diesen ersten Tagen des Februars schon ein wenig vorfrühlinglich; und tatsächlich trauen sich die ersten Regenwürmer an die Oberfläche. Sie erinnern daran, dass selbst in der winterlichen Zeit das Erd-Reich auch mit ihrer Hilfe lebendig geblieben ist.
Die unscheinbaren kleinen Geschöpfe tummeln sich auch in der Bibel.
Und so wie in den Humusschichten, tummeln sich die unscheinbaren kleinen Geschöpfe auch in der Bibel. So gehören sie in die Schar aller Geschöpfe, denen sich Gott in ewiger Treue zuwendet:
„Ich schließe für sie an jenem Tag mit den Tieren des Feldes, den Vögeln des Himmels und dem Gewürm des Erdbodens einen Bund. Bogen und Schwert und Krieg breche ich weg aus dem Land und lasse sie in Sicherheit wohnen.“ (Hos 2,18)
Einer von ihnen wird neben dem Wal zum Lehrer des widerspenstigen Propheten Jona:
„Da bestimmte ‚Adonaj‘, die Gottheit, einen Strauch, eine Rizinuspflanze. Diese wuchs über Jona, um seinem Kopf Schatten zu spenden, um ihn aus seinem Missmut herauszureißen. Jona freute sich sehr über den Strauch. Doch die Gottheit bestimmte einen Wurm, der, als die Morgenröte am folgenden Tag aufstieg, den Strauch stach, sodass er verwelkte.“ (Jona 4,6f.)
Das schöne Jona-Buch endet bekanntlich mit dem Bekenntnis Gottes:
„Ich jedoch – sollte ich nicht bekümmert sein wegen Ninive, der riesigen Stadt, in der es mehr als 12.000 Menschen gibt, die nicht zwischen rechts und links zu unterscheiden vermögen, und außerdem viel Vieh?“ (Jona 4,11)
Und nicht zuletzt wird sich Jesus selbst mit ihm identifizieren, wenn er am Kreuz den Psalm 22 betet:
„Ich aber, ein Wurm bin ich und kein Mensch, Spott der Leute, verachtet vom Volk.“ (Ps 22,7)
Ein Plädoyer aus der Sicht der Theologischen Zoologie[1]
„Mit zunehmender Erkenntnis werden die Tiere den Menschen immer näher sein; wenn sie dann wieder so nahe sind wie in den ältesten Mythen, wird es kaum mehr Tiere geben.“ So schreibt der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti.
Dieser Satz klingt wie ein Drei-Satz der Theologischen Zoologie:
Die Verhaltens- und Evolutionsbiologie überrascht mit immer mehr Hinweisen darauf, dass uns von den Tieren kein Graben trennt. Gefühle, Bewusstsein, die Fähigkeit zu lernen und zu lehren sind Fähigkeiten, die nicht vom Himmel gefallen sind.
dass uns von den Tieren kein Graben trennt
Entsprechend sprechen auch die biblischen Erzählungen vom Menschen und seinen Mitgeschöpfen:
Dass wir Menschen Erdlinge sind, und die Tiere die Zuerst-Gesegneten der Schöpfung, das beseelte Gegenüber des Adam; diejenigen, die im Paradies geblieben sind, Bündnispartner Gottes nach der großen Flut, Mitbewohner einer Welt ohne Gewalt und nicht zuletzt Lehrerinnen und Lehrer des Hiob und Jesu selbst.
das beseelte Gegenüber des Adam
Ist diese biblische Würdigung unserer Mitgeschöpfe verlorengegangen?
Könnte dies ein Grund dafür sein, dass sie in den atemberaubenden Lebensräumen unserer Welt verschwinden? Wenn der Trend anhält, werden schon in zehn Jahren etwa ein Drittel aller Tierarten ausgerottet sein. Es verschwinden allerdings auch die anderen auf ihre Weise, obwohl ihre Zahl ständig zunimmt. Die Puten, Hühner, Schweine und Rinder fristen in immer größeren Tierfabriken ihr Dasein und werden nicht mehr als Geschöpfe wahrgenommen.
fristen in immer größeren Tierfabriken ihr Dasein
Welche Rolle spielen die Tiere in den drei zentralen Fragen:
- An welchen Gott wollen wir glauben?
- Wie verstehen wir uns selbst?
- Wie wollen wir leben?
Die Theologische Zoologie geht diesen Fragen nach, und zwar mit dem Blick auf unsere Mitgeschöpfe und nicht in der Abwendung von ihnen. Eine solche Theologie mit dem Gesicht zum Tier legt dann diese Antwortversuche nahe:
- Wir möchten uns der göttlichen Wirklichkeit inmitten der natürlichen Mit-Welt aufschliessen.
- Wir verstehen uns als Von-der-Erde-Genommene und nicht als Vom-Himmel-Gefallene.
- Wir legen jede Herrschaftsattitüde ab und „machen uns der Erde untertan“ (Papst Franziskus).
Sind sie nicht eigentlich überflüssig: die Würmer?
Innerhalb der Biodiversitätsdebatte wird seit langem die Frage diskutiert, wie viel Artenvielfalt nötig und wie wenig möglich ist, soll das Ökosystem Erde insgesamt stabil bleiben. Es kommen zwei Hypothesen ins Spiel, die zwei extreme Standpunkte markieren.
Die eine, die sogenannte Nieten-Hypothese, vergleicht Pflanzen- und Tierarten mit jenen kleinen Teilen an einem Flugzeugrumpf, die ihn zusammenhalten; jede verlorene Niete destabilisiere das Transportmittel ein wenig bis es schließlich flugunfähig wird.
Die Passagier-Hypothese hingegen besagt, dass die meisten Arten für die Natur so überflüssig seien wie die Passagiere für die Flugfähigkeit einer Maschine. Letztlich kommt es nur auf wenige Schlüsselarten an – sprich: die Crew.
Auch wenn die Menschen der biblischen Zeiten nicht mit der Tatsache der ökologischen Katastrophe konfrontiert waren, so beschäftigte sie doch die Frage: Was ist der Mensch im Gesamt der Schöpfung und an welchen Gott wollen und können wir glauben?
Was ist der Mensch im Gesamt der Schöpfung?
In der großen Erzählung von der Sintflut denken die Autoren – ebenso wie der Prophet Hosea – über diese Fragen nach. Dabei kommt in überraschender Weise der theologisch überaus gewichtige Begriff ins Spiel: Der Bund.
„Dann sprach Gott zu Noah und seiner Familie, die bei ihm war: ‚Was nun mich betrifft, sieh her, ich bin dabei, eine Bundesverpflichtung euch gegenüber einzugehen und gegenüber euren Nachkommen nach euch, sowie gegenüber allen Lebewesen, die bei euch sind, gegenüber Vögeln und Vieh und allen Tieren, die mit euch auf der Erde sind, gegenüber allen, die aus der Arche gegangen sind, gegenüber allem Leben auf der Erde. (…) Darin besteht das Zeichen der Bundesverpflichtung, die ich festlege zwischen mir und euch und allen lebendigen Wesen, die bei euch sind, auf ewige Zeiten: Meinen Bogen setze ich in die Wolken. Der soll das Zeichen der Bundesverpflichtung sein zwischen mir und der Erde‘.“ (vgl. Gen 9,8 ff.)
Biblisches Nachdenken über die Schöpfung verdankt sich einerseits einem tiefen Wissen über die Schicksalsgemeinschaft von Mensch, Tier und Pflanze und zieht dann andererseits Schlüsse daraus, welche Bedeutung dies für die Gottesrede hat.
Schicksalsgemeinschaft von Mensch, Tier und Pflanze
Ich lese dann aus diesem Text zunächst ein starkes Plädoyer für die Nieten-Hypothese: Zum Überleben der Erde, die durch das fehlerhafte sorglose Verhalten des Menschen in Gefahr schwebt, braucht es ALLE Lebewesen!
Eine agrarische Kultur wie Israel weiß aus Erfahrung, dass der Wert eines Geschöpfes nicht an seiner Ästhetik und an seiner Brauchbarkeit für den Menschen zu bemessen ist, sondern an seiner Herkunft aus der Schöpferhand Gottes. Es sollen also nicht allein die Niedlichen und Nützlichen in die Arche.
Der Wert eines Geschöpfes
Das lernen wir heute von einer Katastrophe zur nächsten: Nehmen wir einen Organismus aus einem Ökosystem heraus, sei es eine Schnecke oder eben ein Wurm, oder bringen wir einen anderen hinein, kommt es nicht selten zum Kollaps und zu schwerwiegenden Folgen für den Menschen.
Wer hätte gedacht, dass die Ausrottung der amerikanischen Wandertaube vor etwa 100 Jahren vermutlich dazu beigetragen hat, dass heute die Borreliose in Nordamerika zur Epidemie geworden ist und entsprechende Kosten verursacht? Aus Millionen von Tieren bestehende starke Schwärme fraßen einst die Eicheln ganzer Wälder. Ihre bewusst herbei geführte Ausrottung (die letzten verbliebenen Exemplare wurden im Rahmen eines „Jagdfestes“ abgeknallt) ließ die Mäusepopulationen boomen und verbesserte so die Lebensbedingungen für einen der Hauptwirte der Zecken.
Gott: im Bund mit den Tieren
Der äußerst wichtige Begriff Bund kommt im hebräischen AT nicht nur 286mal vor, sondern ist auch oft dort voraus gesetzt, wo er nicht direkt genannt wird. Metaphern wie die vom Vater, Hirten oder werbenden Bräutigam dienten dazu, den Begriff vor einer allzu formell juristischen Auffassung zu bewahren. Als Lebensgemeinschaft mit Gott verlieh der Bund Israel sein starkes Gottvertrauen, ein Bewusstsein der Geborgenheit.
Das persönliche Handeln Gottes tritt im Bund des AT auf das deutlichste hervor. Gott selbst beruft und erwählt und gibt somit dem Leben der Nationen und dem Zusammenleben von Mensch und Tier Sinn.
Gott selbst gibt dem Zusammenleben von Mensch und Tier Sinn.
Es handelt sich um eine einseitige, gnadenhafte Zusage ohne Bedingungen. Es ist dann plausibel zu sagen: Die Tiere sind nicht für den Menschen da; ihre ganz eigene Beziehung zu Gott bewahrt sie vor jeder Verzweckung! In der überlieferten Weisheit Israels fließen die Erkenntnisse einer agrarischen mit denen einer leidenschaftlich Gott suchenden Kultur zusammen. Die Tiere spielen darin eine zentrale Rolle.
die Mitgeschöpfe mehr und mehr „ausgesperrt“
Ich bin davon überzeugt, dass die heutige Gotteskrise damit zu tun hat, dass die Mitgeschöpfe mehr und mehr „ausgesperrt“ wurden. Wenn ich heutige Erkenntnisse aus der Ökologie mit den biblischen Texten zusammen lese, drängen diese in eine Umkehr, eine Neu-Besinnung.
„Das Gedeihen der Welt hängt davon ab, dass man mehr Tiere am Leben erhält. Aber die, die man nicht zu praktischen Zwecken braucht, sind die wichtigsten. Jede Tierart, die stirbt, macht es weniger wahrscheinlich, dass wir leben. Nur angesichts ihrer Gestalten und Stimmen können wir Menschen bleiben. Unsere Verwandlungen nutzen sich ab, wenn ihr Ursprung erlischt.“ (Vgl. Elias Canetti in seinem Roman „Die Fliegenpein“)
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Rainer Hagencord, Dr. theol., ist Mitgründer und Leiter des Instituts für Theologische Zoologie in Münster i.W.
Bild: M. Großmann / pixelio.de
[1] Das Projekt einer Theologischen Zoologie verbindet Erkenntnisse der Verhaltens- und Evolutionsbiologie mit einer biblisch-theologischen Wertschätzung der Tiere, die leider fast verloren gegangen ist. Diese Perspektive führt mitten in relevante Debatten der industriellen Tierhaltung und der ökologischen Katastrophe. Vgl.: www.theologische-zoologie.de