Die einen begrüßen den Frühling in den Straßencafés, die anderen protestieren gegen die Klimapolitik unseres Landes – und werden dafür bestraft. Ein Essay von Claudia Paganini und Vincent Schäfer
Berlin, in den letzten Tagen des April. Wer von Bayern kommt, dem präsentiert sich die Stadt erstaunlich warm, erstaunlich leicht, beinahe verspielt. Die Menschen drängen auf die Straßen, die Cafés, die Parks, die Promenaden, den öffentlichen Raum. Sein Thema ist Frühling. Er rührt sie an, lädt sie ein zu einem Tanz, umgibt sie mit einem Versprechen. Was das sein könnte, bleibt unklar. Denn selbstverständlich sind die Probleme noch da, ganz so wie ein paar Tage zuvor, als es noch kälter war, wie ein paar hundert Kilometer weiter im Süden, wo wir herkommen.
Argumente, die keiner hört
Wir sind zur selben Zeit in derselben Stadt, aber an unterschiedlichen Orten, umgeben von unterschiedlichen Menschen. Eine Gruppe von Wissenschaftler:innen, die gerade in den Räumlichkeiten der Humboldt-Universität ihre Vorträge gehalten haben, zu den planetaren Grenzen, zum zivilen Ungehorsam, zur Frage der Kinderrechte in einer vom Klimawandel bedrohten Welt, zur zunehmenden Gewalt gegen die Mitglieder der Letzten Generation. Sie haben getan, was man von ihnen erwartet: aus der eigenen Forschung berichtet, Argumente formuliert, sich mit Einwänden auseinandergesetzt. Sie sind keine Aktivist:innen. Sie sind nicht auf der Straße. Sie haben keine mediale Präsenz, zumindest nicht an diesem Tag, nicht in Deutschland. Vielleicht ist das, was sie sagen, relevant. Aber es spielt keine Rolle. Denn die Welt außerhalb der alten, geschichtsträchtigen Mauern hört nicht zu.
die Ohnmacht des Ausgeliefertseins
Wir sind zur selben Zeit in derselben Stadt, aber an unterschiedlichen Orten, umgeben von unterschiedlichen Menschen. Die Aktivist:innen mit ihrem friedlichen Protest. Die Art, wie sie sitzen, könnte als Metapher verstanden werden. Für Ohnmacht, für das Ausgeliefertsein gegenüber Machtinteressen, gegenüber dem Unausweichlichen. Aber für eine Metapher ist es zu konkret. Die Aggression ist zu konkret. Der Hass von Menschen, die nicht wissen, wer die Frau ist, die sie gerade beschimpfen. Menschen, die nicht fragen, was den Mann bewegt, den sie gerade attackieren. Sie haben eine klare Meinung. Ihre Quelle ist die Unkenntnis, der Mangel an Information, tendenziöse Berichterstattung, das Gefühl der Überforderung in einer Zeit multipler Krisen, Schimpfworte, die sie aufgeschnappt haben in Interviews, in Ansprachen, übernommen von den Reden der starken Männer, zu denen sie aufblicken. Aber es gibt auch die freundlichen Stimmen, die ermuntern, unterstützen, danken sogar. Sprechchöre, andere Gruppierungen, die sich solidarisieren. Es ist eine Bewegung, die wächst, Hoffnung aufrecht erhält gegen die Gleichgültigkeit und gegen das so verlockende Wegsehen.
Es ist ein Gesetz, das uns alle schützen soll.
Wir sind zur selben Zeit in derselben Stadt, aber an unterschiedlichen Orten. Wir verfolgen die Nachrichten. Politiker:innen berufen sich auf das Gesetz, fordern Gehorsam. Das Gesetz soll Menschen schützen. Vor Gewalt zum Beispiel. Gewalt ausgeübt von einem wütenden Mob, von Polizist:innen, die Schmerzgriffe anwenden. Wer verschafft dem Gesetz Geltung? Sind die Aktivist:innen keine Menschen? Sind sie keine Bürger:innen, die der Rechtsstaat zu schützen hat? Es ist ein Gesetz, das uns alle schützen soll. Nicht nur vor Gewalt. Auch vor einer weiteren Verschärfung der Klimakrise. Wer hält sich an das Gesetz? Und wer bricht es?
Ein schlechtes Drehbuch?
Berlin. Es ist Frühling. Und wieder die Nachrichten. Wir hören zu, versuchen zu begreifen. Es heißt: Klimaprotest bringt Menschen gegen den Klimaschutz auf. Wer auf die Klimakrise hinweist, lenkt von ihm ab. Wer am Boden sitzt und sich beschimpfen, anschütten, treten lässt, übt selbst physische Gewalt aus. Weiter und immer weiter. Die Argumente sind absurd. Und werden doch mit Überzeugung vorgetragen. Ohne zu lachen. Ohne gegen das Lachen ankämpfen zu müssen, wie es scheint. Vielleicht hat Nietzsche Recht oder auch Scheler. Die Konvention, in einem für alle verbindlichen Sinn zu lügen. Ein organisch verlogenes System, in dem es die Lüge weder braucht noch geben kann. Oder einfach ein schlechtes Drehbuch, eine beliebige nichtssagende Dystopie.
Wir sind zur selben Zeit in derselben Stadt, aber an unterschiedlichen Orten, ebenso voneinander getrennt wie von den Menschen in den Cafés, den Parks, den Promenaden, die nichts anderes wollen, als sich dem Frühling hingeben. Die dankbar sind für seine Farben, seinen Duft, seinen Klang und vor allem dafür, dass er ihnen eines verspricht: Vergessen.
Autor:innen:
Claudia Paganini, geb. 1978 in Innsbruck, studierte in Innsbruck und Wien Philosophie und Theologie. Sie lehrt und forscht seit 2021 als Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München. Sie ist Mitinitiatorin von https://handeln-statt-kriminalisieren.com/
Vincent Schäfer, 20 Jahre alt. Studiert in München Philosophie und ist seit letztem Jahr Aktivist bei der Letzten Generation. Für (friedliche) Straßenblockaden saß er über Weihnachten und Silvester für 15 Tage in der JVA-Stadelheim.
Beitragsbild: Stefan Müller, CC-BY-NC