Isabella Guanzini greift auf einen Gründungsmythos der europäischen Kultur zurück und spricht doch dabei über die tägliche Tragödie, die heute stattfindet.
Alle Kulturen beziehen sich sowohl in ihrer Entstehungsphase als auch in ihrer Weiterentwicklung auf ihre Gründungsmythen. Vergils Aeneis ist eine dieser großen Erzählungen der europäischen Kultur, auf die man in schwierigen Phasen zurückgreifen kann. Sie ist die epische Vergangenheit des Abendlandes, dessen genetisches Erbe zur Immunisierung gegen jeglichen Verlust an Größe die Spuren der griechischen und römischen Götter und Helden in sich trägt, pietas und humanitas.
Das, was heute von ihren „Unternehmungen“ geblieben ist, hat jedoch die legendäre Aura ihrer Gesten und Worte verloren; bei Unternehmen denkt man heute nur an Kapitalinvestitionen mit dem Ziel, Güter zu produzieren, um daraus Profit zu schlagen. Das Unternehmen wird funktionaler und lukrativer, entmythologisiert und säkularisiert durch neue Riten, neue Mythen und neue Helden einer globalisierten Welt. Andere epische Charaktere hingegen sind in der spätkapitalistischen Welt der totalen Mobilität heute erneut wieder lesbar geworden.
Betrachten wir Aeneas: auf der Flucht aus seiner brennenden Stadt.
Betrachten wir Aeneas. Vergil lebte im ersten globalen Reich der Welt mit Rom an der Spitze, unter der Herrschaft Kaiser Augustus. Aeneas als Sohn einer Göttin und eines trojanischen Herrschers ist der Held der Aeneis, dem Epos der Emigranten, das Vergil zu Ehren des Kaisers verfasst hatte. Aeneas ist ein «Flüchtling durch Schicksalsspruch», ein Fremder, der alles verloren hat. Er lässt eine Stadt hinter sich, die durch die Waffen der Griechen zerstört wurde, und erblickt Italien das erste Mal vom Meer aus. Italien ist für ihn wahrhaftig eine letzte Zuflucht, die er langsam am Horizont auftauchen sieht, als erhöbe sie sich aus der Tiefe. In der Tat ist er ein Flüchtling nach dem Willen der Götter, ein Wille, der für Aeneas allerdings oft nur schwer begreiflich ist. Er ist ein Held auf der Flucht aus seiner brennenden Stadt, Anführer einer kleinen Gruppe trojanischer Gefährten, auf der Suche nach einer neuen Zukunft, der «nach Italien kam und zum Gestade Laviniums».
Symbol für eine Existenz, die sich auf den Weg gemacht hat.
Die Wechselfälle seines Schicksals sind Symbol für eine Existenz, die sich auf den Weg gemacht hat und notwendigen und schwierigen Etappen folgen muss wie in einem langwierigen Prozess kollektiven Werdens. Aeneas weint über seine zerstörte Stadt, über die Trümmer seiner ruhmreichen Vergangenheit; er ist erschüttert angesichts Trojas in der Hand der Feinde. Er begegnet unterschiedlichen Völkern und Kulturen, wird als Gast aufgenommen (Dido), auch als Bedrohung abgelehnt (Turnus); er verliert seine Frau in den Gräueln des Krieges; er kommt schließlich in die künftige Ewige Stadt und bringt als symbolische Geste für die Gründung Roms beziehungsweise für eine neue Herkunft die Penaten mit, eine neue Sprache und eine neue Kultur. Aeneas, der Flüchtling und Fremde, wird zum Gründer des neuen, historischen Römischen Reiches.
Blicken wir genauer auf die Szene eines Überganges, die Vergil am Ende des zweiten Buches der Aeneis beschreibt. Es ist bereits Nacht, Aeneas flieht gemeinsam mit seiner Familie und einer Gruppe verzweifelter Flüchtlinge, im Hintergrund liegt Troja, das von den Flammen verschlungen wird. Sie fliehen zur Küste, an die Hänge des Idagebirges; sie müssen zu den Schiffen gelangen, um von der bereits zerstörten Stadt wegzukommen und der eigenen Vernichtung zu entrinnen, indem sie sich in eine unbekannte Zukunft stürzen. Hinter den Flüchtigen wird das Land vom Feuer der Heere verzehrt, vor ihnen das vage Bild einer unsicheren Zukunft, in ihnen das reine Chaos und ein zerrissenes Herz, das echte Empfinden, fremd zu sein, das heißt, für immer den eigenen Boden, das eigene Land verloren zu haben.
Das reine Chaos und ein zerrissenes Herz.
Die Flüchtlinge entkommen und schleppen sich durch die Schrecken von Schwefel, der «weithin raucht ringsum», aufloderndem Feuer und feindlichen Schilden, und die Familie des Aeneas ruft im Vorwärtsschreiten die Götter um Hilfe an. Aeneas erzählt, zunächst «weigert sich der Vater, den ich vor allen anderen in die hohen Berge bringen wollte und deshalb als ersten aufsuchte, nach Troias Zerstörung weiterzuleben und die Verbannung zu ertragen». Anchises, nunmehr ein Greis, fleht den Sohn an, die Flucht ohne ihn anzutreten und ihn in seiner sterbenden Stadt sterben zu lassen: «So, ja so lasst mich liegen, sagt mir den letzten Gruß und geht». Seinen Vater so sprechen zu hören, der sich nicht mehr bewegen kann, der sich in einer Nacht der Verwüstung an seinen Entschluss klammert, erschüttert Aeneas:
«Fest entschlossen sprach er diese Worte und blieb unerschütterlich.
Wir hingegen, in Tränen aufgelöst, die Gattin Creusa, Ascanius
und alle im Haus baten den Vater,
doch nicht mit sich alles zu vernichten und dem drängenden Schicksal nachzuhelfen. […]
‹Daß ich dich Vater, zurücklassen und den Fuß aus diesem Haus setzen könnte,
hast du das erwartet, ist wirklich solche Ungeheuerlichkeit dem Mund des Vaters entschlüpft?›» (II, 650-655)
Aeneas pius kann als mitleidender Mensch Anchises auf keinen Fall seinem Alter und seiner Trauer alleine überlassen. Er kann nicht einfach seine Wurzeln abschneiden und pater und patria gleichzeitig verlieren, den Vater und das Vaterland, das wie eine erweiterte Familie ist, unter dem Segen der Penaten, den Beschützern des Zusammenhalts zwischen den Generationen.
Aeneas pius als mitleidender Mensch.
Der Alte wiederum bleibt, obwohl verzweifelt und bereits entkräftet, ein starrer und unbeugsamer Vater: Nicht jedoch im Sinne eines despotischen Willens, der seinen Kindern keinen Raum lässt, sondern im Gegenteil, im Sinne eines Wunsches nach einem möglichen Leben für die anderen, als Segen für zukünftige Generationen. Vor dem dramatischen Hintergrund des in Flammen aufgehenden Vaterlandes wird unter Anrufung der Götter der Staffelstab auf die schönste Weise übergeben: Der Sohn nimmt ihn an, ohne jedoch die heilige Bindung zwischen den Generationen zu durchschneiden.
Plötzlich aber erscheint «ein zartes Flämmchen» über dem Scheitel des Sohnes Ascanius: Das ist ein göttliches Zeichen, Anchises lässt sich überzeugen, gemeinsam mit den übrigen Besiegten zu fliehen. Alles erscheint wie die Ankündigung eines zutiefst unheilvollen Endes in den Straßen, die durch Feuersbrünste in Flammen aufgehen und aus denen alle Götter längst geflohen sind. Die Vergangenheit ist versiegt, ist nunmehr fast am Ende, da bietet Aeneas seine Hilfe an, damit die eigene Vergangenheit durchhalten möge, ein wenig noch:
«Auf also, teurer Vater, setze dich auf meinen Nacken;
ich will dich auf meine Schulter nehmen,
und diese Last wird mir nicht schwer sein;
wohin auch immer die Dinge sich wenden,
ein und dieselbe Rettung wird uns beiden zuteil.» (II, 707-709)
Inmitten der rauchenden Ruinen greift sich Aeneas ein Löwenfell, worauf er den alten Vater bettet. Dann nimmt er seinen Sohn Ascanius bei der Hand, «an einem Strand, der noch dampft vor Blut». Sanft nimmt er den Vater auf die Schultern, er beugt sich aus Hingabe und nimmt dessen bereits blinden und gelähmten Körper auf. Die drei Generationen müssen vereint vorwärtsgehen im gemeinsamen Risiko, eine notwendige Einheit, um Erinnerung, Kraft und Hoffnung der Geschichte bewahren zu können.
Eine Vergangenheit, die zusammenbricht, und eine Zukunft, die noch nicht groß geworden ist.
Aeneas trägt eine Vergangenheit, die zusammenbricht, und begleitet gleichzeitig die Zartheit einer Zukunft, die noch nicht groß geworden ist. Er bittet Anchises, die heiligen Geräte und die Penaten zu tragen, weil seine Hände noch blutbesudelt sind und es ihm daher nicht gestattet ist, die Götter zu berühren.
In der letzten Nacht in Troja scheinen dem Helden Aeneas – der bis zu diesem Moment den Tod in der Schlacht ersehnt hatte – jeder Laut und jeder Windhauch Schrecken einzujagen. Zuvor war er der impulsive Mann gewesen, der mutig und ungestüm gegen den Feind kämpfte und der sich quasi dafür entschuldigte, noch nicht auf dem Schlachtfeld gestorben zu sein. Nun ist er vor allem Vater zum Schutz seines Stammes. Er weiß, dass es ihm bestimmt ist, seine Leute in Sicherheit zu bringen und Stammvater eines neuen Volkes auf fremdem Boden zu werden. Da ist einerseits der Instinkt des Kriegers, elementarster Impuls für einen Mann jener Zeit, auf der anderen Seite aber Pflicht und Sorge für den anderen, was bereits eine weitere Ebene des Bewusstseins und der Entwicklung erfordert. Seine Kraft, das Schild im Kampf zu tragen, und die Kraft, um seinen Vater zu schultern, sind grundsätzlich verschieden. Zweitere muss tiefer empfinden können, um durchzuhalten; es ist eine zutiefst geistige Kraft, die sich aus den fragilen Empfindungen nährt.
Die Zärtlichkeit eines Sohnes wird zur einzig möglichen Hoffnung.
Aeneas muss sich beugen, weich werden, in seinem Inneren Raum schaffen – als bereitete er ein Ruhelager –, um die impulsive Härte seines Heldengeistes zu verlieren und den anderen auf sich zu tragen. Der horizontale Impuls des Kriegers gelangt zur Reife in der vertikalen Kraft seines Vaterseins, wodurch er über die kriegführenden Horden seiner Mitmenschen hinauswächst. Aeneas schreitet nun unter dem – sanften, würde Jesus sagen – Joch des Anchises, das auf seine Schultern drückt, damit er sich immer mehr in der Erde verwurzle, während er mit dem Blick nach den göttlichen Zeichen des Himmels sucht. Von den Abenteuern seiner Jugend ist nur noch das Löwenfell auf seinen Schultern übrig, auf dem nun die Verantwortung ruht, die Generationen zusammenzuhalten. Der Zeitpunkt ist gekommen, das soldatische Bild heroischer Männlichkeit zu überwinden, das im Zeichen der Gewalt steht. Die Zärtlichkeit eines Sohnes wird zur einzig möglichen Hoffnung für eine neue künftige Kultur, die sich nach vorne bewegt, indem sie angesichts der Ruinen hinter sich eine andere Zukunft für alle ersehnt.
Heute sind da immer noch die Flammen Trojas.
Die Gestalt des Aeneas mit Anchises auf den Schultern und Ascanius an der Hand, alle im Zustand der Flucht aus ihrer Welt, verkörpert ein elementares Symbol für jede Generation, die in einer Krisenzeit leidet. So wie es uns Italienern heute geschieht, uns Bewohnern Hesperiens, einst ersehntes Ziel der trojanischen Flüchtlinge und heute erträumt von einer herzzerreißenden Masse von Emigranten zu Land und zu Wasser. In all den Zügen und Booten, in all der Verzweiflung und der Erschütterung um jeden in extremis geretteten Alten, in den Kindern, die an die Hand genommen werden, und in den Frauen, die auf dem Wege verloren gingen wie Creusa, die «vom Weg abirrte oder nach einem Sturz liegenblieb» – da sind immer noch die Flammen Trojas, da ist immer noch ein unauffälliger Aeneas, mit einem Kleinkind in den Händen und einem Vater auf den Schultern. Migration, Schrecken und Verlassenheit als Zustand sind bis heute gleich: Aber der Wunsch, solche Gesten zu besingen, ist nunmehr erloschen. Es gibt eine Zeit, zu singen und eine Zeit, zu schreien, eine Zeit, zu erzählen und eine Zeit, um schweigend weiterzugehen.
Doch keine Muse, die die tägliche Tragödie in ein Epos verwandelte.
Heute gibt es keine Muse, die in der Lage wäre, die tägliche Tragödie von Menschen auf der Flucht in ein Epos zu verwandeln. Heutzutage sind die Stimmen einer Gesellschaft des Grolls und eines unbarmherzigen Hasses, der sich sogar auf die Religion stützt, viel lauter. Heute fehlt uns die pietas eines Vergil – dieses feinfühlenden Steuermannes –, bestimmt aber fehlt sie nicht bei Tausenden Vertriebenen mit zerrissenem Herzen und schmerzenden Knochen, die Tag für Tag auf ihren erschöpften Schultern zu Land und zu Wasser unsere Vergangenheit tragen, unsere Gegenwart und unsere Zukunft wie äußerst zerbrechliche Glieder in der Kette der Generationen auf der Suche nach einem verheißenen Land.
Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie in Graz. Von ihr jüngst erschienen: Zärtlichkeit. Eine Philosophie der sanften Macht, Beck: München 2019
Bild: Federico Barocci, Fuga di Enea da Troia e San Girolamo (1598) (Wikimedia Commons)