Im gesellschaftlichen Diskurs zum Gaza-Krieg fehlen spürbar die Stimmen der Vertreter:innen der drei Abrahamitischen Religionen, meinen Edward van Voolen, Rabbiner aus Berlin, Esnaf Begić, Imam und islamischer Theologe aus Osnabrück und Heinz-Günther Schöttler, katholischer Theologe aus Regensburg.
Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 eskalieren kriegerische Auseinandersetzungen in Israel, Gaza, der Westbank und im Libanon – ein Alptraum für alle Betroffenen. Noch immer befinden sich noch etwa hundert der 251 Israelis in Geiselhaft in Gaza, viele von ihnen sind bereits getötet. Inzwischen gibt es mehr als 46.000 Todesopfer und 110.000 Verletzte in Gaza. 100.000 Israelis sowie Millionen Palästinenser:innen mussten aus den Kriegsgebieten fliehen, ebenso viele Libanes:innen. Die Gewalt im Westjordanland nimmt zu. Es wird jetzt verhandelt zwischen Israel und Hamas, aber das Verhältnis zwischen Israel und den Palästinenser:innen ist auf Generationen hin vergiftet.
Dieser Krieg trifft unmittelbar Menschen in den jüdischen und muslimischen Gemeinschaften in Deutschland, auch persönlich. Juden und Jüdinnen werden grundsätzlich als Unterstützer:innen der israelischen Regierung verdächtigt, Muslim:innen als Unterstützer:innen der Terroristen – auch wenn sie nur Empathie für das Schicksal der Palästinenser:innen äußern.
Den Konflikt im Nahen Osten können wir nicht direkt beeinflussen, wohl aber können die Abrahamitischen Religionen ihre Überzeugungen über Frieden, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in den öffentlichen Diskurs und das private Gespräch einbringen. Juden, Christen und Muslime müssen versuchen, die gegenläufigen Narrative der Anderen zu verstehen, auch wenn es schwerfällt. So kann der wechselseitige der Ruf nach Gerechtigkeit und Existenzrecht gehört werden. Statt im eigenen Leid gefangen zu bleiben und sich als einziges Opfer zu fühlen, geht es darum, auch das Leid der Anderen wahrzunehmen. Zu diesem Weg können und müssen die Abrahamitischen Religionen ermutigen.
Eine jüdische Sicht.
Das biblische Wort „Schalom“, Frieden, ist allgegenwärtig im Judentum, etwa wenn man fragt, wie es einem geht, oder im Priestersegen: „Es segne dich der Ewige und behüte dich! Es lasse über dir der Ewige sein Antlitz leuchten und sei dir gnädig! Es wende dir der Ewige sein Antlitz zu und gebe dir Frieden!“ (Numeri 6,24-26). Gottes Name ist jeweils das zweite hebräische Wort nach einem Verb: erst segnen und behüten, dann leuchten und gnädig sein, und zum Schluss zuwenden und Frieden geben. Die Botschaft steigert sich: vom materiellen Schutz über den spirituellen Schutz hin zum Frieden. Aaron sagt diese Worte bei der Einweihung der Stiftshütte in der Wüste. Noch immer sagen Aarons Nachkommen, sagen die Rabbiner:innen, Vorbeter:innen, Jüdinnen und Juden diesen Segen.
Die zentralen Begriffe der wichtigsten Feiertage (Neujahr und Versöhnungstag) sind: Rachamim (Barmherzigkeit), Tefila (Gebet, Reflexion), Teschuwa (Einkehr, Besinnung) und Zedaka (Gerechtigkeit, Wohltätigkeit). Begleitende Bibeltexte thematisieren Todesangst und Verzweiflung: Hagar und ihr Sohn Ismael verhungern fast (Genesis 16,7), Ismaels Halbbruder Isaak wird von seinem Vater fast getötet. Der Ewige aber hört das Schreien Ismaels (Genesis 21). Hannah weint, da sie kinderlos ist. Der Ewige aber denkt an sie und sie wird schwanger (1 Samuel 1,1 – 2,10). Rahel trauert um ihre Nachkommen: Der Ewige aber gibt Hoffnung für die Zukunft (Jeremia 31,1‑19). Darum geht es: Menschen Hoffnung geben und Taten der Gerechtigkeit tun.
Mit Adam und Eva stehen wir in der Verantwortung, zwischen Gut und Böse zu wählen; mit Abraham und Sara verlassen wir Ur im heutigen Irak, flüchten mit Josef und seinen Geschwistern vor einer Hungersnot nach Ägypten, wo wir unterdrückt und diskriminiert wurden und letztendlich wieder flüchten konnten. Diese Erfahrung prägt das Pessach-Fest: „In jeder Generation ist jeder Mensch verpflichtet, sich zu sehen, als ob er oder sie selbst aus Ägypten ausgezogen wäre.“ Wenn wir am Ende des Festes singen „Nächstes Jahr in Jerusalem“, dann drückt der Name der Stadt („Stadt des Friedens“; vgl. Genesis 14,18) unsere Hoffnung auf die endgültige Befreiung für die ganze Menschheit aus: „Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker sein“ (Jesaja 56,7).
Jetzt stehen wichtige Werte unter Druck. Wie können wir ein „Licht für die Völker“ sein (Jesaja 42,6)? Israel kann nicht in Frieden leben, wenn es ein anderes Volk unterdrückt. Kein Frieden ohne Gerechtigkeit.
Eine christliche Sicht.
Verhältnismäßigkeit statt Unerbittlichkeit, Barmherzigkeit statt Hass, Gerechtigkeit statt des Vollzugs eines vermeintlich finalen Gerichtes an Todfeinden sind zentrale ethische Werte des Christentums. Jesus sagt: „Selig sind die Gewaltlosen, denn sie werden das Land erben; selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden; selig sind, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden“ (Matthäus 5,1-12). Ist es möglich, eine gerechte Lösung für Palästinenser:innen und Israelis zu finden?
„Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und alles andere wird euch dazugegeben“ (Matthäus 6,33). Die Gerechten üben Gerechtigkeit in der Nachfolge Gottes. „Gott ist barmherzig und gnädig“ (Exodus 34,6‑7), so sagt die Tora – und Jesus hat die Tora gelebt. Wo andere auf Macht und Gewalt vertrauen, können wir es wagen, die Gerechtigkeit Gottes zu leben, die sich durch Barmherzigkeit und Verhältnismäßigkeit auszeichnet. Das Johannes-Evangelium sagt, dass Gott „voll von Gnade und Wahrheit/Treue“ ist (Johannes 1,14). Damit ist Exodus 34,6‑7 aufgerufen, dass Gott „ein barmherziger und gnädiger Gott ist, langsam zum Zorn und groß an Güte und Treue.“ Dem zu folgen ist der „Weg der Gerechtigkeit“ (Matthäus 21,32). Nur Gerechtigkeit führt zu Frieden.
Eine muslimische Sicht.
Das Unrecht und die Ungerechtigkeit an jenen Orten im Nahen Osten, die für unsere drei Religionen zentrale identitätsstiftende Bedeutung haben, sind angesichts der gnadenlosen Vernichtung, ja Verachtung des menschlichen Lebens und der willkürlichen Zerstörung unfassbar. Gerechtigkeit ist aus islamischer Perspektive das oberste Handlungsprinzip Gottes (Allah). Gott ist gerecht (al-ʿAdl) und Er handelt gerecht (al-Muqsiṭ). Gott will „kein Unrecht für Weltenbewohner“ (Koran 3,108), vielmehr gebietet Er immer und überall unter den Menschen Gerechtigkeit (Koran 16,90). Für die Menschen ist Gerechtigkeit somit eine zentrale religiöse und auch ethisch-moralische Verpflichtung in ihrem Handeln: „Seid gerecht!“ – heißt es im Koran ausdrücklich (Koran 5,8).
Gerechtigkeit ist universell und darf in keiner Weise kompromittiert werden. Sie ist keine Angelegenheit, die auf die Angehörigen einer bestimmten Gruppe, eines bestimmten Volkes beschränkt ist – sie gilt gleichermaßen auch für die Palästinenser:innen wie für die Israelis und umgekehrt, sie gilt gleichermaßen für Muslime, Juden und Christen. Wenn Gerechtigkeit zu einer selektiven Gerechtigkeit wird, wird sie zur schlimmsten Form des Unrechts. Gerechtigkeit verlangt den Mut, für das Recht derjenigen einzustehen, denen Unrecht widerfährt. Sie verlangt, sich mit den Schwachen und Unterdrückten solidarisch zu zeigen, mit all jenen, die keine Stimme haben oder deren Stimmen und Rufe nach Gerechtigkeit und Frieden unterdrückt werden.
Untrennbar mit Gerechtigkeit ist im Islam Frieden verbunden. Das Wort salām, das sowohl Frieden als auch Heil und Sicherheit bedeutet, ist nicht nur ein Zustand, sondern ein Ziel, das aktiv durch das gerechte Handeln unter und zwischen den Menschen angestrebt werden muss – schließlich ruft Gott im Koran „zum Haus des Friedens“ auf (Koran 10,25). Gerechtigkeit ist die Grundlage des Friedens, und ohne Gerechtigkeit bleibt Frieden lediglich ein leeres Wort.
Die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Frieden ist eine aktive Haltung des gegenseitigen Verstehens, des Vergebens und der Versöhnung. Es ist zu hoffen, dass diese Haltung die Menschen in Israel und Palästina erreicht. Es ist zu hoffen, dass Juden und Jüdinnen, Christ:innen und Muslim:innen im Nahen Osten zu einem Frieden kommen, der auf Gerechtigkeit beruht. Wir als Angehörige der drei Abrahamitischen Religionen rufen im Bewusstsein unserer gemeinsamen religiösen Wurzeln eindringlich dazu auf – so sehr dieser Aufruf derzeit möglicherweise sinnlos erscheint und in unserer Gesellschaft derzeit leider nicht einfach ist.
Die Abrahamitischen Religionen teilen die Werte Frieden, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit.
Wir Juden und Jüdinnen, Christ:innen und Muslim:innen in Deutschland sollten die Auswirkungen der jetzigen Situation im Nahen Osten nicht ausklammern. Wir müssen uns aktiv in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Die drei Abrahamitischen Religionen verbindet viel mehr als sie trennt: Wir teilen Werte wie Frieden, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.
Unsere Religionen und Geschichten sind durchdrungen von der Bedeutung des Rechts, einschließlich des Kriegsrechts und der Menschenrechte. Dieses Recht sollte verhindern, dass sich ein Verbrechen wie in der Schoa wiederholt. Gesetze – auch die religiösen – erkennen an, dass es Umstände gibt, unter denen eine militärische Aktion legal und zur Selbstverteidigung notwendig ist. Sie setzen aber auch klare Grenzen und stellen sicher, dass unser Verhalten unsere Menschlichkeit widerspiegelt. Sie gelten für alle, unabhängig vom Verhalten eines Gegners. Israelis und Palästinenser:innen haben beide das Recht auf ein Leben in Würde in einem eigenen Staat.
Frieden muss immer wieder neu verhandelt und erworben werden. Auch in Europa ist Frieden keine Selbstverständlichkeit mehr. Eines ist klar, im Nahem Osten und in Deutschland: Wenn es so viele offene Wunden gibt und wenn Missverständnisse und Vorurteile groß sind, ist es dringend, miteinander ins Gespräch zu kommen und Vertrauen zueinander aufzubauen. Das braucht Zeit, Engagement, Geduld, und ja: Liebe zum Menschen.
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Drs. Edward van Voolen, seit 1978 Rabbiner in den Niederlanden und Deutschland, von 1978-2013 Kurator und Kustos des Jüdischen Museums Amsterdam, von 2002-2023 Dozent am Abraham Geiger Kolleg (Potsdam), Mitglied in Rabbinerverbänden in den USA und Deutschland und im jüdisch-christlich-muslimischen Dialog engagiert, Mitglied im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken.
Dr. Esnaf Begić, in Bosnien und Herzegowina ausgebildeter Imam und islamischer Theologe, war als Imam und Generalsekretär des Bundesverbands Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland (IGBD) tätig. Seit 2010 lehrt und forscht er am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück. Auf verschiedenen Ebenen im interreligiösen Dialog engagiert, darunter im Gesprächskreis Christen und Muslime beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken und seit 2024 muslimischer Co-Vorsitzender des Gesprächskreises.
Prof. Dr. Heinz-Günther Schöttler, katholischer Priester, em. Professor für Pastoraltheologie und Homiletik, bis 2023 Dozent für Homiletik am Abraham-Geiger-Kolleg (Potsdam), seit 2004 Mitglied im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, zahlreiche Publikationen in den Themenbereichen ‘christlich-jüdischer Dialog’ und ‘christliche Theologie in der Gegenwart Israels’.
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