Es gibt die verschiedensten Adventskalender. Die meisten starten heute. Der Andere Advent startet erst morgen – dieses Jahr auch mit einer Ausgabe für Kinder. Von Gerrit Spallek
An den ersten von meinen Eltern selbst befüllten Adventskalender kann ich mich noch gut erinnern. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich damals war – sehr wohl aber, wie sehr ich mich über die Plastikpiraten gefreut habe, die hinter manchem „Türchen“ auf mich warteten. Später haben wir uns vor der Gruppenstunde die billigen Schokoadventskalender gekauft und alle 24 Schokoladenhäppchen auf einmal verputzt. Wir waren überzeugt, gegenüber dem Preis einer gewöhnlichen Tafel Schokolade ein regelrechtes Schnäppchen gemacht zu haben.
Während unserer Studienzeit haben meine Partnerin und ich uns gegenseitig Adventskalender gestaltet. Auf diese Weise überbrückten wir die Distanz der Fernbeziehung durch tägliche Überraschungen. Nachdem wir zusammengezogen waren, versuchten wir diesen schönen Brauch fortzuführen. Der folgende Advent offenbarte jedoch, was Zusammenziehen auch bedeuten kann: Wir hatten beinahe alle unsere Geschenke in denselben Läden gekauft. Häufig mussten wir morgens schmunzeln, weil wir uns gegenseitig mit denselben Produkten überraschen wollten.
Obwohl es das Überraschende ist, was mich zum Fan von Adventskalendern gemacht hat, begleitet mich ein gutes Jahrzehnt eine Konstante durch den Dezember.
Andere Adventskalender-Formate können nicht nur das Warten auf Weihnachten verkürzen. Sie bieten geradezu einen Vorgeschmack. Eine Freundin hatte beispielsweise während des Studiums einen „lebendigen Adventskalender“ organisiert. Jeden Tag öffnete jemand anderes ihre/seine WG-Tür, bereitete einen Adventsimpuls vor, stellte Glühwein auf die Herdplatte und Plätzchen auf den Tisch. Dieses Jahr war ich auf einer Adventskalender-Tauschparty: Im Vorfeld hatte jede(r) Teilnehmer(in) der Gastgeberin 24 kleine Geschenke vorbeigebracht. Diese hatte die Mitbringsel gemischt. Nach Hause sind wir jeweils mit einem Adventskalender gegangen. Die meisten Menschen, denen ich die diesjährige tägliche Überraschung verdanke, kannte ich bis zu dieser Party gar nicht.
Obwohl es das Überraschende ist, was mich zum regelrechten Fan von Adventskalendern gemacht hat, begleitet mich ein gutes Jahrzehnt eine Konstante durch den Dezember: Der Andere Advent, ein DIN-A4 Klapp-Adventskalender des ökumenischen Vereins Andere Zeiten e.V.
Texte und Bilder, die erinnern wollen, dass »manchmal etwas Großes in unsere Welt hineinschneit«.
Bis zum Dreikönigsfest wartet auf die Leserinnen und Leser täglich ein kurzer Text, eine Erzählung oder ein Gedicht, kombiniert mit Fotografien und Illustrationen. Sie wollen „uns daran erinnern, dass manchmal etwas Großes in unsere Welt hineinschneit“ und uns einladen, „einen anderen Blick auf das Leben, die Mitmenschen und die Welt zu werfen“. Der Kalender möchte täglich Grund zum Nachdenken, Anlass zur Meditation oder Auslöser von Diskussionen sein.
Die Texte belehren nicht von oben herab über eine vermeintlich eigentliche Botschaft des Advents. Auch zwischen den Zeilen finden sich keine theologischen Traktate. Keinem Brauchtum wird nachgetrauert. Der Andere Advent ist ein Angebot, in die Advents- und Weihnachtszeit einmal anders zu starten. Adventliche Wohlfühlthemen, wie Freundschaft, Glück und wohltuende Erinnerungsberichte, stehen im Mittelpunkt. Kleine Hinweise, wie die Erläuterung, was es mit dem Barbaratag auf sich hat, lesen sich unaufdringlich.
Der Hausfrieden am Frühstückstisch wird gewahrt.
Das Ziel des Anderen Advents ist bewusst ein anderes als das der gewohnten Morgenlektüren in der Zeitung oder auf Nachrichtenportalen. Der Blick gilt jenem, was uns mit dem, was wir von Weihnachten erhoffen, verbindet und nicht trennt. Die großen Streitthemen (Globalisierung, Flucht und Migration, Rechtspopulismus, Ökologie, Gender usf.) werden dieses Jahr höchstens durch die Hintertür zum Thema gemacht. Auf diese Weise wird der Hausfrieden am Frühstückstisch gewahrt. Das ist ein berechtigtes Anliegen. Möchte der Kalender jedoch wirklich Auslöser für Diskussionen sein, hätte die eine oder andere Provokation sicher gut getan.
Wir erfahren, wie aus einem heißen Getränk am Hauptbahnhof eine umfassende Initiative der Flüchtlingshilfe entsteht. Eine Berliner Taxifahrerin gibt einen Einblick in ihre Perspektive: wie sie auf die unterschiedlichsten Fahrgäste blickt, jeder und jedem ein Gespräch anbietet und wie gut es tun kann, sich einer fremden Person anzuvertrauen.
Kurz vor Weihnachten wird der Andere Advent mutiger.
Kurz vor Weihnachten wird der Andere Advent mutiger. Ein Text von Matthias Drobinski fragt: Hilft in der Welt von heute eher ein Versicherungsglaube oder ein Verunsicherungsglaube? Zwei Tage zuvor begegnet uns ein Morgengebet von Etty Hillesum, einer niederländischen Lehrerin, die als Jüdin in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Im Gespräch mit Gott reflektiert sie in bewegender Dichte und Tiefe ihre Gottesbeziehung. Ein Ausschnitt: »Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst.«
Langjährige Abonnementinnen und Abonnementen des Anderen Advents werden dem Adventskalender sicher wieder den einen oder anderen guten Gedankenimpuls verdanken. Andere Texte werden sie eher kalt lassen. Das ist die treue Leserschaft aber bereits gewohnt. Nicht jeder Text spricht jede(n) an. Das ist nicht nur verständlich, sondern auch gut so. Wer jedoch den Anderen Advent seit längerem verfolgt, wird auch bemerken, dass sich das Innovationspotential so langsam aufgebraucht zu haben scheint. Die große Überraschung für einen ganz anderen Advent kann auch die 23. Auflage dieses Adventskalenders nicht bieten. Dies hat jedoch einen nachvollziehbaren Grund. In diesem Jahr musste die Aufmerksamkeit der Redaktion auf zwei Projekte aufgeteilt werden.
Ein „tiefbegabter“ Pinguin und ein neunmalkluger Hamster führen humorvoll durch die Tage der Advents- und Weihnachtszeit.
Wer mit 16 Jahren in der ersten Ausgabe dieses Adventskalenders der Eltern geblättert hat, ist heute 39 Jahre alt. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sie oder er heute selber Kinder hat, die sich für einen anderen Advent interessieren, mit der Ausgabe für die Erwachsenen jedoch noch nichts anzufangen wissen. Hierauf reagierte die Redaktion mit einer tatsächlichen Überraschung: einer Juniorausgabe des Anderen Advents für Kinder. Die Nachfrage hat die Erwartungen des Verlages bei weitem übertroffen. Ende Oktober waren bereits alle Exemplare vergriffen. Vielleicht lassen sich aber bei manchem Buchladen noch vereinzelte Raritäten finden.
Wie sein „großer Bruder“ begleitet dieser Adventskalender die Kinder vom morgigen Vorabend des ersten Advents bis zum 6. Januar. Durch die Tage der Advents- und Weihnachtszeit führen humorvoll ein etwas „tiefbegabter“ (nach der Selbstbezeichnung von Rico in: Rico, Oscar und die Tieferschatten) Pinguin und ein neunmalkluger Hamster. Auf erst noch aufzutrennenden Doppelseiten finden Kinder täglich einen frischen Impuls zum Lesen, Basteln, Experimentieren, Spielen oder Rätseln. Morgen findet sich beispielsweise eine Anleitung, Knalltüten zu basteln, um den Jahreswechsel im Kirchenjahr als Vorgeschmack auf das „echte“ Silvester angemessen zu feiern.
Der Kinderkalender setzt stärker darauf, zum Ausgangspunkt von Interaktion zu werden.
Parallel zur Erwachsenenversion finden sich sonntags Erzählungen, „wie sich Weihnachten anfühlt“. Die Texte und Botschaften der Junioredition müssen den Vergleich mit der Version für die „Großen“ nicht scheuen: Es geht um Freunde, die nicht den Unterschied bemerken, nachdem Finn die Segelohren angelegt wurden; die neunjährige Liva, der zugetraut wird, sich um die tägliche Fütterung eines jungen Kalbs zu kümmern; David, der in seinem Ranzen einen Zettel mit einem Kompliment findet; Susanna, die ausgerechnet in der Weihnachtsmesse erfährt, dass Freundschaft es aushält, wenn die beste Freundin mit einer anderen Freundin mehr Zeit verbringen möchte; oder den Mut von Oscar, der belohnt wird, als er seinem Sportlehrer sagt, wie doof er es findet, dass sich dieser über einen anderen Mitschüler lustig macht.
Wesentlich stärker als die Erwachsenenversion setzt der Kinderkalender darauf, zum Ausgangspunkt von Interaktion zu werden: Das Adventopoly-Spiel braucht Mitspieler und die Anleitung zu einer Erzählmassage setzt darauf, dass „Bruder oder Papa, Freundin oder Mama, (…) dir die folgende Geschichte nicht nur erzählen, sondern auf den Rücken malen.“ Zum Nikolaus bekommen die Kinder (wie auch die Erwachsenen) zwei Geschenke, damit sie eines weiterverschenken können.
Kontrast zum Smartphone: Dosentelefon – funktioniert nur zu zweit.
Als Kontrast zum Smartphone findet sich eine Bauanleitung für ein klassisches Dosentelefon. Bei aller technischen Überlegenheit ist ein Unterschied zwischen beiden Modellen ganz wesentlich: Mit einem Dosentelefon kann ich mich nicht alleine beschäftigen. Das „Hören auf die leisen Töne“ (so die Überschrift) funktioniert mindestens nur zu zweit. Und für den Fall, dass niemand mehr zum Spielen und Erleben da ist, weil die Eltern wieder arbeiten müssen und die beste Freundin in die Skiferien gefahren ist, widmet sich der Kalender am Anfang des Jahres einer kleinen Reihe gegen die Langeweile und bietet Anregungen für sinnvolle Selbstbeschäftigungen.
Empfehlung: Werfen Sie einen Blick in das Exemplar Ihrer Kinder!
Ein empfohlenes Mindestalter für die Entdeckerinnen und Entdecker des ersten Anderen Advents für Kinder wird nicht genannt. Ein Blick auf die Altersangaben der Kinder, die im Kalender zu Wort kommen, legt eine Zielgruppe von Kindern ab acht Jahren nahe. Das scheint mir soweit auch realistisch zu sein. Aus guten Gründen findet sich auch keine Maximalangabe für das Alter. Ich kann es Leserinnen und Lesern nur empfehlen: Sollte Sie ein Text des diesjährigen Anderen Advents nicht ansprechen, werfen Sie doch einmal einen Blick in das Exemplar ihrer Kinder. Generell scheint es mir vielleicht der beste Rat für die Advents- und Weihnachtszeit zu sein: soviel dieser Tage wie möglich – Gott selbst zum Vorbild – aus den Augen eines Kindes zu erleben.
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Gerrit Spallek ist Theologe in Hamburg und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
Bild: Cover des Anderen Advents für Kinder; © Rostami/Andere Zeiten