Mit Gerhard Richters „Kerze“ beginnen wir unsere kleine künstlerische Reihe an den Adventswochenenden. Kuratiert und getextet von Hannes Langbein.
Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier…
Kerzen sagen uns im Advent die Zeit an. Der adventliche Countdown ist an der Zahl der brennenden Kerzen am Adventskranz abzulesen. Wie tief und wie regelmäßig sie abbrennen, lässt uns etwas über die Adventspraxis ihrer Besitzer erahnen. Kerzen lassen tief blicken. Über ihre physische Leuchtkraft hinaus leuchten sie bis weit in unseren Symbolhaushalt hinein: Adventslichter, Martinslichter, Geburtstagslichter, Friedenslichter, Tauflichter, Totenlichter…
Kerzen lassen tief blicken.
Kerzen haben die verschiedensten Funktionen und Bedeutungen: Auf Adventskränzen, Lampionumzügen, Geburtstagstorten, in Fenstern, auf Altären und Gräbern. Gerhard Richters „Kerze“ von 1982 hat das nicht: Sie hält sich aus allen Bezügen heraus. Es sind keine Hintergründe erkennbar. Man sieht nicht wo sie steht, in welchen Raum sie leuchtet, wie weit sie schon abgebrannt ist. Ohne Muster und ohne aufgedruckten Text lässt sie sich keiner Funktion zuordnen. Gerhard Richter nimmt sie gleichsam aus ihrem Funktionsbereich heraus in einen rein ästhetischen, ideellen Bereich hinein: Die Kerze an sich. Das Licht an sich.
Das Licht an sich.
Richters Kerze leuchtet nichts aus, evoziert keine metaphysischen Assoziationen durch Kontraste von Licht und Dunkel. Dank Richters Unschärfe-Technik rückt sie lediglich hinter einen leichten Schleier, der unsere Sehnsucht weckt. Vielleicht ist das die Fähigkeit der Kunst: Einen wohl vertrauten Gegenstand für einen Moment aus seinen Gebrauchszusammenhängen zu lösen, für einen Augenblick von seinen durch sie bestimmten Bedeutungshorizonten zu befreien und neu Sehen zu machen: Eine Kerze ist eine Kerze ist eine Kerze…
Ohne Kontext hat sie keine Bedeutung, steht ganz für sich, rückt auf Distanz, weckt damit unsere Sehnsucht nach Sinn und Bedeutung, und stellt plötzlich die Frage: Was ist das eigentlich, das „Licht, das im Dunkeln scheint“? – keine schlechte Frage für einen ersten Advent.
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Hannes Langbein ist Direktor der Stiftung St. Matthäus, Kulturstiftung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) und Kunstbeauftragter der EKBO.
Bild: „Kerze“ (1982) © Gerhard Richter 2020 (0207)