Ohne Geländer: Wolfgang Beck lädt ein zum Sprung aus theologischen und pastoralen Einhegungen. Eine Literaturempfehlung von Michael Lohausen
Eine Materialsammlung, die vor einigen Jahren von einem deutschen Bistum für die pastorale Arbeit ausgegeben wurde, stellte damals auch verschiedene Kirchenbilder zur Diskussion. Wie wird Kirche bzw. Gemeinde in der Zukunft aussehen? Das war der mit der Bildpalette verknüpfte Diskussionsimpuls. Ein Bild steht mir noch genau vor Augen: Gemeinde als Brücke(ngeländer). Das dazu im Materialheft abgedruckte Foto zeigt einen Ausschnitt von einer Brücke – mitsamt dem bildprägenden Geländer –, die irgendwo (weit) oben vor blauem Himmel verläuft und in luftiger Höhe möglicherweise die Spitzen von zwei Hochhäusern miteinander verbindet oder auch eine breite Autobahn oder einen größeren Fluss überspannt. Der Bildausschnitt verbirgt, wo die Brücke anfängt und endet, aber man erkennt deutlich Personen, die von links nach rechts auf dem Bauwerk marschieren, gleichgerichtet, mit gemäßigtem Tempo. Niemand schert aus.
Eine Kirche, die moralische Absturzkanten markiert?
Kirche bzw. Gemeinde – das will das Bild ins Gespräch bringen – kann ein Geländer sein für Menschen auf ihrem Lebensweg, sie kann oder soll dort, wo sich einmal daseinsrelevante Fragen auftun, moralische und dogmatische Absturzkanten markieren, gemeindlich-gemeinschaftliche Stabilität geben, sakramentale Griffpunkte anbieten, karitative Halteleinen spannen, Schritt für Schritt ein Vortasten begleiten, vor dem Hinunterfallen absichern. „Mit der Kirche auf Kurs bleiben“ könnte unter dem Bild stehen. Wer sich von Zeit zu Zeit an dem Brückengeländer festhält, dem oder der kann nichts Ernsthaftes passieren, der oder die kann ganz beruhigt sein, das Ziel wird auch dann nicht verfehlt, wenn man es zwischendurch mal aus dem Auge verloren hat. Eine solche Kirche lotst auch sporadische Zaungäste traumwandlerisch in den Himmel.
Wolfgang Beck tritt mit seinem neuen Buch, das 2021 an der Universität Graz im Fach Pastoraltheologie als Habilitationsstudie angenommen wurde, bewusst in den Gegensatz zu einem derartigen Verständnis von Kirche, die unbeeindruckt von einer Gesellschaft, die aus guten Gründen dabei ist, sich ein bis in die 2000er Jahre angelerntes Sicherheitsdenken und -streben rasch wieder abzugewöhnen, weiterhin mit Garantieofferten aufwarten will. Der Buchtitel – unter Bezugnahme auf die Philosophin Hannah Arendt: Ohne Geländer. Pastoraltheologische Fundierungen einer risikofreudigen Ekklesiogenese. Wolfgang Beck vermittelt in seiner Studie mehrere fundamentale Einsichten oder setzt sie neu zueinander ins Verhältnis:
- Erstens dass der Umgang mit dem Risiko für die Gegenwartsgesellschaft(en), in die wir hineingestellt sind, zur Grundkonstituente geworden ist – wie sich an den aktuellen Vulnerabilitäts- und Resilienzdiskursen zeigt –, weil wir inmitten vermehrter sozialer, ökonomischer und ökologischer Vielfältigkeit, Ambivalenz, Brüchigkeit, Auswahlverbreiterung und Unübersichtlichkeit offensichtlich gar nicht anders handlungsfähig sein können als auf die Art und Weise einer bewusst gelebten und gestalteten Risikokultur.
- Zweitens dass Theologie und Kirchenentwicklung beispielsweise mit dem Konzept jesuanischer Jünger*innenschaft, mit der Kenosis-Christologie, mit dem Verständnis von Prophetie und mit den pastoralgemeinschaftlichen Anschüben aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil ganz zentrale risikoaffine bzw. -freundliche Gestaltungselemente bereithalten.
- Drittens dass die Antwort, die mit der kirchlichen Praxis auf die aktuelle Situation gegeben wird, deshalb nicht sein kann, Vereindeutigung, Homogenisierung und Institutionalisierung zu stärken, weil solche Formen von Selbstverfestigung und Risikoabwehr den Widerspruch zur gesellschaftlichen Entwicklung nur noch weiter aufreißen.
- Dass es demgegenüber viertens für Kirche und Pastoral entscheidend darauf ankommt, aus „zeitgenössischer Solidarität“ (112) und einer „Grundhaltung des Dialogischen“ (164) heraus sich eben nicht paternalistisch-richtunggebend an die Seite von religiösen Sucher*innen zu stellen, sondern die eigene Risikoexistenz, die sie mit den Menschen von heute voll und ganz teilt, konsequent anzunehmen – und darin, in der Weise einer selbst noch einmal ungesicherten, instabilen, damit aber auch durch und durch aufbruchskräftigen Hoffnung, neue „Spielräume und Entwicklungspotenziale“ (174) für sich zu entdecken.
Religiöse Suchbewegung statt Mission Manifest!
Liturgie, Predigt, Sakramente, Mission und andere kirchliche Praxisfelder können Orte von solchen Entdeckungszusammenhängen werden – das wird vor allen Dingen in den Abschlusskapiteln ausführlich und anregungsvoll deutlich gemacht, ohne dass Wolfgang Beck für die Pastoral so etwas wie fixe Handlungsformate vorzeichnen oder Leitplanken einziehen würde, die den im Buch angelegten Impetus einer risikofreudigen Pastoraltheologie methodisch im selben Moment wieder einkassieren würden. Die Analysen zu der Initiative ‚Mission Manifest‘ (158f.) und zu ‚Neuen Geistlichen Gemeinschaften‘ (226f.) bekommen in diesem Licht besondere Geltung. Denn die Studie führt deutlich vor Augen, dass von derartigen populären Kirchenphänomenen, die aktiv an einem Image von Pluralitätsoffenheit, Charismabewusstsein und Projektkultur arbeiten, in Wirklichkeit das genaue Gegenteil erwartet werden muss, nämlich „Homogenisierung“, die „Negierung biographischer Abweichungen“ (158) und „eine ausgesprochene Stabilitätsorientierung“ (227).
Das Buch von Wolfgang Beck trifft einen Nerv. Läuft doch in der innerkirchlichen Diskussionslandschaft, die sich besonders öffentlichkeitswirksam, aber beileibe nicht nur am Synodalen Weg auskonturiert, hinter vielen Einzelthemen mit steigender Virulenz die Streitfrage mit, wie eine marginaler werdende Kirche in der Gesellschaft ihren Platz eigentlich ausfüllen soll: als erschütterungsresistenter Orientierungsanker für mittlerweile ganze Generationen, die das Glauben – angeblich – weitgehend verlernt und sich kirchlich meilenweit distanziert haben, oder als religiöse Suchbewegung, die in der Akzeptanz ihrer eigenen Glaubensschwäche nur das eine garantieren kann: dass sie allen anderen, die gleichzeitig mit ihr auf der Suche sind, an Gottessehnsüchten und Gottesnähe nichts voraushaben muss?
Aufforderung zur [Selbst-] Überschreitung!
Wolfgang Beck bezieht an dieser Stelle klar Position: Seine Idee von Theologie und Kirche zielt auf ein Sich-Irritieren-Lassen von der Gegenwart, auf ein „Generieren von Entdeckungen in einem offenen Prozess“, auf den Rückbau von Domestizierungs- und Integrationsstrategien in definierte Traditionshorizonte, auf „[Selbst-]Überschreitungen, mit denen kreative Neukonstellierungen möglich werden“ (56). Die Sache mit dem Geländer ist offensichtlich eben auch eine Frage der Perspektive: Was für die einen das Gestänge, an dem man sich entlangschiebt, um nicht aus der Bahn zu geraten, ist für die anderen möglicherweise nur die Vergitterung vor dem eigenen Gehege, das man überspringt oder in dem man gefangen bleibt.
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Text: Dr. Michael Lohausen studierte Katholische Theologie in Bonn und Würzburg. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Bild: Ausschnitt Buchcover, Wolfgang Beck, Ohne Geländer: Pastoraltheologische Fundierungen einer risikofreudigen Ekklesiogenese, Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2022.