Angesichts von belastenden und auch bestärkenden Erfahrungen als transgeschlechtliche Person, als Theologin und Seelsorgerin in der katholischen Kirche beschreibt Flora Becker drei verschiedene Imaginationen der Zusammengehörigkeit.
In ersten Grußworten am Abend seiner Papstwahl hat Franziskus humorvoll angemerkt, dass die Kardinäle „fast bis ans Ende der Welt“ gegangen waren, um Rom einen Bischof zu holen. Das, was vom Ende der Welt kommt (die Flugzeit Frankfurt a. M. – Buenos Aires beträgt annähernd 14 Stunden), hätte ja noch Anspruch darauf, sonderbar, anders zu sein. Aber innerhalb Europas sollte alles bekannter, sogar gleichmäßiger sein, mit den immer weniger werdenden Christ*innen als immer intimeren Glaubensgenossenen. Sprich: ermutigte Paulus genau die Nachfolger*innen Christi in Europa dazu, einmütig, einträchtig, eines Sinnes zu sein und gleiche Liebe füreinander zu haben (Phil 2,2)? Ein kleiner Kontinent, eine gemeinsame Geschichte, ein zweitausendjähriger Glauben, eine unterschiedsunabhängige Liebe sollten nicht viel Platz für große Überraschungen lassen … oder?
Ermutigte Paulus die Nachfolger*innen Christi in Europa dazu, einmütig, einträchtig, eines Sinnes zu sein und gleiche Liebe füreinander zu haben?
Bild 1. Kroatien. Es ist Sommer, Spätnachmittag. Ich sitze in einer halbdunklen leeren Kirche, in der letzten Bank, versunken in Gedanken. Mit dem Raum bin ich wohl vertraut, da ich hierher schon als kleines Kind häufig gegangen bin. Heute ist aber anders: zum ersten Mal als Frau. Ich habe ein langes Kleid an, und bin (nur sehr) diskret geschminkt. Die Küsterin bemerkt meine Anwesenheit und ruft in großer Aufregung den Priester. Er (jünger als ich) kommt sogleich angerannt und schreit mich an: „Im Hause Gottes werden solche verdrehten Kreaturen nicht verweilen! Unsere kroatischen Veteranen haben nicht im Krieg darum gekämpft, damit der heilige katholische Glaube unserer Ahnen durch Genderideologie zugrunde geht! Zunächst weg mit dieser weiblichen Kleidung, dann geh beichten, und danach bete zum gerechten Jesus, dass er diese hässliche Unreinheit von dir wegnehmen möge. Bis dann verschwinde von diesem heiligen Ort!“ Unterdessen fasst er mich fest bei der Hand (ich leiste keinen Widerstand) und kurz darauf lande ich auf der Straße.
Unterdessen fasst er mich fest bei der Hand und kurz darauf lande ich auf der Straße.
Bild 2. Deutschland. Am Ende des Segnungsgottesdienstes für Liebende in der Aktion #liebegewinnt breite ich meine Hände über die Beteiligten aus und spreche den Segen: „Gott halte seine Hand über euch und eure Liebe. Gott stärke eure Liebe und segne euch …“ Das tue ich im Namen der Kirche, ruhig und geistlich intensiv präsent, nicht aus Empörung oder Trotz gegen die Hierarchie, sondern aus tiefster Überzeugung: Jede*r Mensch, aus Liebe erschaffen, hat am ewigen Liebessegen teil, und deshalb auch Anspruch auf diesen Segen – egal ob allein oder in Partnerschaft, sowie unabhängig von geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung.
Gott stärke eure Liebe und segne euch!
Zwischen diesen Bildern liegt eine Flugdistanz von 2 Stunden und eine Zeitdistanz von 6 Wochen.
Natürlich könnte man sagen, die beiden Situationen sind zwar exemplarisch, aber keine Regel – und man hätte Recht. Als eine trans* Person habe ich deutlich trans*freundlichere Situationen in Kroatien, und ebenso trans*feindliche Situationen in Deutschland erlebt, wo ich seit einigen Jahren wohne. Und wenn man tiefer bohren will, wird man feststellen: Jede Situation, jede Erfahrung, jede Kultur, jede Nation, jede Religion, jedes Muster usw. lässt sich letztendlich auf konkrete Menschen* zurückführen. Mit anderen Worten, man kann schließlich nicht von queerfeindlichen oder queerfreundlichen Situationen, sondern nur von queerfeindlichen oder queerfreundlichen Personen sprechen. Und doch vermitteln die beiden Bilder noch viel mehr als die bloßen isolierten individuellen Positionierungen, und zwar dadurch, dass sie mit den gesellschaftlichen (und insofern auch mit den kirchlichen) Strukturen in Wechselwirkung stehen.
konkrete Menschen – und doch mehr als die bloßen isolierten individuellen Positionierungen
Es wäre spannend, verschiedene Methodologien anzuwenden und verschiedene Interpretationsmodelle anzubieten, um die generell unterschiedliche Positionierung der Katholischen Kirche in Deutschland und in Kroatien queeren Personen gegenüber zu schildern.[1] Natürlich spielt dabei der Zusammenhang zwischen dem „Nationalen“ und dem „Katholischen“, alles in einem Kontext von geschichtlich und soziokulturell bedingten Identitätsverständnissen, eine wichtige Rolle. Aber ich will versuchen, die Dinge theologisch zu hinterfragen, und zwar im Hinblick auf zwei Grundparadigmen des christlichen (und insoweit des kirchlichen) Selbstverständnisses: Geschwisterlichkeit und Freundschaft. Mein Anliegen ist nicht, diese zwei Interpretationsmodelle des Christ-Seins anzweifeln, oder für ihre Abschaffung zu plädieren, sondern sie zu verwenden, um zu zeigen, wie untrennbar queere und nicht-queere Menschen* zueinander gehören, und wie wesentlich sie aufeinander verwiesen werden.
Grundparadigmen des christlichen (und insoweit des kirchlichen) Selbstverständnisses
Das immer noch weit überwiegende Paradigma der Geschwisterlichkeit geht davon aus, dass Christ*innen untereinander Geschwister (nicht so lange her: Brüder) sind, weil sie den gleichen Vater haben, den Vater Jesu (Joh 20,17). Dieses Paradigma hatte im Laufe der Geschichte viele Glanzpunkte, insbesondere in Momenten, in denen all diejenigen, die einmal für die Feinde des Christentums gehalten wurden, als Geschwister anerkannt worden sind (Jüd*innen, Agnostiker*innen usw.).
Es gibt aber zwei Gründe, aus denen ich die Geschwisterlichkeit als Paradigma in diesem konkreten Fall unpassend finde. Der erste besteht darin, dass „Geschwister zu sein“ auf eine Notwendigkeit verweist. Es geht grundsätzlich um ein Zwangsverhältnis, das durch die Geburtszufälligkeit zugewiesen ist. Das spiegelt zwar die Realität des gemeinsamen Schicksals der Menschen* – wir haben die Bedingungen, in denen wir uns befinden, nicht selbst ausgewählt, sondern wir sind, insbesondere gilt das heute, füreinander global verantwortlich. Aber genau deshalb ist das Paradigma schwach: Es verdeutlicht nämlich keinen „Mehrwert“ des Christ-Seins, bis auf die Binsenweisheit: Wir alle sind in den gleichen Mist getaucht. Und man braucht gar nicht den christlichen Glauben haben, um den Anderen zu helfen, aus dem Mist herauszukommen; das tun auch NGOs. Wo liegt also der Unterschied?
ein Zwangsverhältnis, das durch die Geburtszufälligkeit zugewiesen ist
Außerdem ist in diesem Paradigma, das bis in die Anfänge der Menschheit zurückverfolgt werden kann, ein uraltes tierisches Verhaltensmuster enthalten. Und dies lautet: Nur innerhalb des engsten Kreises von denjenigen, an deren Blut ich teilhabe, bin ich sicher vor Räubern, die überall lauern (Binarität „wir drinnen“ und „die draußen“). Von daher ist die Hauptaufgabe in diesem Leben die Menschen*, die gleichen Blutes sind, zu erkennen und an ihnen festzuhalten, und alle anderen als Feind*innen zu kennzeichnen. Dieses Prinzip, das damals das Überleben in einer lebensgefährdenden Umgebung gewährleistete (die Höhle war zu klein, um allen, die in Gefahr geraten waren, Zuflucht anzubieten), hat aber auch die Blutrache legitimiert, und in unserer Zeit die tödlichen Blutideologien ermöglicht.
In Anbetracht dieses Paradigmas wurden und werden „andersartige“ und somit auch queere Menschen*, als „diejenigen des anderen Blutes“, für Feinde des eigenen Klans gehalten. Eine Kirche der Geschwisterlichkeit bleibt für sie dauernd geschlossen. Sie als „Geschwister“ anzuerkennen, würde logisch konsequent bedeuten, die eigene Identität in Frage zu stellen und zu guter Letzt den elitären Kreis der Blutverwandtschaft aufzulösen. Aber Jesus hat genau das gemacht: sein Blut vergossen, damit jede*r Zugang zum Leben endgültig haben kann.
„andersartige“ und somit auch queere Menschen* als „diejenigen des anderen Blutes“
Das zweite Paradigma ist die Freundschaft, von Jesu beim letzten Abendmahl gegründet (Joh 15,13-15). Freund*innen sind diejenigen, die in einem nicht-zwanghaften Verhältnis stehen; denn das Wort Freund stammt von frei ab. Wenn Blutsverwandtschaft mich nicht mehr den Nächsten verpflichtet, wenn der*die Andere (Freund*in) mir zunächst nicht Auf-gabe, sondern Gabe ist (bei Geschwisterlichkeit ist das eher umgekehrt), dann kann ich diese*n Andere*n in ihrer* Einzigartigkeit wahrnehmen. Einzigartigkeit setzt Unterschiedlichkeit und Anderssein voraus, das ich im besten Fall ernstnehmen, annehmen, anerkennen und immer tiefer kennenlernen möchte. Eine gegenseitige Zuneigung ist dabei essenziell, da sie uns füreinander aufschließt. In diesem Aspekt kommt Freundschaft der Gnade sehr nah, zumindest im hebräischen Sinne von Zuneigung (hen), etwa wie eine Mutter sich über ihr Kind in der Wiege beugt.
Die fromme Idee bleibt oft unverwirklicht.
Im Unterschied zu einer undurchlässigen Kirche der Geschwister zeigt sich eine Kirche der Freund*innen hinsichtlich queerer Menschen* offen. Aber damit aus Möglichkeit auch Wirklichkeit wird, ist es erforderlich, die bewusste und gegenseitige Entscheidung zu treffen, die*den Andere*n als Freund*in anzunehmen. Die fromme Idee, dass queere Menschen, die Freund*innen Gottes sind, auch zu den Freund*innen von denjenigen werden, die sich rühmen, Freund*innen Gottes zu sein, bleibt jedoch oft unverwirklicht. Denn entweder will die nicht-queere Partei[2] den queeren Menschen* gar nicht als Freund*in in Christus annehmen, oder sie erkennt zwar die queere Partei als Freund*in Christi an, aber nicht gleichberechtigt, sondern vielmehr als kranke*n, unvollständige*n, behinderte*n Freund*in, die*der zunächst und unbedingt eigenes Innerstes ändern muss, um volle Freundschaft zu verdienen. Jede*r aber weiß: der Versuch, eine*n Freund*in „nachzuschaffen“ oder nach eigenem Maße zu gestalten[3] ist ein Widerspruch zur Freundschaft, und aus theologischer Sicht auch ein Angriff auf das Bild Gottes, sowie eine Entwertung des Schöpfer(werk)s in seinen „sehr gut“ erschaffenen Geschöpfen.
nur als kranke*n, unvollständige*n, behinderte*n Freund*in
Zudem sind Lebensgeschichten von queeren Menschen* meistens von Verletzungen sehr belastet, die aus einem Umgang seitens der nicht-queeren Partei entstanden sind, die nicht auf Augenhöhe und respektvoll war. Diese Verletzungen, in zahlreichen Formen und von der Intensität her sehr unterschiedlich, behindern beträchtlich die queere Seite, sich auf die Freundschaftsbeziehung einzulassen.
Ein weiterer Nachteil des Freundschaftsparadigmas besteht darin, dass das Freundschaftskonzept einen relativ engen Kreis von vertrauten Personen versteht; es ist nicht möglich, mit allen Leuten befreundet zu sein.[4] Im nächsten Schritt heißt das, dass man Freund*innen frei auswählt, meistens vom alten Freundschaftskriterium „das Gleiche wollen, und das Gleiche nicht wollen“ geleitet. Aber dann kommen Geschmäcke, Wünsche und Bedürfnisse (manchmal leider auch unterliegende Pathologien) des*der Auswählenden ins Spiel. Und das verweist auf eine kriteriologische Subjektivität, bzw. Willkürlichkeit.[5]
Wünsche und Bedürfnisse (manchmal leider auch unterliegende Pathologien) des*der Auswählenden im Spiel
Als letztes ist die Freundschaft als Paradigma genauso exklusiv wie die Geschwisterlichkeit, weil auch hier der Gegenbegriff, Feindschaft, auf der anderen Seite steht. Darüber hinaus, da es nicht auf der Notwendigkeit, sondern auf der Freiheit beruht, übersteigt Freundschaft die Binarität der Geschwisterlichkeit und ermöglicht, neben der Freundschaftlichkeit und Feindlichkeit, auch das dritte gefährliche Verhältnis – Gleichgültigkeit.
ein drittes Paradigma, das die Binarität übersteigt
Deswegen finde ich unerlässlich, das dritte Paradigma einzubringen, das weder vorausbestimmt noch willkürlich ist, und das die in der Realität „des Feindes“ sichtbare Binarität in beiden Paradigmen übersteigt. Dies sehe ich in der Anrede „der*die Geliebte Gottes“ (Lk 2,14; Röm 1,7). Einfach weil erschaffen, weil aus Liebe erschaffen und deshalb gut erschaffen, in sich und an sich wertvoll. Zusätzlich hat diese Anrede eine deutliche christologische Prägung, da der Mensch* zum Geliebte*n Gottes in Christi Jesu, dem Urgeliebten Gottes, gemacht wurde (Mt 12,18; Eph 1,6). Das ist wohl auf der Spur vom griechischen Wort für Gnade (charis), das, im Unterschied zum hebräischen hen, etwas Objektives – Charme und Anmut des Geschöpfes – ausdrückt. Dieses Paradigma ist aber radikal offen, weil es jede*n Menschen umfasst und keinen Interpretationen unterliegt. In einer Kirche der Geliebten Gottes sind queere und nicht-queere Menschen* gleichberechtigt. Gleichzeitig behalten die Queeren die Deutungshoheit im Definieren eigener queerer Identität. Und, nicht weniger wichtig, es ist keinen Platz mehr dafür vorhanden, gleichgültig zu sein.
radikal offen, weil es jede*n Menschen umfasst und keinen Interpretationen unterliegt
Katholizität bedeutet eine völlige Entäußerung von Zugehörigkeit(en) sowohl durch Blut als auch durch wählerische Zuneigung. In der kenotischen Urtiefe findet man nur die Realität des*der Geliebten Gottes, die in seiner*ihrer Vielfalt und in seinem*ihrem Anderssein unfassbar schön ist, aber in seiner*ihrem unbedingten Anspruch unerbittlich ist: selbst, wenn ein*e Einzige*r draußen bleibt, ist es mit der Kirche vorbei.
—
Nachwort: Dieser Beitrag wurde vor der Abstimmung über den Grundlagentext „Leben in gelingenden Beziehungen“ verfasst. Dieses Ereignis wirft selbstverständlich ein neues Licht auf den Synodalen Weg, auf die Prozesse der Kirchenentwicklung, und schließlich auf diesen vorliegenden Text und seine warmen Farben, mit denen die Katholische Kirche in Deutschland gemalt wurde. Ich weiß wohl (und das ist schmerzhaft), dass viele queere Personen, weil vom System Kirche verletzt, sich mit der hier ausgelegten Positionierung nicht identifizieren können. In diesem Sinne bitte ich jede*n Leser*in, der*die eine andere Erfahrung gemacht hat, um Vergebung.
Dr. Dr. Flora Becker ist eine trans* Frau, berufstätig als Pastoralreferentin im Bistum Hildesheim.
[1] Der Stand der Dinge ist in der Tat nicht so schlicht, wie hier vorgestellt. Auch wenn das Bild in Deutschland divers und komplex ist, mit deutlichen Unterschieden etwa zwischen den Bistümern (oder genauer gesagt zwischen den Positionierungen von einzelnen Bischöfen), herrscht in der katholischen Kirche in Kroatien (hier meine ich die Hierarchie) diesbezüglich eine so hermetische Uniformität, dass andere Stimmen, mit der umso bemerkenswerten Ausnahme vom Erzbischof Mate Uzinić, kaum noch zu hören sind.
[2] Unter dem Begriff nicht-queere Partei werden diejenigen Christ*innen, die sich als heterosexuell und cisgeschlechtlich erklären, verstanden. Es ist jedoch möglich (und das kommt nicht selten vor, selbst unter den Klerikern und Ordensmenschen), dass diese Personen sich tatsächlich mit eigener nicht-heterosexuellen Orientierung, bzw. eigener nicht-cisgeschlechtlichen Identität aus verschiedenen Gründen nicht auseinandergesetzt haben, was dann, besonders in einer männlich dominierten Machtstruktur wie Kirche, und in einer sich daraus ergebenden Angstkonstellation, zur Folge auch eine harsche Queerfeindlichkeit haben kann.
[3] Diese „Nachschaffung“ hat mit der heiligen Aufgabe, den Anderen zu helfen, zur Fülle Christi zu gelangen (Eph 4,13), offensichtlich gar nichts zu tun.
[4] Eine tiefe solidarische Beziehung mit allen Geschöpfen ist kraft der Freundschaft Christi trotzdem erwartet, laut der alten Volksweisheit: „Die Freund*innen meiner Freund*innen sind meine Freund*innen.“
[5] Als ein extremes Beispiel hebe ich den Trinkspruch hervor, den ich bei einer Klerikerversammlung erlebt habe: Laicus numquam amicus! („Den Laien nie zum Freund!“).
Bild: Flora Becker