Kirche ist im Krisenmodus – immerwährend und immer mehr. Eigentlich zeigt Krise einen Wendepunkt an. Ist die Kirchenkrise Dauerzustand oder ist Dauer kein Modus von Kirche? Fragen von Birgit Hoyer
„Wir haben das Bewusstsein der Sterblichkeit und der Endlichkeit verloren,“ schreibt Fulbert Steffensky in seinem Büchlein „Mut zur Endlichkeit“.1 Er analysiert, dass uns Zurückhaltung, Beobachtungsfähigkeit, Empathie und vor allem Zeit fehlen. „Eine Aktivität aber, die die Kunst der Passivität nicht kennt, wird bedenkenlos, ziellos und erbarmungslos. Die passiven Stärken des Menschen gehen verloren: die Geduld, die Langsamkeit, die Stillefähigkeit, die Hörfähigkeit, das Wartenkönnen, das Lassen, die Gelassenheit; um zwei alte Worte zu nennen: die Ehrfurcht und die Demut.“2
Ehrfurcht und Demut
Was für Menschen gilt, lässt sich auch auf Institutionen übertragen. Gerade für die Kultur christlicher Kirchen, für die Organisation ihrer Strukturen und Abläufe und die Weitergabe ihrer Botschaft in Wort und Tat sind diese beiden Worte wegweisend: Ehrfurcht und Demut im Angesicht von Sterblichkeit und Endlichkeit.
Was wäre, wenn wir kirchliche Kultur „endlich“ denken? Wie lässt sich Kirche gestalten im „Gedenke Mensch, dass du Staub bist!“. Dabei geht es nicht nur darum, den eigenen Tod vor Augen zu haben, sondern um die Begrenztheit allen Lebens auf der Erde. „Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit.3 Ein Schlüsselerlebnis in diesem Kontext war für mich der ungeplante Besuch einer Ausstellung4 im Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne in München 2018:
Does permanence matter?
Gibt es nach Kirche etwas Beständigeres als Städte, Gebäude, Architektur? Und trotzdem die Frage im Architekturmuseum: Braucht es Dauer? Seitdem lässt mich der Begriff des Ephemeren, des Unbeständigen nicht mehr los und die mit der Ausstellung formulierte Frage: „Was wäre wenn … wir nicht länger von Beständigkeit als definierendem Merkmal von Architektur ausgehen würden? Wenn wir stattdessen Unbeständigkeit als eine standardmäßige Eigenschaft von Städten betrachten? Rund um den Globus entstehen flexible Architekturkonfigurationen auf temporärer Basis. [… Sie] kommen bei religiösen wie kulturellen Veranstaltungen zum Einsatz, können jedoch auch die Form von Märkten, Militärcamps, Flüchtlingslagern oder sogar temporären Bergarbeiterstädten annehmen. Die [Architektur …] spürt einem globalen Phänomen nach, das angesichts der aktuellen Lage von Massenmigration aufgrund von Klimawandel, politischen Konflikten und Naturkatastrophen immer vordringlicher wird.“5
Was wäre wenn … wir nicht länger von Beständigkeit als definierendem Merkmal von Kirche, von Gemeinde ausgehen würden? Wenn wir stattdessen Unbeständigkeit und Endlichkeit als eine standardmäßige Eigenschaft von Kirche und Welt betrachten? Wenn Kirche globalen Phänomenen nachspürt, unter deren Bedingungen Leben gelebt wird?
Ephemere Kirche?
Wie kommen wir als Christ*innen eigentlich zu der Überzeugung, dass alles Bestand haben müsste – angesichts des Kreuzes, angesichts des Geistes? In seinem Pfingstkommentar 2018 schrieb Heribert Prantl: „Er lässt sich nicht festhalten, nicht beschwören, nicht digitalisieren. Der Geist weht, so wird es über ihn gesagt, wo er will. Die prägnanteste Beschreibung ist von Paulus: ‚Wo Gottes Geist ist, da ist Freiheit.'“6 Der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung fragt öffentlich die Ressourcen christlicher Theologie an: Pfingsten als Fest für den Geist der Freiheit. Der Geist widersetzt sich jedem Zugriff auch dem der pastoralen Bürokratie, schrieb der Innsbrucker Bischof Glettler auf feinschwarz.net. „Er steht für den Einbruch des Neuen und menschlich Nicht-Machbaren.“7
Was wäre also, wenn wir diesen Hinweisen Glauben schenken? Was wäre, wenn … wir nicht länger von Beständigkeit als definierendem Merkmal von Kirche als Volk Gottes, von Gemeinde ausgehen würden? Wenn wir stattdessen Unbeständigkeit, den Geist der Freiheit als eine standardmäßige Eigenschaft von Kirche und Welt betrachten?
Was wäre wenn … wir nicht länger von Beständigkeit als definierendem Merkmal ausgehen würden?
Ephemere Bauten, Gebilde, Institutionen, Strukturen reagieren auf gesellschaftliche Wirklichkeiten, in denen die Eindeutigkeiten, die Sicherheiten, die Beständigkeiten schwinden. Michel Foucault hat diese Wirklichkeiten bereits 1967 – interessanter Weise in einem Vortrag vor Architekten beschrieben: „Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.“8
Eine ephemere Welt der permanenten Vervielfältigung leben wir in uns und um uns. Die Psychologin Helga Bilden beschreibt ihre Bedingungen folgendermaßen: „Die eigene innere Vielfalt zu akzeptieren und eine Vielzahl von Formen des Individuum-Seins zu akzeptieren ist […] eine Voraussetzung, um mit Pluralität in der Gesellschaft leben zu können, ohne rigide unterordnen und ausgrenzen zu müssen.“9
Ephemer ist die Welt, die der Soziologe Hartmut Rosa beforscht und in der sich der Mensch nicht mehr langfristig, über die ganze Strecke seines Lebens hin entwirft, „sondern […] nun alle paar Jahre abschätzen [muss], ob er noch richtig liegt mit der Art, wie er lebt, wohnt und arbeitet“10.
Ephemer ist die Kirche, die der Fundamentaltheologe Medard Kehl definiert als eine, die mit dem Unbeständigen, mit ihrer eigenen Unbeständigkeit rechnet: „Der Geist des Auferstandenen setzt die Kirche als Zeichen seiner Kraft, nicht einmal, sondern immer wieder neu. Der Geist verhilft der Kirche immer neu zur Identifizierung mit der ursprünglichen Botschaft des Evangeliums. Die identifizierende Kraft des Geistes erweist sich eben darin, dass sich die Kirche mit ihrer Botschaft angstfrei in wirklich neue geschichtliche Situationen hineinbegeben und darin (nicht davor oder darüber) ihre jeweils neue Identität im Glauben finden kann.“11
Wie könnte eine Kirche aussehen, die sich in der Vergänglichkeit des Lebens, in Situationen, die flüchtig sind, sich ständig vervielfältigen, bewegt, die das Flüchtige aufspürt und das Nicht-Machbare, das Unperfekte, Hoffnung, Glaube, Sinn zum Thema macht, die flüchtig wirkt, nicht in input-output-Mechanismen denkt, sich ereignet in Begegnung, in Beziehungen?
Eine Kirche des Flüchtigen?
Was würde es in dieser ephemeren Kirche bedeuten, Eucharistie zu feiern, „nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen“12?
Wer sind die Kompliz*innen, die Verbündeten dieser Kirche?13 Wer ist das Volk Gottes, sind die Menschen, die gemeinsam zur Tat schreiten?
Wo sind die Lernwerkstätten dieser Kirche? Die Räume des Quer-Fragens und Quer-Antwortens? Die überkonfessionellen Orte der Kontemplation14, an denen Spiritualität und Menschrechte zusammenspielen, Friede, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gestärkt werden, sich die Seele ausdehnen kann?
Was wäre wenn …
—
Text: Birgit Hoyer, Praktische Theologin, Mitglied der Redaktion feinschwarz.net.
Bild: Birgit Hoyer
- Steffensky, Fulbert, Mut zur Endlichkeit. Sterben in einer Gesellschaft der Sieger, Stuttgart 2007, 6. ↩
- Steffensky, Fulbert, Mut zur Endlichkeit. Sterben in einer Gesellschaft der Sieger, Stuttgart 2007, 10. ↩
- Steffensky, Fulbert, Mut zur Endlichkeit. Sterben in einer Gesellschaft der Sieger, Stuttgart 2007, 21. ↩
- Lepik, Andres, della Giustina, Marcello, Ursini, Chiara (Hg.), Does permanence matter? Ephemeral urbanism. Ausstellungsband, Augsburg 2017. ↩
- https://www.architekturmuseum.de/publikationen/permanence-matter-ephemeral-urbanism/. ↩
- https://www.sueddeutsche.de/politik/pfingsten-2018-geist-und-ungeist-1.3985196, Download 29.6.2020. ↩
- https://www.feinschwarz.net/glettler-kirche-und-kunst/#more-10890. ↩
- Dieser Vortrag wurde von Michel Foucault in Tunesien geschrieben und vor dem Circle d’études architecturales am 14. März 1967 gehalten. Er war Teil einer Installation in einer Berliner Ausstellung und wurde seitdem in zahlreichen Kontexten wieder verwendet. Diese deutsche Übersetzung stammt aus: Idee, Prozess, Ergebnis: die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt; eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zum Berichtsjahr 1984 der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987, 15. September bis 16. Dezember 1984. ↩
- Bilden, Helga, Das Individuum – ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste. In: Keupp, Heiner/Höfer, Renate, Identitätsarbeit heute. Frankfurt a.M. 1997, 227–249, hier 227f; Download unter: http://www.kuveni.de/bildenselbste.pdf 29.06.2020. ↩
- Hartmut Rosa, Techniken zur Zeitersparnis, Download unter: http://www.wiwo.de/erfolg/beruf/hartmut-rosa-techniken-zur-zeitersparnis/9229108-2.html. ↩
- Kehl, Medard, Kirche als Institution. Zur theologischen Begründung des institutionellen Charakters der Kirche in der neueren deutschsprachigen katholischen Ekklesiologie (= Frankfurter theologische Studien. Nr. 22). 2. Auflage, Frankfurt am Main 1978, 191. ↩
- Papst Franziskus, Amoris laetitia, Anm. 351 ↩
- „Mittäterschaft ist nicht nur eine zeitgemäße, sondern auch eine äußerst produktive Form des temporären Zusammenschlusses.“ zitiert nach Gesa Ziemer, Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität, Bielefeld 2013. ↩
- vgl. http://www.rothkochapel.org/, Download 29.6.2020 ↩