Integration ohne Separation – das ist die politische Herausforderung eines kosmopolitischen Zeitalters. Mit Papst Franziskus und dem Soziologen Zygmunt Bauman lässt sich diese These diskutieren. Marianne Heimbach-Steins hat den Versuch unternommen…
In seinem Buch „Retrotopia“ (2017) vertritt Zygmunt Bauman die These, es sei ein Charakteristikum unserer Zeit, Antwort auf die Ungewissheiten der Gegenwart nicht mehr in der Utopie, sondern in der „Retrotopie“ zu suchen. Während die Utopie eine noch inexistente und deshalb ortlose Zukunft entwerfe, setze die Retrotopie in ihrem Streben nach Identitätssicherung und Machterhalt durch Abgrenzung auf Konzepte der Vergangenheit. Mit Ulrich Beck diagnostiziert Bauman den Kern der gegenwärtigen Krise Europas in einer tiefen Kluft zwischen den fortgeschritten kosmopolitischen Verhältnissen – weltweiten Abhängigkeiten und Verflechtungen – und dem Mangel an kosmopolitischem Bewusstsein (vgl. Bauman 2017: 188). Erst ein kosmopolitisches Bewusstsein eröffne einen Ausweg: Es ermögliche „weit geöffnete Türen und eine ständige Einladung zur Vereinigung; seine Reife ist gleichbedeutend mit der Abschaffung der Idee des ‚Feindes‘ und Sprüchen wie ‚einmal Fremder, immer Fremder‘, jenen Fundamenten der Spaltung in ‚wir‘ und ‚sie‘.“ (Bauman 2017: 195). Europa könne ein neues Niveau der gesellschaftlichen Integration erreichen, das der Dichte der wechselseitigen Abhängigkeiten und Interaktionsprozesse entspricht. Der Kern der Herausforderung bestehe darin, „zum allerersten Mal in der Geschichte der Menschheit Integration ohne vorausgehende Separation zu ermöglichen.“ (Bauman 2017: 196). Einen Verbündeten findet Bauman in Papst Franziskus.
„Was ist los mit dir, Europa?“
In seiner Ansprache zur Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen am 6. Mai 2016 erinnert Franziskus an die Gründungsideen des modernen Europa. „Die Kreativität, der Geist, die Fähigkeit, sich wieder aufzurichten und aus den eigenen Grenzen hinauszugehen, gehören zur Seele Europas“ (Franziskus 2016: 1). Europa stehe für die Möglichkeit, auf den Trümmern der Zivilisation etwas „in der Geschichte noch nie dagewesenes Neues“ zu bauen, ein „Bollwerk des Friedens, ein Gebäude, das von Staaten aufgebaut ist, die sich nicht aus Zwang, sondern aus freier Entscheidung für das Gemeinwohl zusammenschlossen und dabei für immer darauf verzichtet haben, sich gegeneinander zu wenden.“ (ebd.) Vor diesem Hintergrund – Europa als Friedensprojekt – reflektiert Franziskus die krisenhafte Gegenwart des Kontinents und fragt:
„Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit?“ (P. Franziskus)
Dem Erbe der Aufklärung, mit dem die Kirchen auf dem Weg in die säkulare Moderne bekanntlich lange haderten, verdanke das moderne Europa seine Kreativität und seine Integrationskraft. An dieses Erbe knüpft Franziskus mit seinem „Traum“ von einem „neuen europäischen Humanismus“ an, der den konkreten Menschen jedem sachhaften Ziel vorordnet, die Rechte der Einzelnen achtet und die Verantwortung für das Gemeinwohl und eine Kultur der Solidarität pflegt (ebd.). Darin scheint auf, wonach Bauman sucht: ein Modell der Integration, das auf der wechselseitigen Anerkennung als Gleiche und Verbundene, katholisch formuliert: als „Menschheitsfamilie“, beruht, in der die Verschiedenen einander als Zusammengehörige erkennen und anerkennen. Dieser Humanismus gründet, so Franziskus, auf drei Fähigkeiten.
Integration – Dialog – Teilnahme
Die Fähigkeit zur Integration ermöglicht das Zusammenleben in kultureller Vielfalt. „Die europäische Identität ist und war immer eine dynamische und multikulturelle Identität“ (Franziskus 2016: 4). Eine solche, entwicklungsoffene Identität strebt danach, für alle ein Leben in Würde zu verwirklichen. Die Fähigkeit zum Dialog erlaubt, „den Angehörigen einer anderen Kultur als Subjekt zu betrachten, dem man als anerkanntem und geschätztem Gegenüber zuhört“ (Franziskus 2016: 5). Nicht militärische oder sonstige strategische Bündnisse, sondern erzieherische, kulturelle, religiöse „Koalitionen“ könnten „das Volk vor der Benutzung durch unlautere Ziele […] verteidigen“ (ebd.) und zur Unterscheidung der Interessen und Ziele gesellschaftlicher Auseinandersetzungen befähigen. Bauman folgert daraus, es gelte, die Herausforderungen der Kooperation in einer heterogenen Gesellschaft nicht der „hohen Politik“ zu überlassen, sondern „sie auf die Straße“, in die Lebensräume der „gewöhnlichen Menschen“ zu bringen (Bauman 2017: 201).
„Die gegenwärtige Situation lässt keine bloßen Zaungäste der Kämpfe anderer zu. Sie ist im Gegenteil ein deutlicher Appell an die persönliche und soziale Verantwortung.“ (Franziskus 2016: 5) Der Schlüssel zur Umsetzung ist Teilnahme – in Franziskusʼ Worten: die Fähigkeit etwas hervorzubringen. „Die gerechte Verteilung der Früchte der Erde“ und die Schaffung „würdige[r] und lukrative[r] Arbeitsplätze“ (Franziskus 2015: 6), vor allem für die jungen Generationen in Europa, bilden den Gradmesser gesellschaftlicher Integration.
Utopie des „neuen Humanismus“
In der „humane[n] Integration der ganzen Menschheit“ (Bauman 2017: 202) sehen Bauman wie Papst Franziskus eine epochale Aufgabe. Sie heute anzunehmen, verlangt, nach vorne zu schauen und Zukunftsverantwortung zu übernehmen: Ähnlich der Enzyklika Laudato si‘ wirbt Bauman für eine menschheitsweite Anstrengung: „Mehr als zu jeder anderen Zeit stehen wir, die menschlichen Bewohner des Planeten Erde, vor einem Entweder-Oder: Entweder wir reichen einander die Hände – oder wir schaufeln einander Gräber“ (Bauman 2017: 203). Welche Richtung die Menschheit einschlagen wird, hängt davon ab, ob das utopische Potential menschliches Handeln zu bewegen vermag. Oder ob Verzagtheit und Zynismus eine Koalition eingehen, die den Anforderungen des Neuen nur noch abwehrend – und deshalb retrotopisch – zu begegnen vermag. Im Kern geht es um ein – alles andere als naives – Grundvertrauen in die Handlungs- und Verantwortungsfähigkeit des Menschen. Bei vollem Bewusstsein der Schuldverstrickung und Gebrochenheit menschlicher Geschichte kann eine christliche Sicht auf die geschöpfliche Befähigung zur Verantwortung und das Potential zur Neuorientierung – theologisch gesprochen: Umkehr – als Schlüssel zur Zukunft hoffen.
Herausgeforderte Kirche
Das Plädoyer für einen neuen Humanismus fordert die Kirchen heraus. Ohne Platzvorteil (den zu behaupten angesichts des galoppierenden Glaubwürdigkeitsverlustes gerade der katholischen Kirche vermessen wäre) sind sie aufgerufen, an der dreifachen Aufgabe von Integration, Dialog und Ermöglichung von Teilhabe mitzuarbeiten. Die damit verbundenen Provokationen lassen sich mit fünf Stichworten skizzieren:
1. Kontextualität
„Kirche“ in Europa ist kein einheitlicher Akteur. Je nach gesellschaftlichem Kontext, religionsrechtlichem System und politisch-ideologischer Konstellation tritt schon die römisch-katholische Kirche in – bis zur Unvereinbarkeit – unterschiedlicher Weise in Erscheinung und Aktion. Themen, mit denen die Identität Europas auf dem Spiel steht, wie die Migrations- und Flüchtlingspolitik, Nation und Nationalismus oder das Verhältnis zur Europäischen Union, scheiden auch kirchliche Geister. Es zeigt sich, wie sehr die Kirche als gesellschaftliche Größe von der säkularen Wirklichkeit durchdrungen ist. Geht es um eine Neubelebung eines „europäischen Humanismus“, ist die Uneinigkeit jedoch eine erhebliche (auch theologische) Herausforderung. Kontextgebundene Sichtweisen sind ernst zu nehmen, aber nicht absolut zu setzen, sondern „katholisch“ zu überschreiten: Eine Weltkirche ist aufgefordert, jeder „national-kirchlichen“ Versuchung zu widerstehen und zugleich eine „multiple“ ekklesiale Identität auszubilden.
2. Prozessualität
Anstatt sich in der Verteidigung eines sei es doktrinären, sei es religionspolitischen status quo aufzureiben, muss das kirchlich verfasste Christentum sich aktiv auf den epochalen Wandel einlassen. Die Auseinandersetzung mit komplexen Lebenswirklichkeiten provoziert eine „Mentalität“ der Abgrenzung und doktrinären Fixierung. Papst Franziskus wirbt gegen starke Widerstände dafür, mit der Diversität menschlicher Wirklichkeiten anerkennend umzugehen. Urteile sind in einem Prozess der Unterscheidung zu bilden, der von der Fähigkeit zum Dialog und der Bereitschaft zur Integration geleitet ist. Das entscheidend und unterscheidend Christliche ist nicht apologetisch gegen religiöse und weltanschauliche Vielfalt geltend zu machen, sondern – auf dem Boden der Anerkennung des vielgestaltig auftretenden Anspruchs, die Wahrheit zu suchen – dialogbereit anzubieten.
3. Dialogfähigkeit
Sie ist für die Verständigung mit gesellschaftlichen und politischen Akteuren zentral. Dialog kommt nur zustande, wenn die Beteiligten einander als gleichberechtigt anerkennen und die Freiheit der Anderen akzeptieren, ihre Überzeugungen ebenso auszudrücken, wie man dies für sich selbst erwartet. Nicht geteilte Positionen sind als Überzeugung des/der Anderen zu tolerieren – jedoch nur soweit, wie diese nicht ihrerseits intolerant werden. Wer Intoleranz gegenüber nicht-geteilten Positionen propagiert, zerstört die wechselseitige Anerkennung von Freiheit und Gleichheit als „Geschäftsgrundlage“ des Dialogs.
4. Solidarität
… ist eine zentrale Ressource des gesellschaftlichen Zusammenhaltes, jedoch rar in der Politik. Die Kirchen können als gesellschaftliche Akteure zur Stärkung europäischer Solidarität beitragen. Die Stärkung und Förderung von Solidarbereitschaft – etwa in Erziehungs- und Bildungsangeboten, in gottesdienstlicher Praxis und durch die kirchlichen Medien – öffnet ein weites Feld von Solidaritätspraxen und einen Raum der Kritik antisolidarischer Rede- und Handlungsweisen (die es auch unter Christ*innen gibt!). Kirchenvertreter*innen und alle Christ*innen können öffentlich Solidarität mit marginalisierten Gruppen und mit Opfern unmenschlicher Behandlung zeigen und anwaltlich im Sinne der Option für die Armen agieren. Sie können es umso glaubwürdiger tun, je überzeugender auch die Institution Kirche als solidarischer Akteur sichtbar wird, eigene kirchliche Versäumnisse und Schuldgeschichten explizit anerkennt und transparent aufarbeitet.
5. Prophetische Freiheit
Solidarität braucht eine gewisse „prophetische“ Distanz zur (politischen) Macht, Widerständigkeit gegen politische Instrumentalisierung des Glaubens und seiner Ausdrucksformen sowie Sensibilität für die Versuchung, selbst politische Institutionen um eigener Interessen willen zu instrumentalisieren. Identitätspolitische Vereinnahmungen von Religion, religiösen Symbolen und Legitimationsmustern für Bestrebungen kultureller Homogenisierung bzw. zur Delegitimierung religiöser, ethnischer und kultureller Heterogenität fordern Wachsamkeit und Kritik ebenso heraus wie eine politische Rhetorik, die dazu neigt, (christliche) Religion und Nation zu vermischen und damit zugleich eine Front gegenüber „fremder“ Religion (meist dem Islam) aufzubauen. Prophetische Freiheit kann zugleich in „engagierter Distanz“ das Humanität fördernde Potential gesellschaftlicher Handlungsoptionen entdecken, mit ihnen in Dialog treten und „kulturelle Koalitionen“ für die Real-Utopie eines kosmopolitischen Bewusstseins stärken.
Literatur
Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Frankfurt: edition suhrkamp.
Franziskus [Papst] 2016: Verleihung des Karlspreises. Ansprache von Papst Franziskus (6.Mai 2016), online: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2016/may/documents/papa-francesco_20160506_premio-carlo-magno.html
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Die Theologin und Sozialethikerin Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins leitet das Institut für Christliche Sozialwissenschaften an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Münster. Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den die Autorin anlässlich einer Tagung der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich unter dem Titel „Europa als Werkgemeinschaft“ hielt.
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