Erich Garhammer liest Tilman Allerts, Latte Macchiato. Und entdeckt Phänomenbeschreibungen auf höchstem stilistischem Niveau.
Eine Soziologie der anderen Art bietet Allert in diesem kleinen Buch. Keine Statistik, keine Trendforschung, kein apokalyptischer Ton, kein Alarmismus, keine Kassandra-Rufe, sondern kleine Phänomenbeschreibungen, die das Große einfangen, stilistisch auf höchstem Niveau. Kein erhobener Zeigefinger, sondern Umschreibungen einer Sozialität, deren Mitspieler in unterschiedlich wechselnden Kostümen wir selber sind. Eine Soziologie, die das Staunen nicht verlernt hat.
Drei kleine Beispiele für viele andere aus diesem Buch seien angeführt.
„Weihnachten feiern“
Zu „Weihnachten feiern“ entwickelt Allert eine Typologie der Ritualität. Es gibt drei Ritualitätsmuster: die naiv praktizierte mit normaler Choreographie, die Flucht vor der Ritualität mit entschlossener Distanz, die einfachste Form davon ist das Reisen, und schließlich die verstandene Ritualität: Weihnachten als „heilige Zeit“, in deren Ausdrucksgestalt sich die Möglichkeit von Muße einstellt.
In seinem Weihnachtsbeitrag in der FAZ vom 24.12.2015 schreibt Allert: Im Ritualitätsentwurf des modernen Lebens biete sich kaum eine geeignetere Möglichkeit als die Zäsur des Weihnachtsfestes, über Flucht und Herberge, Güte und Barmherzigkeit nachzudenken. Ebenso über das „Wir schaffen das“ der Bundeskanzlerin, hinter dem nicht nur ein Institutionenvertrauen stehe, sondern auch eine christliche Motivation, die an Weihnachten durchaus gewürdigt werden darf.
Jil Sander
Mit Jil Sander beschreibt Allert einen bestimmten Modestil biographisch: Heidemarie Jiline Sander, geb. 27.11.1943 in Dithmarschen. Die Mutter ist vor dem Feuersturm in Hamburg geflohen, kehrt später aber dorthin zurück. Für die Tochter wird das Textilingenieursstudium prägend: Aufmerksamkeit für das Material, die Qualität der Stoffe kompensiert den Demonstrationsverzicht. Der Minimalismus wird prägend für sie, die „Queen of Less“. Für die in ungeschützten Verhältnissen Aufgewachsene wird die protektive Funktion der Kleidung entscheidend.
Kleidung schirmt ab, soll zugleich aber das Gefühl der Leichtigkeit und der Anmut vermitteln. Natürliche Bewegungsabläufe wie Schreiten oder Stehen dürfen der Attraktionssteigerung nicht geopfert werden. Ornamentverbot und Distanz zu allem Dekorativen kennzeichnen diese „Missionarin der Eleganz“. Die beiden Vornamen „Heidemarie“ und „Jiline“ sind zwei Seiten eines biographischen Versprechens – bodenständig und zugleich geheimnisvoll. In allen Kollektionen von Jil Sander begegnet eine in der kalkulierten Anmache des Modischen überraschende mönchische Klassizität.
Merkels Hände
Eine ähnlich verblüffende Interpretation gelingt Allert mit der Beschreibung der Grundhaltung der Hände von Angela Merkel, der Raute. Oft kabarettistisch verulkt oder spöttisch nachgemacht, sieht Allert darin eine charakteristische Geste mit Bedeutung. Im Pfarrhaus aufgewachsen, eine Gegenwelt zum Sozialismus, in regem Austausch mit ihrer Mutter, mit der sie alles bespricht, entsteht ein unerschütterliches Selbstgefühl.
Das Studium der Physik bietet der Hochbegabten ein kognitives Refugium mit hoher Abstraktionsleistung, die zur Disziplin zwingt und die regimetypische Dauerzumutung neutralisiert. Im Moment der Anomie des gesellschaftlichen Systems nach 1990 wird sie Politikerin: „Ich glaube nicht, dass ich unter den Verhältnissen des Westens Politikerin geworden wäre“, so formuliert sie einmal. In einer Situation der normativen Diffusität zeigt sie Situationsflexibilität und Gestaltungszuversicht – Haltungen, die heute an ihr in erneuten Krisensituationen sichtbar werden.
Ihre Hände sind nicht zur Faust geballt, die die Menschen auf einen Utopismus verpflichten, aber auch nicht gestikulierend und fahrig, die die fehlenden Argumente ostentativ kompensieren, sondern sie bilden eine Raute: Eine Introvertiertheit ohne Dialog nach außen, eine Geste des Hypothetischen und der Zurückhaltung – vielen ein Rätsel. Aber letztlich sind sie das Symbol ihrer Politik: „Die Hände, während der Tage ihrer Kindheit zum Gebet gefaltet, suchen demütig Halt in der schwebenden Balance.“ Die Raute wird zum Sinnbild ihrer politischen Mission.
Ein kleines Buch und doch ein großer Wurf und zudem ein Lesevergnügen.
Tilman Allert, Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge, Frankfurt a.M. 2015.
(Erich Garhammer; Photo: Buchcover)