Christine Funk erzählt Weihnachten in Geburtsgeschichten und lädt zum Staunen über das „Mehr“ jeder Geburtserzählung ein, zu Lebensvertrauen, das wir miteinander teilen und es so vermehren.
Oft habe ich mich über Predigten an Weihnachten geärgert, wenn von der „elenden Geburt“ Jesu die Rede war. Ich bedauerte immer wieder unbedachte Formulierungen, in denen die Situationsbeschreibung der Umstände der Geburt mit der Geburt an sich verwechselt werden. Irgendwann begriff ich diese Verwechslung als systemischen Ausdruck der klerus- und machtzentrierten Theorietradition, die Frauen und ihre Fähigkeit zu gebären so negativ und verächtlich konnotiert 1 und natürlich als Ausdruck eines Erfahrungsvakuums.
Ich möchte betonen: elend sind die Umstände, in denen eine Schwangere unterwegs gebären muss, „weil kein Platz in der Herberge war“ (Lk 2,7), weil Menschen sich der Frau nicht annehmen. Das mittelhochdeutsche Wort e-lende meint soviel wie „im Ausland“: außerhalb der eigenen Stadt Nazareth auf dem Weg nach Bethlehem (vgl. Lk 2,2). „Elend“ ist, wenn eine Gebärende keinen Raum für ihren Schutz hat, geschweige denn Aufmerksamkeit für ihre Bedürfnisse unter der Geburt. Aber für das Kind können die elenden Umstände, in denen es zur Welt kommt, sofort in eine Geborgenheitserfahrung verwandelt werden, wenn ein Mensch es „in Windeln wickelt“ (Lk 2,7). Ein schöner intertextueller Rückverweis übrigens auf Weisheit 7,4: In Windeln gewickelt und mit Sorgfalt wurde ich aufgezogen. So wird unterstrichen, dass die Mutter am Wohlwollen Gottes, an seiner Weisheit, die wir in Jesus verkörpert verstehen, mitwirkt und sie voll unterstützt.
Die Geburt Jesu ist also ein Glück und eine Freude für viele (Lk 2,10). Und eigentlich müsste die Freude über das „Mehr“, das diese Geburt anzeigt, nicht nur die Hirten zu „Zeichendeutern“ machen, sonder alle, die davon hören, um in jedem Kind in Windeln die einzigartigen Möglichkeiten des Menschen zu achten, die mit der Geburt von Anfang an gegeben sind. „Ehre sei Gott und Friede auf Erden, den Menschen seines Wohlgefallens“ (Lk 2,14) müsste eigentlich der Segen über jede Geburt sein. Dass man in dem Kind den Messias, den Gesalbten Gottes (vgl Lk 2,11) erkennen kann, teilt der Text hier schon mal mit. Möglichkeiten, diese Deutung nachzuvollziehen, kommen später. Erstmal kann man sich mit den Hirten darüber wundern und staunen (Lk 2,18).
Diskriminierung armer Frauen.
Als ich einmal den wunderbaren Roman von Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn2 las, ein Bildungsroman eines Kindes armer irischer Immigranten Anfang des 20. Jahrhunderts in Brooklyn, war ich verblüfft über die unterschiedliche „inter-religiöse“ Wahrnehmung der schwangeren Migrantinnen aus der Perspektive des etwa elfjährigen irisch-katholischen Mädchens Francie.
„Francie fiel wieder ein, wie überrascht sie gewesen war, als ihre Mutter ihr sagte, Jesus sei Jude gewesen. Francie hatte geglaubt, er sei Katholik gewesen. Aber Mama wusste Bescheid. Mama sagte, die Juden hätten Jesus immer nur als einen störrischen jiddischen Jungen angesehen […] Und die Juden glaubten, ihr Messias komme noch, sagte Mama.
Daran dachte sie, als sie die schwangere Jüdin betrachtete. „Wahrscheinlich haben die Jüdinnen deshalb so viele Kinder“, dachte Francie. „Und sitzen deshalb so still da…und warten. Und schämen sich nicht, dass sie so dick sind. Jede denkt, dass sie den wahren kleinen Jesus machen könnte. Deshalb sind sie auch so stolz, wenn sie so sind. Die Irinnen dagegen genieren sich immer so. Die wissen, dass sie nie im Leben einen Jesus machen können. Es wird bloß immer noch ein Mick. Wenn ich mal groß bin und weiß, dass ich ein Kind kriege, dann werde ich daran denken, stolz und langsam zu gehen, auch wenn ich keine Jüdin bin.“3
Die Wahrnehmung des Mädchens erfasst die Diskriminierung der katholischen armen Frauen, die sich mit den Sündenzuschreibungen durch ihre Kirchenkultur nur kleinmachen können, haargenau.
Staunenswertes vom Geborenwerden.
Manchmal ist zu Weihnachten ein Freund bei uns, der den sunnitischen Glauben gewählt hat und deswegen in seinem Land verfolgt wurde. Also lesen wir neben der Lukas-Geschichte auch einige Verse aus der Sure Maria/Maryam (19)4, in der auch Wunderbares und Staunenswertes vom Geborenwerden des „Wortes der Wahrheit“ (S 19,34) berichtet wird.
Sie […] zog sich mit ihm zurück an einen weit entfernten Ort. Da überkamen sie am Stamm der Palme Wehen. Sie sprach: „Wehe mir! Wäre ich doch schon vorher gestorben […] (S 19,22.23)
So bekam als erstes die wackelige Palme, die zu unserem Krippeninventar aus schon mürbem Papier gehört, das aus dem katholischen 1960er Jahre-Haushalt meiner Schwiegermutter bei uns gelandet ist, eine überraschend frischgrüne Bedeutung. Und auch diese Geburt scheint ohne die Anwesenheit einer, die Gebärende umsorgende Person geschehen zu sein. Dann wurden wir neu aufmerksam auf die Variationen von Geschichten, wie Gott für die sorgt, die sich auf ihn verlassen, dem Leben trauen, wenn wir hören:
„Da rief es ihr von unterhalb der Palme zu: „Sei nicht traurig. Geschaffen hat dir Dein Herr unter dir einen Bach. Und schüttele zu dir den Stamm der Palme, so dass Datteln herunterfallen. Datteln, frische, reife. So iss und trink, und sei frohen Mutes!“ (S 19,24.25)
Manche in unserer Runde vernahmen darin eine Resonanz zur Geschichte des Überlebens Hagars in der Wüste. (vgl. Gen 16) Und auch das folgende „Schweigegebot“ kommt uns bekannt vor, angesichts einer solchen vordergründig unwahrscheinlichen Geschichte: „Und wenn du von Menschen siehst einen, dann sag: „Wahrlich, gelobt habe ich dem Barmherzigen ein Fasten; so werde ich nicht sprechen heute zu einem Menschen.“ (S 19,26) Dass dann berichtet wird, wie die junge Maryam – ohne männliche Begleitung – allein mit dem Kind auf dem Arm zu ihrer Verwandtschaft kommt und dort mit den immer noch nicht ausgestorbenen Verdächtigungen konfrontiert wird, wie sie denn zu diesem Kind gekommen sei, findet großen Beifall besonders bei den Frauen in der Runde: „Ja, genau, endlich wird das mal gesagt! Nach dem Motto, das geht euch erstmal gar nichts an.“ (Vgl. S 19,27.28)
Die gotterwünschte Schwangerschaft bringt mehr Aufmerksamkeit für die Wirkgegenwart Gottes.
Unsere Debatte über die verschiedenen Erzählinszenierungen in den Evangelien und im Koran mit der Ankündigung der gotterwünschten Schwangerschaft unter nicht näher ausgeführten Umständen ihres Beginns, bringt mehr Aufmerksamkeit für die Wirkgegenwart Gottes hervor als die etwas schalen Assoziationen, die mit der Formulierung „durch das Wirken des Heiligen Geistes“ (Mt 1,18) verbunden sind. Und mitten ins Leben führt das Gespräch, wenn wir die im Koran mitgeteilte Selbstauskunft verkosten, die der Kleine den erstaunten Verwandten und geneigten Zuhörenden unserer Runde gibt:
„Er sagte: „Ich bin ein Diener Gottes. Gegeben hat Er mir die Schrift und mich bestimmt zum Propheten. Und erschaffen hat Er mich zu einem Gesegneten, wo immer ich auch bin, und anbefohlen hat Er mir das Gebet und die Armenspende, solange ich lebe. Und ehrerbietig gegen meine Mutter. Und erschaffen hat Er mich nicht zu einem Gewalttätigen, einem unglücklichen. Und Friede auf mich am Tag, als ich geboren, und am Tag, wenn ich sterbe, und am Tag, wenn ich zum Leben erweckt.“ (S 19,30-33)
Gott hat immer schon gehandelt, bevor man ein Segen sein kann.
Ein Sprachwunder mit theologischer Programmatik! Und wieviel wir hier erkennen: als Diener oder Knecht Gottes wird Jesu Leben von der prophetischen Tradition des Jesajabuches her gedeutet. Knecht Gottes, arabisch abd Allah, der männliche Vorname Abdallah / Abdu/ollah ist in der gesamten arabischen Welt verbreitet. Und doch ist Abd-Allah kein spezifisch islamischer Terminus. Syrische Christen bezeichnen eben auch Jesus Christus mit abd Allah. Schön, dass der Koran betont, dass der Diener Gottes ein Gesegneter ist. Die Resonanz aus der Schöpfungsgeschichte (Gen 1,28): man muss eben vorher schon gesegnet sein, bevor man ein Segen sein kann (Gen 12,2). Und die messianische Erwartung ist auch im Dienst Gottes. Und klar, dass im Beten der Kraftstrom von der und zur Quelle des Lebens fließt.
Und weil wir als Geschöpfe gleich sind, ist die Verbundenheit untereinander zentral, weshalb für die Armen zu sorgen ist, das ist die Rede der Propheten, die auch aus dem Hören der biblischen Schrifttradition vertraut ist. „Ehrerbietig gegen die Mutter“? Da stockt die Debatte in Verwunderung. Auch die Mütter selber, da in der deutschen Kultur die „Ehrerbietung“ irgendwie noch verdorben wirkt. Aber eine Art „natürliche“ Aufmerksamkeit für Ältere, Hilfsbereitschaft, meinen manche zu erinnern aus Begegnungen mit Menschen, die als muslimisch wahrgenommen werden, obwohl es manchmal durchaus auch Christ*innen, Juden und Jüdinnen oder andere aus nahöstlichen oder afrikanischen Ländern sind. Und ist es nicht toll, dass hier dem Sohn der Maria ausdrücklich in den Mund gelegt ist, kein „Gewalttätiger“ zu sein?
Vorbild für Kids: Jesus ist kein Gewalttäter.
„Das ist für mich in der Grundschule das Vorbild für die Kids“ sagt eine Freundin, die dort arbeitet. Und „kein Gewalttäter“ zu sein, ist ja vom anderen Ende her wahrgenommen, was die Evangelien vielfach variiert erzählen, dass Jesus nicht nur selbst keine Gewalt ausgeübt hat, sondern sogar Gewalt aus der Welt genommen hat, indem er z.B. Menschen von der Ausgrenzung befreien hilft, und sich schließlich in seiner Hingabe am Kreuz der Gegengewalt zur ungerechten Beschuldigung enthalten hat. Und so ist Friede auf ihm „wo immer“ er auch ist: am Tag der Geburt, im Leben, im Tod und in der Auferweckung. Und „wir“ sagen gern, es ist nicht nur Friede von Gott her auf ihm, sondern er ist auch der Friede. So wie mit dem Segen des Gesegneten.
Wir freuen uns, dass sowohl Bibel und Koran vom Lebensanfang des gesegneten Menschen Jesus / Issa erzählen. Und ist es da nicht eigentlich schon klar, dass dies nicht identisch sein kann? Weil einfach Menschen und so besonders Gottverbundene oder auf Gott vertrauende, „Gottergebene“ so vielfach erfahrene Wirkungen hinterlassen, die entsprechend vielstimmig erzählt werden müssen?
Außerdem ist der je konkrete Lebensanfang nie voraussetzungslos, sondern er wird verstanden aus einem Anfang, der vor diesem liegt. Er ist in der Sprache, deutlich in den verschiedenen Erzählkreisen, die ihre jeweiligen Intentionen und damit Identitäten bilden. Seinsanfang und Sprachanfang sind nicht identisch. Der starke Anfang des Johannes-Evangeliums gibt dies immer wieder zur Reflexion: Im Anfang war das Wort…und das Wort war Gott (Joh 1,1). Die Perspektive, Menschen von Gott her und auf Gott hin zu verstehen, schafft Erzählanlässe, die Entwicklung, Freiheit, Handlungsmöglichkeiten neu erkennen lassen. Mit dem Menschen, dem Wesen, das fragen kann, ist es besonders. Gott ist mit im Spiel und darin schafft sich Verschiedenheit. Ps 62,12 Eines hat Gott gesprochen, zweierlei habe ich gehört.
Wir meinen das Geheimnis schlechthin, wenn wir Gott sagen.
Karl Rahner (1904-1984) formulierte tastend: „So geraten wir immer vor das Geheimnis, das ist, das unendlich ist, das gründet, ohne selbst noch einmal einen Grund zu haben, das immer da ist und sich immer unberührbar entzieht. Wir heißen es Gott. Wir meinen das Geheimnis schlechthin, wenn wir Gott sagen. Wo wir das Denken nicht vergessen über dem Gedachten, die Freude nicht über dem Erfreulichen, die Verantwortung nicht über dem Verantworteten, die unendliche Zukunft nicht über dem Gegenwärtigen, die maßlose Hoffnung nicht über dem gerade jetzt Erstrebten, da haben wir es schon mit Gott zu tun, wir mögen diesem Namenlosen diesen oder einen anderen Namen oder keinen geben.“5
Und das christliche Weihnachtsfest mit der „heiligen Nacht“ schafft die Aufmerksamkeit für die Wirkgegenwart Gottes, die mit der Geburt von Gott her in die Welt kommt. Die Aufgabe des Friedens von Gott her Friede auf Erden (Lk 2,14) wird aus dem Bild des Friedensfürsten aus Jes 9,5 (hebräisch Sar-Schalom Prinz des Friedens) neu gefasst und auf Jesus, den Gesalbten, Gesegneten übertragen. Dies wird gesungen z.B. in der Bachkantate Du Friedefürst, Herr Jesu Christ (BWV 116), im Gospel Down by the Riverside und im Lied Tochter Zion. Von der Feier dieser heiligen Nacht kann ein Verständnis der besonderen Nächte des Ramadan eröffnet werden, die die Aufmerksamkeit auf die Wirkgegenwart Gottes in der „Nacht der Bestimmung“ für die einzelne glaubende Person richten. Im Verständnis der muslimisch Glaubenden ist in der Nacht der Bestimmung der Koran geoffenbart worden.
Also feiern wir Weihnachten im Staunen über das „Mehr“ jeder Geburtserzählung im Lebensvertrauen, das wir miteinander teilen und es so vermehren. Und ich glaube, heute gilt neu, dass viel weniger daran liegt „Gott zu beweisen, als ihn […] ahnend nahezubringen.“6
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Text: Prof.in Dr. Christine Funk, systematische Theologin und Islamwissenschaftlerin, Katholische Hochschule für Sozialwesen in Berlin.
Bild: Katharina Eglau, Ashurafest in Nadschaf/ Irak.
- Vgl. B. Haslbeck, R. Heyder u.a. (Hrsg), Erzählen als Widerstand, Münster 2020. ↩
- Berlin 2017. (Insel), B. Smith, A Tree Grows in Brooklyn (1943). ↩
- B. Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn, Berlin 2017, S.18. ↩
- Ich benutze sowohl die Übersetzung von H. Bobzin (2015) als auch die von Ahmad Milad Karimi (2009). ↩
- K. Rahner, Gnade in menschlichen Abgründen, in: K. Rahner, Glaube, der die Erde liebt. Christliche Besinnung im Alltag der Welt, Freiburg i.Br. 1966, S.33-36, 34. ↩
- H. de Lubac, Über die Wege Gottes, Freiburg i.B. 1968, S. 150. ↩