Was bringt es, wenn eine ganze Universität sich mit einem einzigen Buch auseinandersetzt? August H. Leugers-Scherzberg und Katharina Peetz stellen vor, warum und wie die Universität des Saarlandes im Jahr 2018 „Selbstbesinnung und Selbstkritik“ von Herbert Wehner liest. Dabei diskutiert die Professorin mit dem Techniker, brechen Menschen aus einem Escape Room aus oder führen am Tag der offenen Tür Zwiegespräche in der Fahrradrikscha.
Warum gerade Selbstbesinnung und Selbstkritik?
Zugegeben, das Buch ist schon etwas älter. Der berühmte SPD-Politiker Herbert Wehner verfasste Selbstbesinnung und Selbstkritik 1942/43 während seiner Inhaftierung in einem schwedischen Gefängnis. Sein Inhalt aber ist bestürzend aktuell, geht Wehner doch mit klarer Sprache, die eine tiefe Zuneigung zum eigenen Volk erkennen lässt, Emotionen nicht scheut und von persönlichen Erfahrungen durchdrungen ist, folgenden Fragen nach:
- Wie konnte es zum Sieg des Nationalsozialismus kommen?
- Warum versagte die Arbeiterbewegung?
- Warum war das deutsche Volk so verführbar?
Sein Text zielt darauf ab, … einen Rückfall in eine menschenverachtende Diktatur zu verhindern und eine dauerhafte demokratische Zukunft zu eröffnen
Sein Text zielt darauf ab, die NS-Vergangenheit aufzuarbeiten, einen Rückfall in eine menschenverachtende Diktatur zu verhindern und eine dauerhafte demokratische Zukunft zu eröffnen. Damit ist er auch an uns gerichtet: Seit einigen Jahren ist ein deutliches Wiedererstarken des Rechtspopulismus in Europa zu beobachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Gräueltaten war es als Phänomen sicherlich nie ganz verschwunden, aber in der Wahrnehmung und Ausprägung hat sich in der jüngeren Vergangenheit ein Wandel vollzogen. In immer breiteren gesellschaftlichen Kreisen, nicht nur an den Rändern, vollzieht sich offenbar ein Perspektivwechsel. Das ist auch in Deutschland spürbar. 2017 ist eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag eingezogen, dazu in 14 Landtagen vertreten. Sie ist eine Partei, deren Spitzenvertreter*innen Menschen wegen ihrer Herkunft herabwürdigen, gegen Flüchtlingsheime demonstrieren, rassistische Reden halten und versuchen, Soldaten der deutschen Wehrmacht zu rehabilitieren.[1] Insofern Universitäten ihren Bildungsauftrag und ihre Aufgaben gemäß der Grundwerte des demokratischen Verfassungsstaates ausüben, sind sie aufgerufen, diesen antidemokratischen Tendenzen aktiv entgegenzuwirken. Nur so können sie das wahren, was eine Universität ausmacht: Pluralität, Freiheit, Chancengleichheit und demokratisches Miteinander.
Wie wird die Idee „Eine Uni – ein Buch“ umgesetzt?
Nachdem die Idee, dieses Buch gemeinsam zu lesen, erstmals geäußert worden war, waren sofort eine Reihe von Professor*innen, wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, Verwaltungsangestellten, Student*innen, der ASTA, Mitarbeiter*innen der Hochschule für Musik und des Saarländischen Staatstheaters sowie Gewerkschaftsmitglieder bereit, sich kreativ einzubringen.
Raum für eine offene, dynamische Diskussionskultur, gegenseitigen Austausch und die Möglichkeit der Vertiefung von Buchinhalten.
Ein Bewerbungsvideo für die Aktion „Eine Uni – ein Buch“ war schnell gedreht und wir wurden vom Stifterverband als förderungswürdiges Projekt ausgewählt. Neben den klassischen Lehr- und Lernformaten wie Seminaren, Blockseminaren und Vorlesungsreihen führen wir auch ein Bar Camp durch. Das Bar Camp bietet Raum für eine offene, dynamische Diskussionskultur, gegenseitigen Austausch und die Möglichkeit der Vertiefung von Buchinhalten, die im Voraus mit digitalen Hilfsmitteln eigenständig erarbeitet wurden. Regelmäßig bieten wir außergewöhnliche Aktionen wie eine öffentliche „Dichterlesung“ des Saarländischen Bildungsministers, Theaterstücke und Filmvorführungen an.
Auch den Tag der offenen Tür an unserer Universität haben wir mitgestaltet. Ein Highlight dabei war das „Zwiegespräch in der Fahrradrikscha“, bei dem Menschen bei einer Fahrt über den Campus über Buchinhalte diskutierten. Eine der Fragen lautete dabei: Wie können demokratische Parteien verhindern, dass radikale Parteien sich, ähnlich wie die NSDAP 1933, als einzige Rettung für die Benachteiligten und an den Rand Gedrängten inszenieren? Für eine Studentin und einen Dozenten war es wichtig, dass Demokratie uns alle angeht. Es ist auch unsere Sache, dass Demokratie lebendig bleibt und fortbesteht. Eine Teilnehmerin meinte resümierend:
„Für mich heißt Demokratie, dass wir allen die gleichen Chancen ermöglichen müssen. Daher müssen gerade die demokratischen Parteien sich in ihrer Politik insbesondere für die Benachteiligten und an den Rand Gedrängten aktiv einsetzen“ (Teilnehmerin an der Fahrradrikscha)
Im Escape Room setzen sich die Teilnehmer*innen ganzheitlich mit dem Thema auseinander.
Aktiv werden konnten Menschen im Escape Room zum Thema „Deutschland 2032/33“, wobei die Aufgabe darin bestand, eine Wiederkehr der „Machtergreifung“ nach 100 Jahren zu verhindern. Im Escape Room setzen sich die Teilnehmer*innen ganzheitlich mit dem Thema auseinander. So suchten die Teilnehmer*innen in Herbert Wehners persönlicher Schreibmaschine nach Hinweisen, näherten sich durch Zahlenrätsel Wehners Biographie an und fanden am Ende eine Kopie des handschriftlichen Manuskriptes von „Selbstbesinnung und Selbstkritik“. Auf die Frage nach dem Mehrwert der Erfahrungen im Escape Room meinte ein Teilnehmer:
„Ich habe vorher noch nichts über Herbert Wehner gewusst. Aber als wird das handschriftliche Manuskript endlich entdeckt haben, habe ich mir überlegt, dass ich das doch mal lesen sollte.“ (Teilnehmer am Escape Room)
Eine Ausstellung zum 100. Geburtstag von Willi Graf, Mitglied der weißen Rose, rundete unsere Aktionen zum Tag der offenen Tür ab. Wir freuen uns auf die nächsten Veranstaltungen, die noch bis in das Wintersemester 2018/2019 hineingehen.
Chance, die Kreativität, Potentiale und Bereitschaft zum gesellschaftspolitischen Engagement, die an der Universität schlummern, zu wecken, wahrzunehmen und auszubauen.
Was ist der Mehrwert der gemeinsamen Auseinandersetzung?
Solch ein Projekt umzusetzen ist arbeitsintensiv, lebt aber von den Kompetenzen, dem Knowhow und Engagement aller Beteiligten. Es bietet die Möglichkeit, durch ein Thema, das vielen am Herzen liegt, Kolleg*innen ganz neu kennenzulernen, neue Kontakte zu knüpfen, über die Grenzen der Universität in die Gesellschaft hinaus zu gehen, und Zukunftsperspektiven für eine weitere Zusammenarbeit zu entwerfen. Für uns ist die Initiative eine Chance, die Kreativität, Potentiale und Bereitschaft zum gesellschaftspolitischen Engagement, die an der Universität schlummern, zu wecken, wahrzunehmen und auszubauen. Wenn die Lehramtsstudentin mit dem Saarländischen Bildungsminister darüber reden kann, wie er sie darin unterstützen kann gegen rechtspopulistische Demagogie vorzugehen, wenn die Professorin mit dem technischen Mitarbeiter in der Fahrradrikscha diskutiert, ob sich auch heute die demokratischen Parteien durch die Propaganda der radikalen Parteien von ihrem Weg abbringen lassen und wenn, der Film „Jugend ohne Gott“ dazu anregt, über die Konsequenzen einer totalitären Gesellschaft nachzudenken, dann findet das statt, was wir von Universität im besten Sinne erwarten.
Die Initiative „Eine Uni – ein Buch“ wird vom Stifterverband und der Klaus Tschira Stiftung in Kooperation mit dem Zeitverlag durchgeführt und gefördert.
Zu den Autor*innen:
August H. Leugers-Scherzberg ist Theologe und Historiker. Er hat zahlreiche Werke über Herbert Wehner verfasst. Er ist einer der Koordinatoren der Saarbrücker Initiative „Eine Uni – ein Buch“.
Katharina Peetz ist Theologin und arbeitet an einem Forschungsprojekt zu „Gelebter Theologie“ am Beispiel Ruandas. Im Rahmen der Initiative „Eine Uni – ein Buch“ ist sie für den Escape Room „Deuschland 2023/33“ verantwortlich.
Link zur Projekthomepage: https://www.uni-saarland.de/page/unibuch/start.html
[1] Tilman Steffen, Nehmt diese Wähler endlich ernst!, in: Zeit online vom 23.10.2017, online unter: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-10/afd-waehler-ernst-nehmen-bundestagswahl
Beitragsbild: Katharina Peetz
Bild vom Velo-Taxi: August H. Leugers-Scherzberg