Leo Maucher zeigt anhand der Abtreibungsdebatte in Argentinien beispielhaft, wie das Verständnis der „Einen Weltkirche“ und die Zuschreibung des „Globalen Südens“ zu dekonstruieren sind. Der Synodale Weg in Deutschland kann Anliegen des Südens vertreten. Zugleich geht es um die Suche nach kontextuellen Lösungen.
Provoziert ein nationaler Alleingang der deutschen römisch-katholischen Kirche in Richtung Geschlechtergerechtigkeit nicht einen Bruch innerhalb der „Einen Weltkirche“ mit konservativen Werthaltungen der katholischen Kirche im Globalen Süden? Muss gerade aus einer postkolonialen Perspektive heraus eine solche Bevormundung der Kirche des Globalen Südens durch die Kirche des Globalen Nordens nicht verhindert werden? Solche oder ähnliche Fragen tauchen nicht selten vor allem im Kontext des Synodalen Weges auf. Auf geschickte Weise werden so dekoloniale und queer-feministische Anfragen gegeneinander ausgespielt.
Der Bruch innerhalb der „Einen Weltkirche“ ist nicht zwischen den Ländern des Globalen Nordens und Südens zu suchen, sondern bestenfalls zwischen konservativen und progressiven Kräften in der katholischen Kirche.
Dabei stützen sie sich aber auf ein homogenisiertes öffentliches Bild in Deutschland über die katholische Kirche im Globalen Süden: das einer konservativen Kirche. Dieses Bild speist sich vorwiegend aus deutschen Medien, die grundsätzlich selbst in neokoloniale Wissenssysteme verflochten sind. Wie plural die katholische Kirche im Globalen Süden ist, wird (bisher) nicht thematisiert. Die postkolonialen Anfragen sind damit selbst ein Geschehen epistemischer Gewalt. Im Gegenteil, der Bruch innerhalb der „Einen Weltkirche“ ist nicht zwischen den Ländern des Globalen Nordens und Südens zu suchen, sondern bestenfalls zwischen konservativen und progressiven Kräften in der katholischen Kirche, die nicht anhand von Ländergrenzen einzuteilen sind. Das will dieser kurze Text mit Bezug auf Ereignisse in Argentinien der letzten Jahre versuchen zu zeigen.
30.12.2020: Neues Abtreibungsgesetz in Argentinien
Um von hinten zu beginnen: Der argentinische Senat hat am 30. Dezember 2020 mit 38 Ja- gegen 29 Nein-Stimmen für ein neues Abtreibungsgesetz gestimmt, das Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche straffrei macht. Bis dahin galt seit 1921 in Argentinien über 100 Jahre eines der härtesten Abtreibungsgesetze weltweit, das aus einer Zeit stammte, in der Frauen noch nicht einmal wählen durften. Die Gesetzesreform war das Ergebnis eines langen queer-feministischen Kampfes der letzten Jahre und Jahrzehnte, der vor allem durch die Bewegung #NiUnaMenos [frei übersetzt: Keine einzige mehr] vorangebracht worden war.
Während der Präsident:innenschaftswahlen im Oktober 2020 polarisierte sich die argentinische Gesellschaft sichtlich. Denn der linksgerichtete Präsident:innenschaftskandidat Alberto Fernández stellte sich hinter die erneute Gesetzesinitiative. Auf den Straßen waren im Grunde nur noch zwei Farben zu sehen, die bis heute für die beiden Positionen (Pro und Contra) in Bezug auf die Abtreibungsfrage stehen. Befürworter:innen tragen Grün: Das grüne Tuch – ob als Halstuch, Maske oder Umhang – wurde zu ihrem Symbol. Gegner:innen tragen Tücher in Himmelblau, der Farbe der Nationalflagge.
Im Jahr 2018 wurde ein neues Abtreibungsgesetz noch abgelehnt. Das lag auch am großen Einfluss der Kirchen auf den argentinischen Staat: Auf politische Mandatsträger:innen konnte viel Druck ausgeübt werden, indem diese um ihre Karriere fürchten mussten. Und bis heute stehen Gruppierungen, die gegen das neue Abtreibungsgesetz mobilisieren, meist der katholischen oder einer evangelikalen Kirche nahe. Die argentinische Bischofskonferenz hatte sich im Jahr 2020 u.a. in verschiedenen Dokumenten immer wieder öffentlich zu Wort gemeldet.
Papst Franziskus: „Ist es fair, ein menschliches Leben auszulöschen, um ein Problem zu lösen? Ist es fair, einen Auftragskiller anzuheuern, um ein Problem zu lösen?“
Auch Papst Franziskus hatte sich mehrmals zum Diskurs über ein neues Abtreibungsgesetz in seinem Heimatland Argentinien geäußert. So rechtfertigte sich Präsident Fernández in einer Fernsehsendung im November 2020 öffentlich gegenüber dem Papst, den im Wahlkampf versprochenen Gesetzesentwurf ins Parlament gebracht zu haben: Er müsse als (katholischer) Präsident ein Problem der öffentlichen Gesundheit in Argentinien lösen und hoffe, dass Papst Franziskus wortwörtlich „nicht verärgert sein werde“.[1] Am selben Tag schrieb Franziskus einen Brief an ein Frauennetzwerk aus Buenos Aires um die Parlamentsabgeordnete Victoria Morales Gorleri, das sich gegen ein neues Abtreibungsgesetz engagierte, und bedankte sich für dessen Arbeit. Er schrieb darin, dass Abtreibung „nicht in erster Linie eine religiöse Angelegenheit, sondern eine Frage der menschlichen Ethik [ist]. Und es ist gut, sich folgende beiden Fragen zu stellen: Ist es fair, ein menschliches Leben auszulöschen, um ein Problem zu lösen? Ist es fair, einen Auftragskiller anzuheuern, um ein Problem zu lösen?“[2]
Die Formulierung „Auftragskiller [sicario]“ war nicht neu. Schon im Oktober 2018 verglich Franziskus während einer Predigt bei einer Generalaudienz (in einer spontanen Abweichung von seinem Predigttext über das biblische Tötungsverbot und mit Bezug auf den öffentlichen Diskurs in Argentinien) Abtreibung mit Auftragsmord.
Deutsche Medien waren sich darin einig, dass die katholische Position eindeutig und eine einzige sei: Katholik:innen in Argentinien tragen Himmelblau.
Dieses Bild der katholischen Kirche dürfte bis jetzt nicht sehr überraschen. Die lehramtliche Meinung zur Abtreibungsfrage ist vermutlich nur allzu bekannt. Deshalb bildet dieses Bild auch weitestgehend das ab, was in deutschen Medien über die Geschehnisse und die öffentliche Debatte in Argentinien zu lesen war. Auch wenn sich einzelne Medien – je nach eigener gesellschaftspolitischer oder kirchlicher Ausrichtung – darin unterschieden, wie die Position der katholischen Kirche bewertet wurde, waren sich deutsche Medien darin einig, dass die katholische Position eindeutig und eine einzige sei: Katholik:innen in Argentinien tragen Himmelblau, sprechen sich also gegen das neue Abtreibungsgesetz aus.
Die Position der katholischen Kirche im Globalen Süden ist keinesfalls eindeutig (konservativ).
Die Position der katholischen Kirche im Globalen Süden ist allerdings keinesfalls eindeutig (konservativ). Das zeigt zum Beispiel die Bewegung „Católicas por el Derecho a Decidir [frei übersetzt: Katholik:innen für das Recht auf Selbstbestimmung]“ (CDD Argentina), die sich ebenfalls in die argentinische Debatte um das neue Abtreibungsgesetz eingebracht hatte. In der deutschen Medienlandschaft wurde über sie bisher – soweit ich das überblicken konnte – nicht berichtet.
CDD Argentina ist Teil des lateinamerikanischen Netzwerks von CDD (Red CDD/LA), das aus zwölf CDD-Gruppen in verschiedenen Ländern – u.a. Mexiko, Nicaragua, Peru und Brasilien – besteht, und existiert seit fast dreißig Jahren als gemeinnütziger Verein.[3] Als autonome Bewegung von Katholik:innen setzt sich CDD für die Verteidigung von Rechten von FLINTA*-Personen, insbesondere im Zusammenhang mit Sexualität und menschlicher Fortpflanzung, und für ein Leben frei von Gewalt und Diskriminierung ein: CDD Argentina kämpft für Gleichberechtigung in Geschlechterbeziehungen und will dabei aus theologischer und feministischer Sicht religiösem Fundamentalismus entgegenwirken.
Eine moralische Bevormundung von Frauen (FLINTA*-Personen) durch die Kirche u.a. in Fragen der Abtreibung ist falsch.
Schon der Name einer ihrer Kampagnen „Soy Católica. Decido en Libertad [Ich bin Katholikin. Ich entscheide selbstbestimmt.]” mit dem Slogan “Nos dio razón y fe, para que ante la duda decidamos en libertad. [Er hat uns Vernunft und Glauben gegeben, damit wir uns im Zweifel in Freiheit entscheiden können.]“[4] verrät, dass die Sicht der Dinge von CDD Argentina eine andere ist als die von Franziskus. Kirche solle die pauschale Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen aus ethischen, theologischen und auch feministischen Gründen fallenlassen und anerkennen, dass Frauen in Fragen der Abtreibung über eine eigene moralische Fähigkeit verfügen. Deshalb ist eine moralische Bevormundung von FLINTA*-Personen u.a. in Fragen solcher Art durch die Kirche falsch. Diese Überzeugung folgt für CDD aus dem Zuspruch, den alle Menschen von Gott erfahren; sie wird also theologisch begründet. CDD Argentina trägt Grün, befürwortet also das neue Abtreibungsgesetz, und ist zugleich überzeugt katholisch. Oder prägnanter ausgedrückt: CDD Argentina trägt Grün, weil CDD Argentina katholisch ist!
Das öffentliche Bild der katholischen Kirche im Globalen Süden, das im Globalen Norden gemeinhin vorherrscht, ist stark homogenisiert und muss deshalb dringend durch ein plurales Bild ergänzt oder ersetzt werden.
Es gibt demnach auch im Globalen Süden eine katholische Bewegung, deren Anliegen – zumindest in Teilen – vom Synodalen Weg vertreten wird. Der „postkoloniale“ Einwand, dass der Synodale Weg nur partikulare Interessen aus dem Globalen Norden vertrete, ist deshalb zu verwerfen. Aus einer pragmatisch-politischen Sicht ist der Synodale Weg vielmehr zu stärken, da er in der katholischen Kirche des Globalen Nordens Themen prominent zur Sprache bringen kann, die im Globalen Süden (bisher) nur von Minderheiten in der katholischen Kirche vertreten werden und wenig Gehör finden. So wenig, dass sie auch in der deutschen Medienlandschaft nicht auftreten. Denn das öffentliche Bild der katholischen Kirche im Globalen Süden, das im Globalen Norden gemeinhin vorherrscht, ist stark homogenisiert und muss deshalb dringend durch ein plurales Bild ergänzt oder ersetzt werden: Zwischen z.B. Papst Franziskus und CDD Argentina bestehen klare Unterschiede!
Trotz allem darf der Synodale Weg nicht als eine Art universal gültiger Vorbildkampf für Rechte von FLINTA*-Personen in der katholischen Kirche auf der ganzen Welt gedeutet werden. Die Bedingungen in Kontexten z.B. anderer Kontinente sind davon verschieden. Die Fronten der queer-feministischen Kämpfe verlaufen – je nach (politischem) Kontext – an unterschiedlichen Themengebieten. Es gilt deshalb, kontextuelle Lösungen zu suchen. Um diese zu finden, müssen sich „synodale Katholik:innen“ international mit Gruppierungen, die ähnliche Kämpfe in der katholischen Kirche austragen – z.B. dem lateinamerikanischen Netzwerk von CDD (Red CDD/LA) –, vernetzen. In einem gemeinsamen Austausch kann voneinander gelernt und sich gegenseitig inspiriert werden. Außerdem wird dadurch epistemischer Gewalt, mit vorurteilsbehafteten und unvollständigen öffentlichen Bildern von katholischer Kirche in anderen Ländern zu arbeiten, vorgebeugt.
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Autor: Leo Maucher studiert Theologie und Philosophie in Tübingen. In diesem Jahr ist er mit einem Auslandsstudium an der Universidad Iberoamericana in Mexiko-Stadt.
Beitragsbild: 2018_08_08 Aborto legal Argentina_AntonioLitov(04) (https://www.flickr.com/photos/acampadabcnfoto/29015062117)
[1] https://de.catholicnewsagency.com/story/argentiniens-prasident-hoffe-papst-franziskus-ist-uber-abtreibungsgesetz-nicht-bose-7347 (letzter Zugriff: 27.05.2022, 22 Uhr)
[2] https://kath.net/news/73569 (letzter Zugriff: 27.05.2022, 22 Uhr)
[3] https://catolicas.org.ar/que-hicimos/ (letzter Zugriff: 27.05.2022, 22 Uhr)
[4] https://catolicas.org.ar/campanas/ (letzter Zugriff: 27.05.2022, 22 Uhr)