Allen Zweifeln zum Trotz befasst sich Maria Herrmann mit der Kirche, genauer, mit ihrer Mission. Ihre Forschung zu den „Fresh Expressions of Church“ ist Wissenschaft vom Trotz — und vom Erwachsenwerden der Kirche.
Was vor 10 Jahren ein Flüstern war, ist heute Litanei: »Warum bist du noch dabei?« Menschen in kirchlichen Systemen sind derzeit enormen Veränderungen und Herausforderungen ausgesetzt. Bistümer und Landeskirchen operieren im deutschsprachigen Raum an vielen offenen Herzen: An ihren parochialen Strukturen, an ihren theologischen Ausbildungen, an ihren Führungsformen und Kommunikationsstilen. Druck, Frustration und Verunsicherung wachsen. Die tiefe Vertrauenskrise der römisch-katholischen Kirche beschleunigt die Dynamik exponentiell.
Kein Flüstern mehr: »Warum bist du noch dabei?«
Trotzdem sind da Menschen, nicht selten unter dem Radar und vielfach jenseits kirchlicher Schubladen und Regale, die für manches Überkommene ein gutes Ende und für das Neue einen Anfang finden. Je häufiger ich solchen Menschen und Initiativen begegnete, desto neugieriger wurde ich. Was treibt sie an, was lässt sie nicht los? Warum, wo und wie lebt und wächst Kirche entgegen aller Prognosen und Trends — und anders als es pastorale Prozesse planen? Das Nachforschen wurde eine »Wissenschaft vom Trotz« — jener Energie von Wachstum und Veränderung.
Forschung in drei Akten
Von den Geschichten
Seit über 20 Jahren experimentieren (nicht nur) in England Christinnen und Christen mit neuen Formen christlicher Gemeinschaft. Die Erfahrungen der Church of England unter dem Stichwort der Fresh Expressions of Church sind für Interessierte in Landeskirchen und Bistümern inspirierend. Im deutschsprachigen Raum als FreshX über-setzt, lassen sich Geschichten regenerativer Formen von Kirche erzählen. Sie bilden auch ein reichhaltiges Feld für die praktische Theologie: Die umfangreiche Literatur, die detaillierte Dokumentation und die vorliegenden qualitativen und quantitativen Forschungsergebnisse sind lehrreich — und der Beginn meiner Forschung.
Das Geschichten erzählen, Storytelling, gehört von Anfang an zur Bewegung in England. Zum Beispiel die Geschichte von der Schule, in der sich christliche Community neu erfindet. Vom Kirchengebäude, das durch eine neue Form einer monastischen Gemeinschaft wiederbelebt in London City zur Mittagspausen-Oase wird. Von der ökumenischen Gemeinschaft, die ein ganzes Dorf verändert. Dies inspiriert auf (mindestens) zweifache Art: Diese Geschichten aus England helfen dabei, einerseits den Mut für neue Wege einzuüben. Alleine, dass man diesen Mut einüben muss, und er sich einüben lässt, ist eine der (spirituellen) Grunderkenntnisse der Fresh Expressions. Die Geschichten unterstützen andererseits aber auch dabei, bereits vorhandene Initiativen sowie ihre Ähnlichkeiten in Deutschland zu entdecken — und auch davon Geschichten zu erzählen.
Beginn meiner Forschung: Geschichten vom Mut
Es sind hier wie dort Geschichten vom Trotz. In beachtlicher Beharrlichkeit entgegen der Narrative vom Niedergang der Relevanz der christlichen Botschaft. Fresh Expressions erzählen vom Trotz — aber mit einer bestimmten Pointe: Es ist ein Widerstand, der kein Selbstzweck ist, sondern Energie der Veränderung. Zum Beispiel einer Veränderung im Leben von Menschen durch die Verkündigung des Reiches Gottes. Menschen, die in diesen neuen christlichen Gemeinschaften ihren Glauben entdecken, ihn üben und sich taufen lassen. Fresh Expressions sind ihre Form der Kirche, und keine Umleitung zu anderen, »richtigen« Gemeinden oder Pfarreien.
Diese Geschichten des Trotzes der Fresh Expressions erzählen daher auch von der Energie der Veränderung der Kirche: Nämlich in ihrer gleichberechtigten Anerkennung als gemeinschaftliche Formen christlicher Nachfolge. Diese Zusage ist wichtig, damit die Communities ihr systemisches Potential entfalten können und nicht in Isolation als »missionarischer Projekte« auf das Gutdünken Einzelner angewiesen sind. In der Church of England machen diese Gründungen bereits zahlenmäßig die Größe einer durchschnittlichen Diözese aus. Auch die theologischen Ausbildungen werden durch diese Dynamik hinterfragt.
Geschichten vom Trotz
Weiter aber noch erzählen Fresh Expressions in ihrem Trotz von der Energie der Veränderung sozialer Kontexte in Nachbarschaften, Dörfern und Netzwerken. Sie sind immer auch Geschichten vom Widerstand gegenüber gesellschaftlichen Realitäten: Vereinzelung, Verarmung, Verdrängung, denn: sie gehen einer Sendung nach.
Form follows Sendung
Die kirchlichen Aufbrüche der Fresh Expressions basieren auf der Idee, dass sich Kirche von ihrer Mission her formt. Formen lassen muss. Dass sie sich mit ihr und durch sie auch verändern lassen muss. Das im Jahr 2004 erschienene Grundsatzdokument der Bewegung trägt dies in seinem Titel: »Mission-shaped Church«. Es setzt selbst induktiv an und vollzieht sein eigenes Missionsverständnis: Das seit Mitte des 20. Jahrhundert verstärkt rezipierte Bild der Missio Dei steht dabei im Mittelpunkt. Es verankert die Sendung der Kirche in der Trinität Gottes, die Trägerin der Mission ist. Diese gilt nicht mehr als »Veranstaltung« der Kirche, sondern ist Hinwendung Gottes zur und in der Welt — auch über die Kirche hinaus. Mit der Veröffentlichung des Dokuments begann eine neue Phase des Diskurses, der das Missionsverständnis auf die bestehenden kirchlichen Strukturen (und vor allem darüber hinaus!) anwendbar machte.
Kirche formt sich von ihrer Mission her.
Ein Perspektivwechsel wurde dabei entscheidend: Nicht die Kirche muss sich verändern oder erneuern, sondern sie tut das bereits. Die bestehenden Bilder und kirchlichen Kategorien lassen es nur (noch) nicht zu, dass dies in den bereits bestehenden Aufbrüchen explizit werden kann. Darum ist ein permanentes Reflektieren dessen, was sich mit dem Blick auf das Reich Gottes und seine Verkündigung hin bereits zeigen will, notwendig. Dieser induktive Ansatz steht aber nicht nur für ein Kirchenbild, das von einer Missio Dei Theologie geprägt ist, sondern ist auch kirchenpolitisches Instrument wie pädagogischer Mittel: Er macht einerseits das systemische Ausschließen missionarischer Innovationen schwieriger und gleichzeitig deutlich, dass das Neue bereits da ist. »Merkt ihr es nicht?«
Mission als Modus pastoralen Handelns: zweckfrei, aber nicht umsonst
Damit wird Mission nicht Programm, erst recht keines, das zur Versicherung in Krisenzeiten, zum Systemerhalt oder einer Machtergreifung dient. Mission wird Modus pastoralen Handelns — und kann damit auch »zweckfrei«, aber sicherlich nicht umsonst gedacht werden. Ihr Maßstab ist das konkrete Wirken in und für die Welt. Dieser Modus ist ein Korrektiv der Kirche: Hat sie ihr Warum im Blick? Wird sie ihrer Mission gerecht und lässt sie dafür Veränderung zu? Fresh Expressions of Church trotzen der Kirche ab, ihre Sendung in den Blick zu nehmen und darauf zu vertrauen, dass sie Gott vor ihren Türen neu entdecken kann.
Complexity turn
In diesem Modus der Mission hat Kirche es mit unbekannten Unbekannten zu tun. Für das, was sich auf diesen neuen Wegen zeigen will, kann es keine Bilder geben. Keine Sprache. Keine Stellenpläne, Kostenstellen und Gottesdienstordnungen. Auch keine Kontrolle. Der Knackpunkt dabei ist: Diese Formen des Aufbruchs lassen sich nicht planen — und auch nicht steuern. Denn es kann nicht bekannt sein, was hier zu steuern wäre.
Die unbekannten Unbekannten erlauben kein Planen, Steuern oder Kontrollieren.
Dies ist ein Teil des Phänomens, das man Komplexität nennt. In komplexen Situationen lassen sich nur Atmosphären schaffen, die Dynamiken sichtbar werden lassen, die auf das Neue hindeuten. Das Neue taucht auf – emergiert. Hierbei ist das Wie, also der Modus des Handelns genauso entscheidend, wie die Handlung selbst. Das Handeln wird zu einer soziale Praxis, wie in einem Vogelschwarm. Es gibt dabei keine einfachen oder planbaren Lösungen oder Steuerungsinstrumente (mehr). Auch Expertentum ist in komplexen Situationen nur begrenzt hilfreich, ebenso wie strukturelle Leitung. Weder Professorinnen noch Bischöfe können das Neue entscheiden, »machen« oder in Auftrag geben.
Komplexität — und interessanter Weise auch das Verständnis einer Missio Dei — sagt aber auch: Mit dem Neuen zu rechnen. Es ist da und wird. Trotz allem.
Vom (Er)Wachsen
»Trotzphasen« kosten allen Beteiligten viel Kraft. Sie verlangen Geduld und Beharrlichkeit. Kirchliche Trotzphasen stellen keine Ausnahme dar. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen erzeugt die notwendige Distanz, die auch erkennen lässt: Trotz ist Teil des Erwachsenwerdens. Eben: Energie der Veränderung. Trotz ist die Unruhe, die den Status quo anfechtet. Widerstand leistet. Nicht zufrieden sein lässt mit dem was ist. Für einzelne Menschen, für die Kirche, aber besonders für die Welt.
Kirchliche Trotzphasen sind Teil des Erwachsenwerdens
Der Trotz der Fresh Expressions inspiriert mit seinen Geschichten und lässt Mission zu einem pulsierenden Herzen der Kirche werden, der das Leben ist und die Veränderung bringt. Denn: es ist in allem Gottes Trotz, der nicht loslassen will und in seiner Sendung die Kirche aus sich selbst heraus und in die Welt führt, um sie ihr Innerstes wiederentdecken zu lassen.
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Maria Herrmann ist Theologin und sucht in ihrer Theologie immer Input von außen. Sie liebt Brutalismus und Craft Bier, Käsekuchen und Chaos. Letzteres sogar so sehr, dass sie darüber wissenschaftlich forscht.
Bild: max lawton, unsplash
Siehe auch:
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