Lia Alessandro über eine Zukunftvision der Kirche fernab eines Als-Ob.
„Das Unfaßbare ist geschehen: HABEMUS PAPESSAM.“[1] – Stellen Sie sich vor: wir schreiben das Jahr 2042. Auf dem päpstlichen Thron sitzt zum ersten Mal eine Frau*. Sie nennt sich Johanna die Zweite. Doch über die Jahre hat sich zuvor die röm.-katholische Kirche weiter verändert: nachdem sie reformiert ist und demokratische Grundzüge angenommen hat, zählt sie weltweit nur noch knapp 22 Millionen Mitglieder. Die Kirchengebäude sind leer und baufällig, die Reichtümer verkauft, im Vatikanpalast wohnt das kirchliche Oberhaupt nur noch zur Untermiete. Finanziert wird die Antrittsrede der neuen Päpstin durch Werbeanzeigen, übertragen wird die Rede in einer TV-Show.
Mit dieser Ausgangssituation eröffnet das Theaterstück Die amerikanische Päpstin von Esthar Vilar. Ich sitze im Theater an der Rott in Eggenfelden und lausche der Antrittsrede unter der Regie von Elke Maria Schwab. Die Wendung des Stücks überrascht. Die Mission der Päpstin, gespielt von Yvonne Köstler, lautet: Zurück zum Machterhalt! Nicht Freiheit, sondern klare Strukturen und Botschaften für die orientierungslosen Anhänger*innen. Und ich denke darüber nach: Könnte die röm.-katholische Kirche im Jahr 2042 so aussehen? Handelt es sich hierbei um eine Dystopie? Oder gar um eine realistische Vision?
Katholische Kirche im 21. Jahrhundert
Der Glaubens- und Relevanzverlust von Kirche im 21. Jahrhundert ist für alle spürbar. Im Jahr 2022 verzeichnet die Deutsche Bischofskonferenz knapp 21,6 Millionen Kirchenmitglieder in Deutschland. Nicht zu übersehen sind dabei die stetig zunehmenden Austrittszahlen. In ebendiesem Jahr sind die Zahlen so hoch wie noch nie.[2] Tendenz: steigend. Zu beobachten sind in der Tat Veränderungen, die der Vision aus dem Jahre 2042 ähneln: Kirchengebäude stehen leer und werden anderweitig genutzt. Sei es als Restaurant oder als Second-Hand-Möbelladen, nun gar via Kleinanzeigen verkauft. Ebenso ist eine Verschiebung ins Digitale wahrzunehmen: Gottesdienste werden gestreamt, eine digitale Beteiligung wird immer mehr und mehr möglich. Der Gang in das Kirchengebäude am Sonntag scheint nur noch die wenigsten zu interessieren.
Strukturprobleme der Katholischen Kirche und die „Kultur des Als-Ob“
Die gegenwärtige Situation der sogenannten Kirchenkrise zeigt auf, dass grundlegende Strukturproblematiken vorherrschen. Innerkirchliche Partizipationsbestrebungen machen dabei deutlich: wie keine andere Religion sticht die Katholische Kirche aktuell durch den Grad ihrer organisatorischen Hierarchisierung und Zentralisierung hervor. Diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass zum einen eine Immunisierung gegen Veränderungsdruck wahrgenommen wird und dies zu einer stetig zunehmenden Glaubens- und Relevanzkrise führt. Zum anderen scheint sich auch die enge Verbindung zwischen Klerikerkirche und Kirchenvolk, u.a. bedingt durch gesellschaftliche Veränderungen, aber auch z.B. Kritik an der kirchlichen Missbrauchsaufarbeitung, immer weiter aufzulösen.[3]
Die kirchliche Kultur des Als-Ob
Mit Überlegungen zu einer „Kultur des Als-Ob“ beschreibt u.a. die Theologin Annette Langner-Pitschmann treffend, dass sich in den aktuellen Debatten ein kirchliches So-tun-als-ob fortschreibt und dies eine bedeutsame Ambivalenz aufzeige: eine Spannung zwischen „Sein und Schein, Wahrnehmungs- und Fantasiewelt, Reale[m] und Fiktive[m].“[4] Problem des Katholischen sei dabei, dass sich das kirchliche Lehramt und Gläubige in einigen Kontexten wechselseitig nicht als Gesprächsgegenüber anerkennen und die innere Vorstellung im Vordergrund stehe, dass die Perspektive des jeweilig anderen keine Auswirkungen auf die eigene habe. Diese Spannung führe zu einer eigentümlichen Transparenz im Umgang miteinander, die an folgende Überlegung anschließt: „Wir tun so, als ob wir eure Lehren befolgen, und ihr tut so, als ob ihr nicht genau wüsstet, dass wir dies nicht tun.“[5]
Zwischen Strategien der Vereindeutigung und Ambiguitätstoleranz
Mit Blick auf kirchliche Machtstrukturen wird dabei eine Strategie der Vereindeutigung spürbar, die die Gefahr birgt, Deutungsoffenheiten einzudämmen und illegitime Machtförmigkeiten weiter fortzuschreiben. Hiervon ist auch die Frage nach geschlechtergerechten Partizipationsmöglichkeiten betroffen. Dies führt nicht nur zu weiteren Polarisierungen innerhalb der katholischen Glaubensgemeinschaft, wie wir sie zum Beispiel in aktuellen Debatten um die sogenannte „Gender-Ideologie“ wahrnehmen. Viele Gläubige stehen vor der Herausforderung, „eine demokratische Geistes- und Wertehaltung mit der hierarchischen Legitimationslogik der Ekklesiologie in Einklang zu bringen.“[6] Was es braucht, sei eine höhere Toleranz „gegenüber Deutungsoffenheiten im Bereich dogmatischer, moraltheologischer bzw. kirchenrechtlicher Entscheidungen.“ Denn je höher die Toleranz, desto ambigutitätstoleranter das Umfeld und die beste Voraussetzung, „um gewaltförmige Beziehungen und den Missbrauch von Macht zu unterbinden.“[7]
Das Papsttum der Frau* und die Zukunft von Kirche
Beziehen wir diese These nun auf die Debatte um die Frage nach der Weihe von Frauen*, dann gilt es darüber nachzudenken, ob Deutungsoffenheit und ein ambiguitätstolerantes Umfeld ausreichend sind. Braucht es nicht zusätzlich klare Entscheidungen der Machtträger, die innerkirchliche Partizipationsbestrebungen ernst nehmen? Die vielfach geführte Diskussion um die Frage scheint ja, trotz endgültigem Verbot, nicht abgeschlossen zu sein. Im Gegenteil: Im Vorfeld der zweiten Runde der Weltsynode steht die Forderung erneut im Raum. Doch beobachten lässt sich auch hier durch die Auslagerung der Frage nach dem Diakonat der Frau* in eine „Expertengruppe“ [8] eine Strategie des Machterhalts, die denjenigen zukommt, die weiterhin die Deutungshoheit besitzen.
Die Vision von einer Frau* auf dem päpstlichen Thron zeigt, dass eine Strategie der Ambiguitätstoleranz durchaus dazu führen könnte, den Forderungen innerkirchlicher Partizipationsbestrebungen nachzukommen und zum Beispiel den Zugang von Frauen* zu allen Diensten und Ämtern zu ermöglichen. Sie zeigt aber ebenfalls, dass es noch mehr braucht als das. Sie zeigt, dass Macht- und Strukturproblematiken nicht unbedingt ausbleiben. Die Fortschreibungen der etablierten Machtverhältnisse müssen weiterhin kritisch in Frage gestellt werden, und dies kann nur gelingen, indem sie thematisiert werden. Denn erst „wo Macht Thema wird, beginnt ihr Zerfall.“[9]
Lia Alessandro, seit Dezember 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Fundamentaltheologie und Philosophische Anthropologie der Universität Freiburg i. Brsg.; seit 2022 Doktorandin der Religionsphilosophie an der Professur für Theologie in globalisierter Gegenwart der Goethe-Universität Frankfurt. Lia Alessandro hat Katholische Theologie, Philosophie und Germanistik studiert.
Beitragsbild: Vitaliy Shevechenko, unsplash.com
[1] Esther Vilar, Die Antrittsrede der amerikanischen Päpstin, München/ Berlin 1982.
[2] Vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Pressemeldung (Nr. 105) 28.06.2023, in: https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/kirchenstatistik-2022 (Zugriff vom 21.03.2024).
[3] Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise – Wie überlebt das Christentum?, Freiburg im Breisgau 2011.
[4] Annette Langner-Pitschmann, Als Ob. Die fiktiven Momente kirchlicher Macht und die Ko-Autorschaft der Schafe, in: Lia Alessandro/ Anja Middelbeck-Varwick/ Doris Reisinger (Hrsg.), Kirchliche Macht und kindliche Ohnmacht, Münster 2023, 84.
[5] Annette Langner-Pitschmann (zitiert nach Matthias Katsch, Warum dieser Missbrauch katholisch schmeckt 2013), Als Ob, 80.
[6] Annette Langner-Pitschmann, Als Ob, 86
[7] Langner-Pitschmann, Als Ob, 88.
[8] Vgl. katholisch.de, Forderungen nach der Weihe im Vorfeld der Weltsynode, in: https://www.katholisch.de/artikel/51894-forderungen-nach-frauen-weihe-im-vorfeld-der-weltsynode (Zugriff vom 21.03.2024).
[9] Gesehen bei Christiane Florin (zitiert nach Ulrich Beck, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter 2002), in: https://www.weiberaufstand.com/post/zwischen-demutsginantismus-und-bescheidenheitsbrutalit%C3%A4t (Zugriff 21.03.2024).