Im dritten Teil unserer Reihe zum Thema Inklusion lädt Markus Schiefer Ferrari aus dis/abilitiykritischer Perspektive dazu ein, Partizipation anders zu denken. Was heißt das für unsere Lektüre biblischer Heilungsnarrative?
Teilhabe für alle Menschen, und zwar an allen Aspekten des Lebens, ist eine der zentralen Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention. Viele in unserer Gesellschaft dürften heute, mehr als zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK, diesem Leitmotiv zustimmen. Dass die gesellschaftliche Wirklichkeit vielfach dennoch diesem Anspruch nicht genügen kann, hat verschiedenste Ursachen. Dabei geht es nicht etwa nur um Barrierefreiheit in öffentlichen oder virtuellen Räumen. Das bekannte Diktum des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker „Es ist normal, verschieden zu sein.“ wird – besonders im konkreten Alltag – oftmals allzu schnell relativiert. Entscheidend dafür sind in der Regel unreflektierte Normalitäts- und Normalisierungsvorstellungen, die sich nicht zuletzt einem über Jahrhunderte gewachsenen kulturellen Gedächtnis verdanken.
Die Vorstellung eines Himmels ohne Behinderung ist Ausdruck theologischer Normalitäts- und Normalisierungsvorstellungen.
Im theologischen Kontext erscheint die Vision von einem Himmel, in dem es keine Menschen mit Behinderung geben wird, geradezu als selbstverständlich. Für das zukünftige Heil wird – meist unbewusst – die Heilung aller behinderten und kranken Menschen vorausgesetzt. Irritierend wirken hingegen Forderungen wie die der amerikanischen Professorin für Jüdische Studien Julia Watts Belser nach einem barrierefreien Himmel, in dem es beispielsweise auch Rollstuhlfahrer*innen geben wird und das „Springen wie ein Hirsch“ (Jes 35,6) nicht Bedingung zum Eintritt ist. Die unhinterfragte Annahme, Heilung wäre ein selbstverständlicher (Zukunfts-)Wunsch aller Menschen, verkennt offenbar die Bedeutung von Behinderung als Teil eigener Identität. Gut gemeinte Bilder der Partizipation aller an einem zukünftigen Heil, deren Prämisse aber eine nicht von allen ersehnte körperliche und geistig-seelische Anpassung an eine vermeintliche Norm ist, erweisen sich im Kontext eines inklusiven Anspruchs als exklusiv.
Interpretationen von biblischen Heilungsgeschichten sind häufig exklusiv.
Dagegen einzuwenden wäre, dass doch gerade biblische Wundergeschichten von der weltverändernden Kraft Gottes erzählen und dadurch Hoffnung auf eine bessere Zukunft wecken möchten. Wenn zum Beispiel bei der Speisung der Fünftausend (Mk 6,30–43) sogar noch zwölf Körbe voll übrig bleiben, verweist dies auf den Überfluss eines abundanten Festmahls am Ende der Zeit, das sich wiederum aus Vorstellungen von einer paradiesischen Fülle am Anfang der Zeit speist. Für die Hörer*innen erwächst aus dieser Wundererzählung nicht nur Hoffnung auf endzeitliche Partizipation, sondern ebenso auf Veränderung der eigenen Gegenwart.
Legt man eine solche Verschränkung der Zeiten auch an Heilungserzählungen als Interpretationsmatrix an, ergibt sich allerdings erneut die Problematik der Hoffnung auf endzeitliche körperliche und psychisch-geistige Vollkommenheit, die letztlich wiederum normierend für gegenwärtige Erwartungen wird.
In der Konsequenz folgt daraus nicht, biblische Heilungsnarrative nicht mehr zu tradieren, zumal die Heilungswunder Jesu zum Grundbestand der neutestamentlichen Überlieferung gehören. Vielmehr geht es darum, die Spannung zwischen der darin zum Ausdruck gebrachten weltverändernden Kraft Gottes und dem Anspruch einer deutungsverändernden Wirkung menschlicher Fragilität wahrzunehmen. Diese Ambiguität auszuhalten, bedeutet – ganz im Sinne eines inklusiven Denkens – die Akzeptanz eigener hermeneutischer Begrenztheit, aber auch die Öffnung für die Vielfalt unterschiedlicher Verstehenszugänge.
Eine kritische Aufarbeitung der Wirkungsgeschichte biblischer Heilungsnarrative ist wichtig.
Ein solcher Ansatz scheut sich dann auch nicht, angesichts der jahrhundertelangen kulturprägenden Wirkung der Bibel danach zu fragen, inwieweit sich die Tradierung himmlischer Heilsvorstellungen einerseits und die Gestaltung irdischer Lebensrealitäten andererseits gegenseitig bedingt haben. Die Rezeption partizipativer Bilder biblischer Erzählungen dürfte sich ebenso wie die Rezeption diskriminierender Tendenzen in kulturellen (Normalitäts-)Codes spiegeln bzw. umgekehrt von diesen beeinflusst sein. Ebenso wenig auszuschließen ist in diesem Zusammenhang, dass biblische Heilungserzählungen bzw. ihre Wirkungsgeschichte indirekt zur Unterscheidung von Behinderung und Nicht-Behinderung beigetragen haben könnten. Wie die sogenannten Dis/ability Studies zeigen, ist Behinderung nämlich nicht einfach als Schädigung des Körpers und damit Ausdruck objektiver Naturvorgänge (medizinisches Modell von Behinderung) oder nur als Resultat sozialer Übereinkünfte und Barrieren (soziales Modell) zu deuten. Nach dem kulturellen Modell ist Behinderung dagegen als kontingent, das heißt als soziokulturelle bzw. -historische Konstruktion und gesellschaftliche Differenzkategorie zu denken.
Betrachtet man neutestamentliche Heilungswunder unter einer solchen Perspektive genauer, sind klischeehafte Differenzvorstellungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung unübersehbar: So werden zum Beispiel in Heilungserzählungen vielfach Kontrastierungen zwischen den meist anonym bleibenden Heilung Suchenden und den Gegnern Jesu eingetragen. Auch wenn eine solche Gegenüberstellung zunächst dazu dient, die Wunderkraft Jesu besonders hervorzuheben, werden dadurch Menschen mit Behinderung letztlich funktionalisiert und ungewollt stigmatisierende Stereotypen transportiert.
Zur dis/abilitykritischen Hermeneutik gehört die Offenheit für eine „gestörte Lektüre“.
Eine dis/abilitykritische Hermeneutik biblischer (Heilungs-)Erzählungen ist nicht im Sinne einer kontextuellen Bibellektüre zu verstehen, die von der Lebenswelt einer diskriminierten Gruppe ausgeht und versucht, biblische Texte für diese zu erschließen. Dies würde nur erneut zu einer fragwürdigen Mitleidshaltung und zur weiteren Zementierung höchst problematischer binärer Unterscheidungskriterien, wie behindert und nichtbehindert, betroffen und nichtbetroffen usw., führen. Vielmehr will eine solchermaßen „gestörte Lektüre“ Leser*innen nicht nur zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den biblischen (Heilungs-)Erzählungen und verschiedenen Interpretationsansätzen provozieren, sondern vor allem dazu, in diesem Zusammenhang eigene Differenzkategorien und Exklusions- bzw. Normalisierungsvorstellungen zu hinterfragen, und zwar in der Hoffnung auf einen inklusiven Diskurs über vielfältige Visionen (zukünftiger) Partizipation für alle.
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Autor: Dr. Markus Schiefer Ferrari ist Professor für Katholische Theologie mit den Schwerpunkten Biblische Theologie, Exegese des Neuen Testaments und Bibeldidaktik an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Er publiziert insbesondere zur rezeptionsästhetischen Hermeneutik und Didaktik, kindertheologischen Bibellektüre sowie Dis/ability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese.
Zur weiteren Lektüre: Markus Schiefer Ferrari, Exklusive Angebote. Biblische Heilungsgeschichten inklusiv gelesen, Ostfildern 2017.
Bild: Lars Brun und Jürgen Homann, Zentrum für Disability Studies und Teilhabeforschung.