Der Tod eines Mächtigen provoziert das Nachdenken; Nachdenken über die Zeit seiner Lebensspanne, über seine Taten, über seinen Einfluss, seine Entscheidungen, seine Weggefährten und sein persönliches Schicksal. Ein Nachruf von Florian Bruckmann.
Josepf Ratzinger entstammte sogenannten einfachen Verhältnissen und wurde 1927 geboren. Die Mutter war Köchin, der Vater Gendarm in Bayern. Die Schulzeit verbrachte Ratzinger in Traunstein; im Zweiten Weltkrieg war er zeitweise Flakhelfer in München und erlebte das Ende des Krieges während der Grundausbildung zum Infanteristen. Nach dem Krieg studierte er katholische Theologie in München und wurde am 9. Juni 1951 zusammen mit seinem Bruder zum Priester geweiht. Bereits 1952 wurde er Dozent am Priesterseminar, 1953 promovierte und 1957 habilitierte er. Seine akademische Professorenlaufbahn führte in rascher Folge über Freising nach Bonn, Münster und Tübingen bis nach Regensburg. Am Zweiten Vatikanischen Konzil nahm er als beratender Theologe teil. Papst Paul VI. ernannte ihn 1977 zum Erzbischof von München Freising, im selben Jahr wurde er bereits Kardinal. 1982 übernahm er das Amt des Leiters der Glaubenskongregation, bevor er 2005 selbst zum Papst gewählt wurde und sich den Namen Benedikt wählte. Ende Februar 2013 legte er das Papstamt nieder und lebte seitdem mehr oder minder zurückgezogen im Vatikan.
schüchtern und feingeistig
Theologisch fiel Ratzinger zu Beginn seines Wirkens dadurch auf, dass er nicht in neoscholastischer Manier dozierte, sondern es wagte, Fragen in damals unkonventioneller Weise zu stellen. Schnell wurde aber deutlich, dass der eher schüchterne und feingeistige Ratzinger mit den Veränderungen im Zuge der 68er Bewegung nicht zurechtkam. Ihm lag zwar an der Freiheit des Denkens (in klaren Bahnen), aber nicht an der Freiheit selbstbestimmten Lebens. Die Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen aufgrund selbstbewusster Lebensführung zieht sich wie ein roter Faden durch das Wirken von Ratzinger. Mit der ihm zur Verfügung stehenden (nicht geringen) Macht versuchte er den von ihm diagnostizierten Moralverfall aufzuhalten und verfocht nicht nur den priesterlichen Zölibat, sondern auch die in Humanae vitae vorgelegte Sexuallehre und sprach sich gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen und die Priesterinnenweihe von Frauen aus. Er lehnte konsequent jede Beteiligung der katholischen Kirche an der Schwangerschaftskonfliktberatung ab. In ökumenischer Hinsicht arbeitete er einerseits an der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre mit und konzelebrierte als Papst bei einem protestantischen Gottesdienst in Erfurt, sprach allerdings den protestantischen Kirchen das Kirche-Sein ab.
legendär und zerstörerisch
Bei kommunistischer oder faschistischer Unterdrückung ist es gut, wenn Kirche als Gegengesellschaft in institutioneller Stärke fungieren kann. Leider wurde dieses Prinzip auch auf die Demokratie übertragen und die Moderne in ihren Freiheitsbemühungen als feindselig wahrgenommen. So wandte sich Ratzinger z. B. gegen die Anfragen von Hans Küng an die Unfehlbarkeit des Papstes und hielt dessen absolute geistlich-geistige Herrschaft gegen alle relativistischen Tendenzen fest. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Kommunismus wurden unter Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation die Erneuerungsbemühungen der Befreiungstheologie konsequent zurückgedrängt und der Kirche nicht nur in Lateinamerika Schaden zugefügt. Seine Bemühungen, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil keine Kirchenspaltung herbeizuführen, sind legendär, sein stetes Zugehen auf die sich gründende Piusbruderschaft allerdings zerstörerisch. Insgesamt hat die dogmatische Durchgriffsfähigkeit der römisch-katholischen Kirche während der Lebenszeit Ratzingers stark zugenommen und noch nie zuvor in der Geschichte war die Abgezirkeltheit der Lehre größer und undurchlässiger. Dafür legt nicht nur der 1992 publizierte Katechismus der Katholischen Kirche ein beredtes Zeugnis ab. Natürlich ist die Dichte der Lehrsystematik und kirchenrechtlicher Stringenz bewundernswert, allerdings ebenso erschreckend, in Teilen lebensfern und womöglich wenig katholisch. Jedenfalls ist es schwerer geworden, als normaler Gläubiger dem eigenen Gewissen zu folgen und auf das Wirken des Heiligen Geistes im eigenen Glaubensleben zu horchen. Es ist deutlich, dass sich die römisch-katholische Kirche in steter Auseinandersetzung mit weltweiten gesellschaftlichen Veränderungen an diesem Punkt selber stark verändert hat und oft der Tendenz erlegen ist, alles für alle gleich von Rom aus zu regeln. In diesem Sinne hat sich das katholische Lebensgefühl in den letzten Jahrzehnten selbst stark verändert und gefühlte Verwässerungen wurden und werden – ganz in der Linie von Johannes Paul II. und seinem Präfekten der Glaubenskongregation und Nachfolger Benedikt XVI. – von Rom nicht akzeptiert und als unkatholisch diffamiert. Oft schien die römische Zentrale von einem Misstrauen der Verhältnisse vor Ort bzw. einem selbständigen erwachsenen Glaubensleben durchdrungen zu sein, so dass es zu einer Flut von Veröffentlichungen und Regelungen nicht nur in den Bereichen Glauben und Moral kam. Herausforderungen wurden dabei nicht mutig angegangen, sondern es erfolgte der Hinweis, dass dies weltkirchlich nicht durchsetzbar sei oder dass die Kirche keine Befugnisse habe, etwas zu ändern. Misstrauen und Angst vor Veränderung sind selbst die größten Veränderungen im institutionellen kirchlichen Handeln der letzten Jahrzehnte.
eine gewisse Naivität
Wie viele seiner Amtsgenossen war Ratzinger sowohl als Erzbischof als auch als Präfekt der Glaubenskongregation mit Missbrauchsfällen befasst. Hätte er das Evangelium geliebt, hätte er sich den Opfern zugewandt; hätte er seine Kirche als Institution geliebt, hätte er die Täterpriester konsequent vor die Tür gesetzt. Beides hat er – wie viele andere Entscheidungsträger – nicht getan und so ein frappierendes Zeugnis für Inkompetenz abgelegt. Wer in Personalfragen Entscheidungsmacht hat, muss diese wahrnehmen, und darf sich selbst nicht hinter institutioneller Kompetenzdiffusion verstecken. Trotz aller Repräsentationspflichten und Verwaltungsaufgaben hat Ratzinger stets Wert darauf gelegt, selbständig theologische Texte zu veröffentlichen. Er selber ging davon aus, dass diese „nur“ durch die Kraft der dargelegten Argumente wirken; auch dies legte eine gewisse Naivität im Hinblick auf Einfluss und Machtwirkung an den Tag, denn seine Jesus-Bücher, die er während seines Pontifikates schrieb, entfalteten und entfalten ihre Wirkung auch von der Machtposition des schreibenden Funktionsträgers her. Der Orthodoxie war Ratzinger stets offen zugeneigt, zum Judentum unterhielt er gute Kontakte, die ihn allerdings nicht davor bewahrten, z. B. bei der Wiederzulassung der sogenannten Tridentinischen Messe einiges Porzellan zu zerbrechen. Seine Regensburger Rede sorgte für Verstimmungen bei vielen Muslim*innen und seine in Freiburg geäußerten Ideen zu einer Entweltlichung der Kirche hätten wohl größere Wirkung entfaltet, wenn er den Vatikanstaat verlassen und in einem römischen Vorort-Gewerbegebiet ein bescheidenes Verwaltungszentrum hätte bauen lassen.
Dass der erste Jesuit als Papst selbst noch jahrelang mit einem zurückgetretenen Papst leben und „regieren“ musste, an den er sich womöglich noch persönlich gebunden fühlte, war zweiffellos eine große Herausforderung. Franziskus ist eine herzensgute charismatische Barmherzigkeit anzumerken, die sein eher kühler Vorgänger oft vermissen ließ. Die Zukunft wird zeigen, ob die Lebendigkeit des Katholizismus von Rom aus gebändigt werden kann oder sich weiterhin machtvoll vor Ort entfaltet. Joseph Ratzinger wird trotz aller professoraler Gelehrsamkeit eher als ein Präfekt der Glaubenskongregation und Papst in Erinnerung bleiben, der vielen seiner Zeitgenoss*innen eher skeptisch gegenüberstand und ein traditionelles Erscheinungsbild seiner römisch-katholischen Kirche verteidigte bzw. entwarf, das sich dennoch weiter verändern wird. Wir dürfen gespannt sein, wie man in Zukunft auf ihn blicken wird.
Autor: Florian Bruckmann ist Professor für Katholische Theologie am Seminar für Katholische Theologie der Europa-Universität Flensburg.
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