Elazar Benyoëtz, Schoa-Überlebender, ging zu Beginn der 1960er Jahre nach Deutschland. In Israel wurde er dafür stark kritisiert. René Dausner reflektiert die theologische Tiefe seiner aphoristisch-ironischen Dichtung.
Die Zeit ist aus den Fugen. Dieses Hamlet-Zitat steht in ausgesprochen produktiver Spannung zu dem in Israel lebenden deutschsprachigen Dichter Elazar Benyoëtz. Denn die aphoristische Dichtung, die Benyoëtz in den vergangenen fünfzig Jahren konsequent entwickelt hat, ist geprägt von einem Grundvertrauen: in die Sprache und vor allem: in das Wort Gottes. Doch dieses Vertrauen hat – das ist längst kein Geheimnis mehr – Risse bekommen.
Sprache kann als Indikator für eine aus den Fugen geratene Zeit fungieren.
Tatsächlich fällt eine positive Antwort auf die Frage, ob die Zeit aus den Fugen sei, nicht nur überzeugten KulturpessimistInnen schwer. Hate speech und fake news dominieren die sozialen Medien. Erst kürzlich fand in einem Theater in Hamburg eine öffentliche Lesung statt, in der Hass-Mails präsentiert wurden, die an deutsche Politikerinnen und Politiker geschickt worden waren. Der so entstehende „Chor des Hasses“[1] zeigt, wie alltäglich sprachliche Entgleisungen, verbale Attacken und Beleidigungen geworden sind. Es ist insofern keineswegs überraschend, dass vor einem Jahr in Dresden ein Sonderforschungsbereich (SFB 1285) zum Thema „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ gegründet worden ist. Wenn Sprache als Indikator für eine aus den Fugen geratene Zeit fungieren kann, dann lässt die Verrohung von Sprachwelten keinen Zweifel daran, dass etwas faul sei im Staat.
Markenzeichen von Benyoëtzʼ Werk ist die ironische Form des Aphoristischen.
Die Zeit ist aus den Fugen. Mit Blick auf Elazar Benyoëtz führt dieses Zitat zugleich in die Anfangszeit seines literarischen Schaffens hinein. Mir wurde dieser Zusammenhang deutlich, als Elazar Benyoëtz mir während meiner Dissertation über sein Werk einen Band mit dem gleichnamigen Titel schenkte. Das Buch – Zeit aus den Fugen. Aufzeichnungen – erschien vor fünfzig Jahren, im Jahr der 68er-Revolte, die bekanntlich nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa mit dem „Muff von tausend Jahren“ brechen wollte. Autor dieser Aufzeichnungen über eine aus den Fugen geratene Welt war der heute kaum noch bekannte Schriftsteller Werner Kraft. Seit Ende der 1960er Jahre hat Elazar Benyoëtz, der im vergangenen Jahr seinen 80. Geburtstag beging, Satz um Satz und Buch um Buch ein stattliches deutsches Werk geschaffen. Kennzeichen seines Werks ist die extrem verknappte, nicht selten paradox anmutende, ironische Form des Aphoristischen.
Elazar Benyoëtz ist der Künstlername des Schoa-Überlebenden Paul Koppel.
Geboren wird Elazar Benyoëtz im Jahr 1937 in Wiener Neustadt als Paul Koppel. Der hebräische Kunst- und Künstlername Elazar Benyoëtz bedeutet wörtlich: Gott hat gegeben (Elazar) und Sohn des Ratgebers (Ben-Yoëtz) und formuliert sehr präzise das eigene Schicksal, das Benyoëtz selbst einmal in dichterischer Form so beschrieben hat:
„Ich war zum Nichtleben
vorgesehen
und habe den Vorteil,
wie ein Toter
schreiben zu können“
(Elazar Benyoëtz, Finden macht das Suchen leichter, 45)
Die denkbar kurze Situation, die diese Verse skizzieren, zeigt die ganze Problematik, mit der diejenigen konfrontiert waren, die die Schoa überlebten und die die Trauer um all die Toten im Herzen trugen. Benyoëtz suchte zunächst nicht die deutsche Sprache als sein eigenes dichterisches Ausdrucksmittel, sondern konnte als junger hebräischer Dichter reüssieren.
Als Benyoëtz nach Berlin ging, wurde er in Israel stark kritisiert.
Als Benyoëtz dann aber zu Beginn der 1960er Jahre nach Berlin ging – noch vor der 68er-Bewegung und noch bevor es diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel gab –, wurde er in Israel stark kritisiert. Das Unverständnis über einen Überlebenden der Schoa, der in Deutschland leben und wirken wollte, war zu groß. Dabei folgte Benyoëtz einer ganz eigenen, zunächst wissenschaftlichen Mission: Er wollte in einem großangelegten Forschungsprojekt, das in der Folgezeit sukzessive unter dem Titel „Bibliographia Judaica“ erschien und heute in 21 Bänden vorliegt, sämtliche jüdischen Autorinnen und Autoren verzeichnen, die jemals etwas auf deutsch publiziert hatten.
Je länger Benyoëtz in Deutschland lebte, desto mehr hatte er den Eindruck, sich in die deutsche Sprache zu verlieben und sich in der deutschen Sprache zu verlieren. Er kehrte darum Ende der 1960er Jahre nach Israel zurück – und schrieb dort ein deutschsprachiges Buch, das als Abschied aus dem Deutschen gedacht war. Die kurze Form, die er für sein Abschieds-Bändchen wählte, sollte in nuce Gedanken konservieren, um für den Fall einer erneuten, erzwungenen Flucht als transportable Heimat leicht ins Gepäck zu passen.
Doch der Abschied, den er aus dem Deutschen angestrebt hatte, dauerte sehr lange und ist – zu unserem Glück – noch längst nicht abgeschlossen. Benyoëtz veröffentlichte zunächst sehr kurze Bücher in komprimierter Form. Mit dem Band „Treffpunkt Scheideweg“, der nach der politischen Wende und der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 erschien, fand Benyoëtz dann eine neue Form des Schreibens, indem er Briefe oder Auszüge aus Briefen und Tagebücher sowie längere Prosa mit Aphorismen kombinierte.
Prägend für Benyoëtz sind intensive Bibellektüren.
Für das Thema, das Benyoëtz schon früh für sich entdeckt hatte, prägte er selbst einen Neologismus: Identitäuschung. Im Vollzug des Sprechens kehrt sich das Wort im Mund um und es wird deutlich, dass eine als abgeschlossen gedachte Identitätssuche nicht mehr als nur Täuschung sein kann. Perfekt, so heißt es an anderer Stelle, ist inhuman und kunstwidrig. Woher also kommt mir Hilfe, mögen Leserinnen und Leser mit dem Psalmisten fragen. Benyoëtz bleibt keineswegs bei einer Negativbestimmung der Sinn-, Selbst- und Gottessuche stehen, sondern stößt – vermittelt durch seine intensiven Bibellektüren – auf die sehr unterschiedlichen Figuren Abraham und Kohelet. Trotz aller Unterschiede, die die beiden biblischen Figuren auszeichnen, ist ihnen doch die Sprache als Medium zu Gott gemeinsam.
Worthaltung – das meint eine Haltung im Wort, in der Sprache.
Benyoëtz reflektiert die Bedeutung der Sprache für den Glauben ebenso wie für den Zweifel, insofern Glaube und Zweifel auf Gott bezogen sind. Das Wort, das er allen Bedenken und Zweifeln zum Trotz für eine in der Bibel breit bezeugte Glaubenshaltung in der Sprache gefunden und geprägt hat, lautet: Worthaltung. Worthaltung – das meint eine Haltung im Wort, in der Sprache und bedeutet somit genau das Gegenteil von dem, was anfangs unter dem Stichwort der Invektiven beschrieben wurde. Worthaltung ist der rationale Versuch, trotz des Leids aufrecht vor Gott zu leben, auch und gerade in einer Sprache, die die Sprache von TäterInnen und Opfern gleichermaßen war. „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott“ – auf dieses bekannte Wort hat Dietrich Bonhoeffer den Gedanken der Worthaltung gebracht.
Worthaltung meint auch: ein gegebenes Versprechen einhalten, zum eigenen Wort stehen.
Worthaltung aber hat, zumal in der dichterischen Ausgestaltung von Benyoëtz, noch eine ganz eigene Bedeutung. Worthaltung meint auch: ein gegebenes Versprechen einhalten, zum eigenen Wort stehen. Worthaltung ist somit eine poetische Umschreibung für Treue, auch die Treue Gottes, wie eines von Benyoëtzʼ vielleicht schönsten Gedichten verrät:
„Der Mensch –
ein Wort,
von Gott gehalten.
Der Mensch –
ein Wort,
von Gott fallengelassen
Der Mensch
hat das Wort
wenn Gott ihn ruft:
es ist das letzte,
mit dem er widerspricht,
das erste,
das er wieder spricht“
(Elazar Benyoëtz, Die Zukunft sitzt uns im Nacken, 42)
In diesem Poem wird das Wort zu einem Schauplatz der Begegnung zwischen Gott und Mensch; deutlich wird die Abhängigkeit des Geschöpfes von seinem Schöpfer ausgedrückt. Ebenso deutlich aber wird auch die Liebe und Fürsorge des Schöpfers dargestellt, der sich dem Menschen im Wort zuwendet. Spruch und Widerspruch, Rede und Gegenrede bilden für Benyoëtz den intellektuellen Referenzrahmen für den Einfall der Transzendenz in die Immanenz. Veröffentlicht ist dieses Gedicht in dem Buch mit dem sprechenden Titel „Die Zukunft sitzt uns im Nacken“. Unmissverständlich, wenn auch mit einem ironischen Augenzwinkern markiert dieser Titel die Neugier und Offenheit gegenüber einer unbekannten Zukunft; zugleich bedrängt die Zukunft uns – hier und heute. Sie rückt uns nah und sitzt uns hartnäckig im Nacken. Eine solche Zeit, der die Zukunft wie ein Schalk im Nacken sitzt, ist aus den Fugen, gewiss. Aber sie bleibt nicht ohne Hoffnung.
[1] https://www.ndr.de/ndrkultur/sendungen/sonntagsstudio/Sonntagsstudio,sendung829340.html#
Zum Autor: Der Theologe Prof. Dr. theol. habil. René Dausner ist Professor für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Hildesheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt das Gespräch zwischen Theologie und Literatur; im Jahr 2006 erschien seine dogmatische Dissertation zum Werk von Elazar Benyoëtz, die im Folgejahr mit dem Preis der Universitätsgesellschaft Bonn ausgezeichnet wurde.
Literaturhinweis: Ende 2018 erscheint von R. Dausner der Beitrag: Poetik des Unendlichen. Elazar Benyoëtz und die Theologie, in: Michael Bongardt, Hg., Zugrunde gegangen und hoch in die Jahre gekommen. Gabe zum 80. Geburtstag des Dichters Elazar Benyoëtz. Würzburg: Königshausen & Neumann, 163-174 (ca. 200 Seiten, ca. € 24,80. ISBN: 978-3-8260-6513-2)
Bildquelle: Taha Mazandarani / Unsplash.