Elia Dalla Costa (1872-1961) war nicht nur aufgeschlossen für Neues, er hat auch Mussolini und Hitler die Stirn geboten – und er war der wohl aussichtsreichste Gegenkandidat bei der Papstwahl Pius’ XII. Anlässlich seines 150. Geburtstages fragt Christian Bauer: Was wäre gewesen, wenn… ? Ein Stück spekulativer Kirchengeschichte.
Was wäre gewesen, wenn… Hannibal Rom eingenommen hätte? … die Araber die Schlacht von Tours und Poitiers gewonnen hätten? … Adolf Hitler den Zweiten Weltkrieg nicht verloren hätte? Fragen wie diese beschäftigen die sogenannte kontrafaktische Geschichtsschreibung. Große Namen wie Alexander Demandt oder Niall Ferguson haben sich daran gewagt. Wikipedia zufolge versucht sie, von der „durch Quellen gesicherten Faktenlage“ ausgehend mithilfe von „kontrafaktischen Konditionalsätzen“ kontrolliert zu spekulieren, was geschehen wäre, wenn „bestimmte historische Tatsachen nicht oder anders eingetroffen wären“. Ziel ist ein „Erkenntnisgewinn über Kontinuitäten und Brüche, über Zwangslagen und Handlungsspielräume in historischen Situationen“.
Spekulative Extrapolation
Ähnlich arbeiten auch alternativ-geschichtliche Historienromane, die mich seit jeher fasziniert haben: der spekulative Kriminalthriller „Vaterland“ (1992) von Robert Harris, der – nachdem Hitler den Krieg gewonnen hat – im Deutschland des Jahres 1964 spielt oder die umgekehrte Kolonialismusgeschichte „Eroberung“ (2019) von Laurent Binet, in welcher die Inka im 16. Jahrhundert Europa gewaltsam erobern. Geschichtsschreibung kann man nicht nur grundsätzlich mit spätmodernen Theoretikern wie Michel de Certeau als eine Art von „Science fiction“[1] betrachten, sondern wie die genannten Autoren auch konkret als eine solche betreiben – ganz im Sinne der Science-Fiction-Forschung, wo man von einer „spekulativen Extrapolation“[2] aus empirisch gegebenen Daten (z. B. der technischen Forschung) spricht: Phantasie trifft Fakten, Fakten treffen Phantasie.
1. Papstgeschichte: Was wäre gewesen?
Was wäre gewesen, wenn…? – diese Frage kann man auch mit Blick auf die Papstgeschichte in 20. Jahrhundert stellen. So kann man sich zum Beispiel fragen, was geschehen wäre, wenn Giovanni B. Montini – der 1963 gewählte Papst Paul VI. – nicht 1954 im Kontext der Arbeiterpriesterkrise von Papst Pius XII. ohne Kardinalshut nach Mailand geschickt, sondern schon 1958 zu dessen Nachfolger gewählt worden wäre (als er bereits als papabile galt, d. h. als ein Kandidat für das Amt des Papstes). Andrew Greely spekuliert, dass die Kirche dann eher im Gleitflug und nicht wie unter Johannes XXIII. im Sturzflug in einer neuen Zeit gelandet wäre: „Die Tragödie Pauls VI. bestand darin, dass er weder das Lob der Konservativen noch den Zorn der Liberalen wollte und am Ende mit beidem überschüttet wurde. Wenn Papst Paul VI. 1958 und nicht erst 1963 gewählt worden wäre, hätte er es wesentlich leichter gehabt. Denn die Wandlung in der Kirche hätte sich unter seiner sensiblen, taktvollen Führung viel langsamer und Schritt für Schritt vollzogen.“[3]
Hätten die Engel gewählt, so hätten sie Elia Dalla Costa zum Papst gemacht
Die folgenden Überlegungen widmen sich einer kleinen, zugleich aber auch sehr signifikanten Marginalie der Papstgeschichte: Was wäre eigentlich geschehen, wenn im Jahr 1939 nicht Kardinalsstaatssekretär Eugenio Pacelli, sondern der Florentiner Erzbischof Elia Dalla Costa zum Papst gewählt worden wäre? Historisch ist das gar nicht so unwahrscheinlich, denn auch dieser galt damals als papabile. Berühmt wurde der Kommentar des römischen Kurienkardinals Francesco Marchetti Selvaggiani zum Ausgang der Wahl: „Hätten die Engel gewählt, so hätten sie Elia Dalla Costa zum Papst gemacht, hätten die Dämonen gewählt, so hätten sie mich zum Papst gemacht – es haben aber die Menschen gewählt.“[4] Fragen wir also: Welchen Weg hätte die römisch-katholische Kirche unter diesem Pastor angelicus eingeschlagen? Um sich einer möglichen Antwort anzunähern, muss man jedoch zunächst einmal fragen, wer Elia Dalla Costa überhaupt gewesen ist.
2. Experiment Isolotto: Alptraum Pius’ XII.?
Auf ihn gestoßen bin ich im Zuge meiner Forschungen zu römisch-katholischen Modell-Reformgemeinden vor dem Zweiten Vatikanum (z. B. Paris-Colombes, Florenz-Isolotto) und nach dem Konzil (z. B. Dortmund-Scharnhorst, Frankfurt-Eschborn, Wien-Machstraße). Dalla Costa war zu seiner Zeit einer der bekanntesten Kirchenführer Italiens. Der Kardinal galt als ein „Mann von großem pastoralem Weitblick“[5], der sich zur selben Zeit wie Kardinal Emmanuel Suhard in Paris[6] darum bemühte, die „pastoralen Methoden den Bedürfnissen des heutigen Menschen anzupassen“[7]. In den innerkirchlich „dunklen Jahrzehnten“[8] Papst Pius’ XII. ermöglichte seine „schützende Hand“[9] eine Reihe von „nonkonformistischen Experimenten“[10]. So nahm er „regen Anteil“[11]an der Entstehung der vorkonziliaren Modellgemeinde in der Florentiner Arbeitervorstadt Isolotto („Inselchen“). Don Enzo Mazzi, der von 1954 bis 1969 Pfarrer im Isolotto war, erinnert sich an deren Anfänge:
„Das Viertel hat weder Geschäfte, Bars und andere Lokale, noch Straßen, Schulen und Kirche […]. […] So wurde in den Räumen einer früheren Fabrik […] ein Gemeindezentrum eingerichtet […]. Es gab hier eine Schulnachhilfe, eine Bibliothek, einen Kinderhort, einen Versammlungssaal und einige Erholungsräume. […] Es bedurfte […] endloser Diskussionen, um das Zentrum für alle offen zu halten […]. Viele konnten von der Richtigkeit dieses neuen pastoralen Weges überzeugt werden. […]. Den entscheidenden Anstoß zu unserer Orientierung bekamen wir […] aus […] dem ständigen Umgang mit dem Wort Gottes. […] Wir ließen uns tief durchdringen vom Geist […] des Evangeliums.“[12]
Ein programmatischer Hirtenbrief Dalla Costas aus dem Jahr 1937, dessen Titel Adiamo agli uomini („Lasst uns zu den Menschen gehen“) bereits auf das Zweite Vatikanum vorausweist, beschreibt die pastorale Gesamtrichtung des Isolotto-Experiments. Womöglich hatte der Kardinal Don Mazzi und dessen Team vor Augen, als er sagte: „Ihr werdet der Neuerung bezichtigt? Und ihr werft euren Gegnern ein Festhalten am Alten vor? Sie sind von einer antiquierten Geisteshaltung und unfähig Neues zu denken? Seid nicht allzu besorgt um sie. Geht euren Weg voran, er ist sicher und führt zu Gott.“[13]
Konservativer Wachhund
Im Jahr 1954 (das Jahr, in dem auch die französischen Arbeiterpriester verboten wurden) ernannte Papst Pius XII. Ermenegildo Florit, einen ehemaligen Theologieprofessor der Lateranuniversität, der auf dem Konzil dann zur Minderheit der reformkritischen Bischöfe gehörte, zum Koadjutor des Erzbischofs von Florenz mit dem Recht zur Nachfolge – um als „konservativer Wachhund die liberalen Instinkte Elia Dalla Costas im Zaum zu halten, der sich zu einer der bêtes noirs von Pius XII. entwickelt hatte“[14]. Der Kardinal führte ihn mit folgenden Worten ein: „Ich stelle Ihnen den neuen Bischof vor, der mir aus Rom gesandt wurde, ohne dass ich darum gebeten hatte.“[15]
Als der spätere Kardinal Florit dann im Jahr 1962 sein Nachfolger wurde, begannen nicht nur für die selbstbewusste, aufmüpfige Gemeinde im Isolotto Jahre der Auseinandersetzung, die dann schließlich in den Konflikten des Jahres 1968 gipfelten und 1969 zur Ablösung von Don Mazzis führten. Symbolisch verdichtete sich der Konflikt in den beiden Messfeiern, die von nun an jahrelang offiziell in der Kirche und inoffiziell auf der Piazza gefeiert wurden. Hier die geschlossene Kirche, dort die um einen „Altar auf der Piazza“[16] versammelte Gemeinde – ein Bild voll nachkonziliarer Signifikanz: „Die Piazza ist nun ihre Kirche.“ [17]
3. Leben eines Gerechten: Ein Heiliger?
Zoomen wir nun etwas näher an die Biografie Elia Dalla Costas heran. Seine Mutter verstarb, als er fünf Jahre alt war. Nach der Priesterweihe im Jahr 1895 arbeitet er bis 1922 als einfacher Pfarrer. Während des Ersten Weltkrieges leistete er humanitäre Dienste und kümmerte sich um verwaiste Kinder. 1923 wurde er zum Bischof von Padua ernannt, 1931 zum Erzbischof der Diözese Florenz. Diese leitete er dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tod 1961. 1933 machte ihn Papst Pius XI. zum Kardinal.
Als Hitler im Mai 1938 zusammen mit Mussolini Florenz besuchte, weigerte sich Dalla Costa, den erzbischöflichen Palast mit Fahnen zu schmücken. Türen und Fenster blieben in demonstrativer Weise verschlossen. Der Kardinal wurde nun zum „führenden Kopf im katholischen Widerstand“[18]. Er verurteilte nicht nur die italienischen Rassengesetze, sondern rettete auch hunderten Juden das Leben – manche versteckte er sogar im eigenen Bischofshaus, anderen besorgte er gefälschte Pässe. Dalla Costa schuf ein engmaschiges Netzwerk zur Rettung italienischer Juden[19], in dem auch der mit ihm gut bekannte Tour-de-France-Sieger Gino Bartali[20] eine wichtige Rolle spielte, der während seiner Trainingsfahrten die gefälschten Dokumente auslieferte.
Reformkatholischer Mikrokosmos
Während seiner langen Amtszeit entstand in Florenz ein reformkatholischer Mikrokosmos[21], zu dem bekannte Gestalten wie Lorenzo Milani, Ernesto Balducci oder Giogrio La Pira zählten. Mit dem Letztgenannten war Dalla Costa sogar eng befreundet. Der linke Christdemokrat und Laiendominikaner La Pira, der mit einer Unterbrechung von 1951 bis 1965 Bürgermeister der Stadt war und mit seinen Mittelmeer-Kolloquien eine blockübergreifende Weltfriedenspolitik betrieb, war nicht nur der „international bekannteste Kopf des progressiven Katholizismus in Florenz“[22], ihm wurde auch 2018 im Rahmen eines offiziellen Seligsprechungsverfahrens der ‚heroische Tugendgrad’ zuerkannt.
Dalla Costa nahm nicht nur am Konklave 1939 teil, sondern auch am Konklave 1958, aus dem sein „enger Freund“[23] Angelo Roncalli als Papst Johannes XXIII. hervorging. Er soll damals für Roncalli gestimmt haben – und dieser für ihn. Oskar Kokoschka, der den Kardinal damals portraitierte, schildert ihn als einen „weitherzigen alten Mann“[24], der „alt, aber wach wie ein Kind“[25] war. Sogar die Kommunisten hielten ihn „für einen Heiligen“[26]. 2012 ernannte ihn Yad Vashem zum „Gerechten unter den Völkern“. 1981 wurde ein Seligsprechungsprozess eröffnet, der jedoch während der Pontifikate von Papst Johannes Paul II. und Benedikt XVI. stockte und erst unter Papst Franziskus vorankam. 2017 wurde Dalla Costa der heroische Tugendgrad zuerkannt.
Es könnte auch ganz anders sein
Fragen wir nun also abschließend noch einmal: Was wäre gewesen, wenn 1939 nicht Pacelli, sondern Dalla Costa zum Papst gewählt worden wäre? Hätte die Kirche unter seiner Führung lauter gegen die Shoa protestiert? Wären mit ihm zahlreiche Pfarrgemeinden wie jene des Isolotto ‚zu den Menschen’ aufgebrochen? Hätte auch er die französischen Arbeiterpriester verboten? Und wäre es auch in seinem Pontifikat zu Lehrverurteilungen bzw. Lehramtsproblemen vorkonziliarer Reformtheologen wie M.-Dominique Chenu oder Yves Congar, Henri de Lubac oder Karl Rahner gekommen? Oder hätte er, wie später sein Freund Roncalli, ein Konzil einberufen – nur eben früher[27]?
Die möglichen Antworten auf diese Fragen bleiben Spekulation. Sie zu stellen, ist gleichwohl nicht sinnlos. Denn sie zeigen, dass auch die Entscheidungen von Papst Pius XII., der 1939 anstelle von Dalla Costa gewählt wurde, keineswegs alternativlos waren. Es gibt kirchengeschichtliche Weggabelungen, an denen man auch eine andere Richtung hätte einschlagen können. Denn auch päpstliches Handeln ist in einer ganz bestimmten, biografisch-kontextuell bedingten Weise kontingent – und Kontingenz heißt mit Luhmann[28]: Es könnte auch ganz anders sein. Ganz anders nicht in dem Sinn, dass ein Papst z. B. die Inkarnation Gottes in Jesus von Nazareth leugnen könnte – wohl ganz anders aber in der Art und Weise, in der diese dogmatisch und pastoral aktualisiert wird.
Es gibt immer eine Alternative.
[1] Michel de Certeau: Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse, Wien 1997, 78. Siehe auch Michel Foucault: Les rapports de pouvoir passent à l’intérieur des corps, in Ders.: Dits et Écrits II (1976-1988), Paris 2001, 228-236, 236.
[2] Steven Shaviro: Discognition, London 2016, 11; 79.
[3] Andrew Greeley: Der weiße Rauch. Die Hintergründe der Papstwahlen 1978, Graz 1978, 96.
[4] Zit. nach https://it.wikipedia.org/wiki/Francesco_Marchetti_Selvaggiani
[5] Enzo Mazzi: Die Entstehung der Pfarrgemeinde, in: Hans-Dieter Bastian (Hg.): Experiment Isolotto, München-Mainz 1970, 19-195, 20.
[6] Vgl. Christian Bauer: Der greise Seher vom Montmartre. Drei späte Hirtenbriefe von Kardinal E. Suhard (1874-1949) als Erinnerung an die Zukunft der Pastoral, in: Rainer Bucher, Rainer Krockauer (Hg.): Prophetie in einer etablierten Kirche?, Münster 2004, 228-243.
[7] Mazzi: Die Entstehung der Pfarrgemeinde, 20.
[8] Gerd-Rainer Horn: The Spirit of Vatican II. Western European Progressive Catholicism in the Long Sixties, Oxford 2019, 150.
[9] Horn: The Spirit of Vatican II, 150.
[10] Horn: The Spirit of Vatican II, 150.
[11] Mazzi: Die Entstehung der Pfarrgemeinde, 20.
[12] Mazzi: Die Entstehung der Pfarrgemeinde, 19; 21f, 24.
[13] Giovanni Pallanti: Elia Dalla Costa. Il cardinale della carità e del coraggio, Mailand 2012, 64.
[14] Horn: The Spirit of Vatican II, 153.
[15] Zit. nach Sergio Gomiti: L’Isolotto. Una comunità tra vangelo e dirittocanonico, Trapani 2014, 23.
[16] Gomiti: L’Isolotto, 139.
[17] Vgl. Gary McEoin: The Two Masses of Isolotto, in: Cross currents (1977), 83-91, 90.
[18] Vgl. https://www.spiegel.de/geschichte/gino-bartali-radsportler-und-judenretter-a-1202537.html.
[19] Siehe die detaillierte Karte in Timothy Verdon: Elia Dalla Costa. L’uomo e l’immagine, Florenz 2012, 30f.
[20] 1940 war Dalla Costa seiner Eheschließung vorgestanden.
[21] Vgl. Mario Lancisi: I folli di Dio. La Pira, Milani, Balducci e gli anni dell’Isolotto, mailand 2020.
[22] Horn: The Spirit of Vatican II, 150.
[23] Horn: The Spirit of Vatican II, 150.
[24] Zit. nach Verdon: Elia Dalla Costa, 32.
[25] Zit. nach Verdon: Elia Dalla Costa, 32.
[26] Zit. nach Verdon: Elia Dalla Costa, 32.
[27] Zu der Debatte, ob das Zweite Vatikanum zu früh oder zu spät gekommen ist vgl. Wim Damberg: Pfarrgemeinden und katholische Verbände vor dem Konzil, in: Günther Wassilowsky (Hg): Zweites Vatikanum – vergessene Anstöße, gegenwärtige Fortschreibungen (QD 207), Freiburg-Basel-Wien 2004, 9-30, 9f.
[28] Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1987, 152.
Bildquelle: Ch. Bauer (Fotografien aus Giovanni Pallanti: Elia Dalla Costa. Il cardinale della carità e del coraggio, Mailand 2012).