Elie Wiesel wäre am 30. September 90 Jahre alt geworden. Ein Kenner seines Lebens und Wirkens ist Reinhold Boschki (Tübingen). Er zeichnet die zentralen Lebensstationen nach – und resümiert, dass angesichts der Situation geflüchteter Menschen, des neu erstarkenden Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit seine Botschaft der Erinnerung an die Schoah aktueller denn je und keineswegs harmlos ist.
„Credo. Ich gehöre zu einer Generation, die sich oft von Gott verlassen und von der Menschheit verraten fühlte. Und dennoch glaube ich, dass es unsere Aufgabe ist, uns weder von dem einen, noch von der anderen loszusagen.“ In diesem Vermächtnis fasst der Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel sein Werk und seine Botschaft zusammen. Am 30. September wäre er 90 Jahre alt geworden.[1]
Das „Credo“ ist Teil der Reflexionen über sein Leben und Œuvre, die ihm die Konfrontation mit dem eigenen Tod abgerungen hat. Im Jahr 2011 wurde Wiesel schwer herzkrank. Er lag auf Leben und Tod in der Klinik, musste mehrfach am Herz operiert werden. In einer solchen Situation geht einem das ganze Leben durch den Kopf. Und durchs Herz. Sein letztes Buch „Mit offenem Herzen“ gibt Zeugnis davon.[2]
Über seine Mutter und den mütterlichen Großvater erbte der junge Wiesel die religiöse, bisweilen mystische Tradition des Chassidismus.
Die Sehnsucht nach den Jahren seiner Kindheit flammt in allen der ca. 50 Bücher, darunter Autobiografien, Romane, biblisch-chassidische Schriften und Essays an markanten Stellen auf. In Sighet, heute Sighetu Marmației in Rumänien, damals Ungarn, wurde er 1928 geboren und verlebte eine typische Kindheit, wie sie das osteuropäische Judentum zwischen Tradition und Moderne häufig hervorgebracht hat.
Der Vater war Lebensmittelhändler, lebte aufgeklärt, wenn auch nicht säkular, und widmete seine Freizeit den Belangen der jüdischen Gemeinde. Über seine Mutter und den mütterlichen Großvater erbte der junge Wiesel die religiöse, bisweilen mystische Tradition des Chassidismus, die sich in Geschichten, Erzählungen, einer lebensbejahenden Haltung und einer innigen Gottesbeziehung ausdrückt. Später knüpfte der Überlebende in seinen eigenen Erzählungen an diese Lebensweise und Geschichten wieder an – über den Abgrund aus Feuer und Tränen hinweg, wie er schreibt.
Protest, Klage und Anklage werden fortan das Markenzeichen seiner Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, die ihn zeitlebens nicht loslassen sollte.
Ein kleines Buch, kaum 130 Seiten stark, gibt Auskunft über die Zeit in den Lagern. Die autobiografische Schrift „Nacht“ gehört zu den wichtigsten Zeugnissen des Holocaust.[3] Auf der berühmt-berüchtigten Rampe von Auschwitz-Birkenau wurde er im Frühjahr 1944 für immer von seiner Mutter und seiner siebenjährigen Schwester, die er so sehr liebte, getrennt. Mit seinem Vater kam er ins Arbeitslager, wo die durchschnittlichen Überlebenschancen nur wenige Monate oder gar nur Wochen betrugen.
In dieser Zeit begann er, mit seinem Gott zu ringen und an der Menschheit zu verzweifeln. Wie Hiob schreit er seinen Ärger und seine Enttäuschung einem Gott entgegen, der sein auserwähltes Volk wie Schafe zur Schlachtbank führte. Protest, Klage und Anklage werden fortan das Markenzeichen seiner Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, die ihn zeitlebens nicht loslassen sollte. In seiner Relecture biblischer, talmudischer und chassidischer Schriften wird die Beziehung zu Gott angesichts des Schreckens immer wieder neu verhandelt.
Auschwitz, so die Lesart des Überlebenden, ist zu allererst eine Katastrophe, die die Menschlichkeit des Menschen in Frage stellt.
Ebenso die Frage nach dem Menschen. Denn Auschwitz, so die Lesart des Überlebenden, ist zu allererst eine Katastrophe, die die Menschlichkeit des Menschen in Frage stellt. Kann man nach all dem, was geschehen ist, noch an das Humanum glauben? Wiesel gelingt es nur in einem trotzigen „…und Dennoch, und Dennoch…“, das sein Werk wie ein roter Faden durchzieht.
Nicht nur die menschenverachtende Kernideologie der Nazis und die destruktive Energie, mit der sie technisch akribisch ins Werk gesetzt wurde, auch die fatale Naivität der Mitläuferinnen und Mitläufer und ebenso die Gleichgültigkeit der Zuschauenden sind im Brennpunkt der narrativen wie essayistischen Auseinandersetzung mit der Schoah. Gibt es ein „Trotzdem“ oder „Dennoch“ im Glauben an den Menschen?
Er hätte, sagte er oft, die Literatur durch Schweigen betreten. Denn erst zehn Jahre nach dem Entrinnen aus den Todeslagern konnte er über seine Erfahrungen sprechen. Am Tag der Befreiung gab er sich eine Art Schwur, dass er zehn Jahre schweigen wolle, bevor er das Erlebte in Worte fassen könne. Zu groß war das Trauma und das Ausmaß der Maschinerie, in der „der Tod produziert wurde, wie in anderen Fabriken Zahnpasta“.
Sein Vater starb im Konzentrationslager Buchenwald, wohin sie kurz vor Kriegsende deportiert wurden. Der Sechzehnjährige kam als „displaced person“ – heute würde man sagen „unbegleiteter Minderjähriger“ – nach Frankreich. In Paris studierte er, begann als Journalist zu arbeiten, kam 1956 nach New York, wo er sich für den Rest seines Lebens niederließ.
In seinen Reden und Schriften entfaltet sich mehr und mehr eine „Ethik der Erinnerung“
Dennoch blieb er eine Art Halbnomade, da er pausenlos über alle Kontinente reiste, um die Sache der Erinnerung und des Kampfes gegen Unmenschlichkeit, Rassismus und Krieg einzuklagen. In seinen Reden und Schriften entfaltet sich mehr und mehr eine „Ethik der Erinnerung“ (Avishai Margalit), die das Gedenken an die Schrecken der Vergangenheit bewahrt und gleichzeitig menschenverachtende Handlungen der Gegenwart anprangert. Apartheid in Südafrika, Genozid in Kambodscha, Vertreibung und Ermordung der Indigenes in Lateinamerika, Hunger in der Sahelzone, Antisemitismus in der Sowjetunion und anderswo – kaum eine menschliche Tragödie, zu der sich Wiesel nicht geäußert hätte.
Für seinen Kampf für die Menschenwürde wurde ihm 1986 der Friedensnobelpreis verliehen. Weltweit begann er, Tagungen zu organisieren, die die Probleme der Gegenwart thematisierten, beispielsweise „The Anatomy of Hate“ in Oslo im Jahr 1990 zusammen mit Nelson Mandela, Jimmy Carter, Vaclav Havel, mit der damaligen Präsidentin des Deutschen Bundestags, Rita Süßmuth, Menschenrechtskämpferinnen und -kämpfer aus der Sowjetunion und aus China, dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Psychiater, Philosophinnen und vielen mehr.
Trotz aller Erfolge sieht Elie Wiesel sich selbst bisweilen als gestrauchelt und seine Zeugenschaft als misslungen.
Trotz allem an der Hoffnung festhalten, trotz der Vergesslichkeit der Menschheit die Erinnerung wach halten, war sein Motto. Und dennoch nicht naiv sein, dass sich die Welt plötzlich anders drehen würde, wenn man der Opfer gedenkt. Die Figuren in seinen mehr als zehn Romanen, oft Überlebende des Holocaust oder deren Kinder, sind vielfach scheiternde Helden, deren Mission vergeblich ist, die in ihrem Lebensprojekt nicht weiter kommen, niemanden haben, der ihnen zuhört. Darin spiegelt sich die Biografie des Autors selbst.
Trotz aller Erfolge, trotz weltweiter Bekanntheit, trotz intensiver Kontakte zu Präsidenten, Politikern, Schriftstellern und Nobelpreisträgern sieht Elie Wiesel sich selbst bisweilen als gestrauchelt und seine Zeugenschaft als misslungen. Die Welt läuft von einer Katastrophe in die andere, ihr gelingt es nicht, Frieden und Gerechtigkeit für alle zu realisieren, im Gegenteil, man hat das Gefühl, dass sich Unmenschlichkeit und Gewalt mehr denn je ausbreiten, Rassismus und Antisemitismus wiederbeleben und mehr Menschen als je zuvor aufgrund widrigster Umstände aus ihrer Heimat vertrieben werden.
Elie Wiesel – ein gescheiterte Bote? In einer seiner biblischen Abhandlungen und Neuinterpretationen fasst er im Anschluss an die Botschaft des Midrasch die soziale Verantwortung des Menschen für unsere Zeit zusammen: „Es ist wahr, wir haben keine Macht gegen den Tod; aber so lange wir einem Mann, einer Frau, einem Kind helfen, eine Stunde länger in Sicherheit und Würde zu leben, bestärken wir das menschliche Recht auf Leben.“[4]
Am 2. Juli 2016 starb Elie Wiesel in New York. Angesichts der Situation geflüchteter Menschen, des wieder neu erstarkenden Antisemitismus, der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus ist seine Botschaft der Erinnerung an die Schoah aktueller denn je und keineswegs harmlos.
[1] Überblick über sein Leben und Werk: Reinhold Boschki, Elie Wiesel. Ein Leben gegen das Vergessen. Erinnerungen eines Weggefährten. Ostfildern, Patmos 2018.
[2] Elie Wiesel, Mit offenem Herzen. Ein Bericht zwischen Leben und Tod. Freiburg, Herder 2012, hier S. 87.
[3] Elie Wiesel, Die Nacht. Erinnerungen und Zeugnis [1956]. Freiburg, Herder 2014.
[4] Elie Wiesel: Noah oder Ein neuer Anfang. Freiburg, Herder: S. 52f.
Autor: Dr. Reinhold Boschki ist Professor für Religionspädagogik in Tübingen. Von ihm erschien gerade ein Buch über Elie Wiesel: Erinnerungen eines Weggefährten.
Beitragsbild: Elie Wiesel, 1994 (Foto: Astrid Kimmig)