„Du kannst es bis nach oben schaffen, wenn Du fleißig bist“, so lautet eines der großen Narrative der Bundesrepublik. Der renommierte Elite-Forscher Michael Hartmann analysiert seit Jahrzehnten gesellschaftliche Strukturen, die das Gegenteil belegen. Dabei kommen auch gesellschaftliche und kirchliche Felder in den Blick, die vielen unter den Verantwortungsträger*innen als Erfolgsgeschichten gelten.
Mitte Juli wurden die vorerst letzten Entscheidungen in der Exzellenzstrategie bekannt gegeben. Das 2004 (noch unter dem Namen Exzellenzinitiative) gestartete Programm repräsentiert die derzeit in der Bundesrepublik wohl bekannteste Form der Elitenförderung. Allerdings werden hier nicht Personen, sondern Institutionen gefördert, die sogenannten Exzellenzuniversitäten bzw. eine Stufe niedriger die sogenannten Exzellenzcluster. Es ist jedoch kein Zufall, dass mit Annette Schavan die Wissenschaftsministerin, die die Exzellenzinitiative mit der größten inneren Überzeugung und dem größten Engagement vorangetrieben hat, zuvor von 1991 bis 1995 das Cusanuswerk, das Studienförderwerk der katholischen Kirche, leitete. Es besteht nämlich eine zentrale Gemeinsamkeit zwischen der Exzellenzinitiative und dem Cusanuswerk, wie auch den meisten anderen Studienförderwerken. Gefördert werden in der Regel jene, die es am wenigsten nötig haben, weil sie sowieso schon die besten Voraussetzungen mitbringen, sei es familiär, sei es institutionell, und sich dadurch in einer deutlich besseren Ausgangsposition befinden.
Die Starken hätten es nicht nötig, werden aber zusätzlich gefördert.
Schaut man sich die soziale Herkunft der Stipendiat*innen der Studienförderwerke an, so ist das nicht zu übersehen. Kommen von allen Studierenden immerhin 48 Prozent aus Familien, in denen kein Elternteil studiert hat, so liegt dieser Anteil bei den meisten Förderwerken erheblich niedriger. Beim Cusanuswerk wie auch beim mit weitem Abstand größten Förderwerk, der Studienstiftung des deutschen Volkes, sind es gerade einmal 30 Prozent, bei der Konrad-Adenauer-Stiftung wie dem Evangelischen Studienwerk Villigst nur drei Prozentpunkte mehr, bei der Friedrich-Naumann-Stiftung und der Hanns-Seidel-Stiftung sogar drei bzw. fünf Prozentpunkte weniger. Bis auf die Hans-Böckler-Stiftung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung bleiben auch die anderen Förderwerke beim Anteil der Erstakademiker*innen unterhalb der Werte für alle Studierenden, so dass der Prozentsatz der Akademiker*innenkinder unter den Stipendiat*innen insgesamt bei zwei Dritteln liegt. Gefördert werden in erster Linie die Kinder von Eltern, die selbst schon studiert haben.
Wo Leistung draufsteht, ist Herkunft drin – schon in der Schule!
Die betroffenen Förderwerke, alle voran die Studienstiftung, argumentieren immer damit, dass sich hier nur die unterschiedliche Leistungsstärke der Abiturient*innen niederschlage, man mit seiner Auswahl also nur die Leistungsauslese des Schulsystems widerspiegele. Unter den fünf Prozent Notenbesten bei den Abiturient*innen wiesen eben auch 70 Prozent ein Elternteil mit Hochschulabschluss auf. Dieses Argument, so plausibel es auf den ersten Blick aussieht, unterschlägt einen zentralen Aspekt. Die Notenvergabe ist keineswegs neutral gegenüber der sozialen Herkunft der Schüler*innen. Sie bevorzugt eindeutig Kinder aus Akademiker*innenfamilien. Das haben die Untersuchungen der letzten zwei Jahrzehnte im Zusammenhang mit PISA, IGLU und TIMMS eindeutig gezeigt. Bei gleicher Leistung werden Kinder aus akademischen Haushalten deutlich besser benotet als Kinder aus Arbeiter*innenfamilien. Die tatsächliche Leistung bestimme die Noten nur zu gut 50 Prozent, so das Fazit. Das große Gewicht, das dem Elternhaus bei der Notenvergabe zukommt, beruht nicht auf bewussten Entscheidungen der Lehrkräfte, sondern in erster Linie auf unbewussten Mechanismen. Man bewertet eben diejenigen besser, deren Sprache und Verhalten dem eigenen gleichen oder ähneln.
Das richtige Elternhaus ermöglicht, mit Selbstbewusstsein Nichtwissen auszugleichen.
Ich habe diesen Mechanismus vor zwei Jahrzehnten bei einem meiner beiden Söhne in einer zugegebenermaßen extremen Form selbst erlebt. Im Deutschunterricht der gymnasialen Oberstufe lautete das Thema „Antigone“. Mein Sohn wurde, nachdem ein Klassenkamerad zuvor ausführlich die zentralen Handlungsstränge, Personen und Probleme dargestellt hatte, aufgerufen. Er hatte das Buch aber überhaupt nicht gelesen. In dieser Situation zeigt sich der Vorteil seiner Herkunft – der Vater Professor, die Mutter Ärztin – gleich in zweifacher Weise. Erstens gab er nicht zu, das Buch überhaupt nicht gelesen zu haben, sondern glaubte, gestützt auf die im Rahmen der Familie eher beiläufig erworbenen Kenntnisse über griechische Mythologie und Geschichte, schon noch etwas retten zu können, indem er, statt auf Details der literarischen Vorlage einzugehen, gleich umfassend über das zu erzählen begann, was er kannte, griechische Geschichte und Mythologie. Zweitens, und das ist der eigentlich interessante Punkt, kam die Lehrerin gar nicht auf die Idee, der Schüler könnte das Buch nicht gelesen haben. Sie lobte ihn vielmehr sogar ganz besonders dafür, dass er es nicht dabei belassen habe, wie sein Vorredner nur fleißig die für den Schulunterricht üblichen Fragen behandelt, sondern die Thematik gleich in ihren historischen Kontext eingebettet zu haben. Der soziale Aufsteiger ist fleißig, das Bürgerkind brillant. Das ließ es in den Augen der Lehrerin über das Normalmaß hinausragen. Daher wurde seine „Leistung“ als „ausgezeichnet“ bewertet und nicht nur als „sehr gut“ wie die seines Klassenkameraden.
Besonders anfälliger Mediensektor
Derselbe Effekt zeigt sich auch an den Journalist*innenschulen, die für die Karrieren von Journalist*innen sehr große Bedeutung haben und von Jahr zu Jahr noch wichtiger werden. Die Auswahlprozeduren und -kriterien begünstigen Akademiker*innenkinder ebenfalls ganz eindeutig. Die Schüler*innen der drei großen Journalist*innenschulen in Hamburg, Köln und München, rekrutieren sich einer Anfang des Jahrzehnts durchgeführten Studie zufolge dementsprechend. 71 Prozent hatten damals zumindest ein Elternteil mit Hochschulabschluss, das in der Regel eine leitende Position bekleidete. Sie waren in Hinblick auf ihre soziale Herkunft damit sehr viel exklusiver als die Studierenden an den Hochschulen. Stammten von letzteren nur 35 Prozent aus Familien von Akademiker*innen mit leitender Position, waren es bei den Journalismusschüler*innen mit 68 Prozent fast doppelt so viele. Dagegen kam kein einziger von ihnen aus der unteren Hälfte der Bevölkerung.1
Wer schafft es in Justiz und Wirtschaft nach ganz oben?
Die Konsequenzen der Elitenförderung im Mediensektor werden deutlich, wenn man sich die soziale Rekrutierung der Elite in diesem Bereich anschaut. Sie ist (zusammen mit der hohen Justiz) die zweitexklusivste nach der in der Wirtschaft. Zwei von drei Elitemitgliedern kommen aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien, den oberen vier Prozent der Bevölkerung. Dabei gibt es eine große Differenz zwischen den Privatmedien, deren Spitzenpersonal zu vier Fünfteln aus diesem Milieu stammt, und den öffentlich-rechtlichen, wo das nur auf gut die Hälfte zutrifft.2 Aber auch dort wird es sozial immer exklusiver, wie z. B. die drei Toppositionen beim ZDF zeigen. Als Intendant, Chefredakteur und Programmdirektor amtieren dort aktuell die Söhne eines Arztes, eines Stadtkämmerers und eines Polizeipräsidenten.
Männliche Führungsebene aus „bestem Haus“
Bei den Studienförderwerken sind die Konsequenzen nicht so leicht zu erkennen. Das hat zwei Gründe. Erstens gehen ihre Absolvent*innen in die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche, vor allem aber in die Wissenschaft, und zweitens sind die Förderwerke für die Rekrutierung der Eliten längst nicht so bedeutsam wie die Journalist*innenschulen im Mediensektor. Was den ersten Punkt angeht, so zählt die Wissenschaftselite zu den sozial offeneren. „Nur“ gut 59 Prozent ihrer Mitglieder kommen aus bürgerlich-großbürgerlichen Verhältnissen. Schaut man dagegen auf die zahlenmäßig erheblich kleinere Gruppe von Ex-Stipendiat*innen, die es in Spitzenpositionen in Wirtschaft oder Justiz geschafft haben, so gleichen sie hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft den jeweiligen Eliten. So stammen z.B. von den fünf Bundesverfassungsrichtern, die das Cusanuswerk während ihres Studiums gefördert hat, vier aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung. Einer, Paul Kirchhof, hatte sogar einen Vater, der als Richter am BGH ebenfalls schon Teil der Justizelite war. Dasselbe kann man bei den Topmanagern unter den ehemaligen Stipendiat*innen der Studienstiftung beobachten. Unter ihnen sind beispielsweise Oliver Samwer, Gründer von Rocket Internet, oder Alexander Dibelius, früherer Chef von Goldmann-Sachs in Deutschland. Beide kommen aus gutbürgerlichen Familien, genauso wie die Ex-Stipendiaten Christoph Franz, Jürgen Grossmann und Jürgen Strube, die ehemaligen Vorstandschefs von Lufthansa, RWE und BASF.
Herkunft prägt Einstellungen und verschärft soziale Spaltung
Die soziale Rekrutierung der Eliten ist so wichtig, weil die Herkunft die Einstellungen und damit letztlich auch das Handeln der jeweiligen Personen prägt. Das spielt vor allem in einem Punkt eine entscheidende Rolle. Je exklusiver die Herkunft der Eliteangehörigen ausfällt, umso unproblematischer empfinden sie die sozialen Unterschiede im Land und umso weniger sind sie bereit, deren Reduzierung durch höhere Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen zu akzeptieren.3 Wenn aus den oberen fünf Promille der Bevölkerung, dem Großbürgertum, fast doppelt so viele Elitemitglieder stammen als aus der unteren Hälfte, ist es deshalb nicht erstaunlich, wie groß die Einkommens- und Vermögensunterschiede hierzulande sind und wie stark sich die Schere zwischen Arm und Reich geöffnet hat.
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Autor: Michael Hartmann (Jg. 1952) hatte bis 2014 eine Professur für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt inne und hat sich insbesondere im Feld der Eliteforschung profiliert.
Jüngst veröffentlicht: Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2018.
Titelfoto: Alexis Brown / unplash.com
Foto Michael Hartmann: Sven Ehlers