Dem komplizierten Ringen um Identitätsfragen im Kontext von Emanzipationskämpfen geht Julian B. Müller in Auseinandersetzung mit zwei Vertreter*innen des aktuellen Universalismus nach: Omri Boehm und Susan Neiman.
Am 20.03.2024 erhielt Omri Boehm für sein Werk „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“ den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Als Zwillingsschrift mit vergleichbarer Stoßrichtung darf Susan Neimans „Links ≠ woke“ gelten. Von beiden Büchern lässt sich für zeitgenössische Debatten und Emanzipationsbestrebungen einiges lernen, zugleich aber offenbaren beide Zugänge eine gemeinsame Leerstelle.
Im Folgenden soll daher zunächst auf mögliche Schlüsse aufmerksam gemacht werden, die es aus der vorgetragenen Kritik an möglichen Formen von Identitätspolitik zu ziehen gilt. Anschließend gilt der zweite Schritt einer unabgeschlossenen Suchbewegung nach praxistauglichen Spuren, die Neiman und Boehm ihrer Leser*innenschaft auf gewisse Weise schuldig bleiben.
Radikaler Universalismus statt Identitätspolitik (?)
Stellungnahmen gegen vermeintliche oder tatsächliche Auswüchse von Identitätspolitik/en und die sogenannte „Wokeness-Bewegung“ erleben gerade eine Art Hochkonjunktur. Angesichts dessen bilden Boehms und Neimans Einwürfe lediglich die Spitze eines Eisbergs an kritischer Literatur.[1] Eine gesonderte Betrachtung verdienen sie insofern, als dass es sich bei ihnen um die argumentativ und sprachlich am weitesten ausgefeilten Einwände handelt.
Formen unterkomplexen Aufklärungs-Bashings
Beschränkt man sich auf die zentralen Aussagen beider Bücher, so scheint es um folgende drei ineinandergreifende Punkte zu gehen:
1.) Um eine Verteidigung der Aufklärung gegen verzerrende bzw. einseitig-negative Darstellungen.
2.) Um eine Bloßstellung essentialistischen sowie tribalistischen Denkens durch zeitgenössische Identitätspolitik/en.
3.) Um eine Überwindung der „woken Abirrungen“ durch positive Anknüpfung an das aufklärerische Ideal des Universalismus.
Entlarvt werden hierbei Formen eines unterkomplexen Aufklärungs-Bashings, welches entsprechende Denker*innen und Texte ausschließlich als rassistisch, koloniale Unterdrückungen legitimierend und hintergründig machtgeleitet disqualifiziert und somit das konstruktive Potenzial entsprechender Diskurse unterminiert. Aufgezeigt wird aber auch, wie zeitgenössisch eine unreflektierte Übernahme essentialistischen Denkens von Seiten linker Gruppierungen erfolgt.
Partikuläre Gruppeninteressen
Die defensio aufklärerischer Ideale, die mit dem Anspruch einer Aufrechterhaltung des Universalismus in eins geht, schlägt in beiden Büchern somit einen weitausgreifenden Bogen bis in die Gegenwart, in welcher Progressive unkritisch in die Falle angenommener „Stammesidentitäten“ tappen und somit ungewollt prinzipiell rechtes Gedankengut reproduzieren. Die hierbei zugrundeliegende Vorstellung fasst Kwame Anthony Appiah prägnant zusammen als „[…] Annahme, im Kern jeglicher Identität gebe es eine tiefgründige Ähnlichkeit, die Menschen dieser Identität miteinander verbinde.“[2]
Boehm und Neiman zufolge verhindert das unbedachte Einstimmen in diesen essentialistischen Chor das Zustandekommen wirklicher, solidarischer Befreiungskämpfe. Partikuläre Gruppeninteressen wirken in ihren Augen spalterisch und fördern eine gewaltbeladene „wir gegen sie“-Mentalität.
Auch einige Wochen nach der Lektüre begleiten mich drei Gedanken.
1.) Eine Dekolonisierung des Denkens verlangt nach einem kritischen Umgang mit Denker*innen der Aufklärung und deren Texten. Dieser sollte jedoch gerade nicht mit einer rigorosen Abkehr verwechselt werden. Eine ausreichende Kenntnis von Text und Kontext eröffnet Perspektiven, die für eine Erweiterung des Bücherregales, statt für eine schlichte Entrümpelung sprechen.
2.) Für den hiesigen Kontext der Bundesrepublik drängt sich seit einigen Jahren der Eindruck auf, dass das klassische linke Thema ökonomischer Teilhabe- und Chancengerechtigkeit trotz zunehmender finanzieller Polarisierung immer leiser artikuliert wird. Wie beim Streit um das Bürgergeld deutlich wurde, lautet die beiläufige Maxime vielfach „nach unten treten, statt nach oben zeigen“. Von einer stärkeren Thematisierung der klassischen „sozialen Frage“ dürften, aufgrund intersektionaler Verflechtungen, auch anderweitige Auseinandersetzungen mit gruppenspezifischen Benachteiligungsformen profitieren.
3.) Mit dem zweitgenannten Punkt hängt zusammen, dass die heterogene politische Linke leider nichts lieber zu tun scheint, als sich, in Gruppen ausdifferenziert, wechselseitig anzugreifen. In Zeiten eines global erstarkenden, gut vernetzten Rechtspopulismus sowie -extremismus erweist sich dies als brandgefährlich: „In diesem Augenblick der Geschichte ist nichts sinnloser als das Zerwürfnis zwischen einem Progressiven und einem Gleichgesinnten, weil man sich nicht darüber einigen kann, was als Diskriminierung gilt.“[3]
Strategische Identitätspolitik statt Universalismus (?)
Die Lektüre beider Werke hinterlässt, bei aller Inspiration, einen fahlen Beigeschmack. Wer an deren Ende angelangt ist und über praktische Folgerungen nachzusinnen beginnt, sieht sich mit großen Fragezeichen konfrontiert.
Gefühlt weiß man etwas besser, wie Emanzipationsprozesse nicht gelingen können, nicht aber, wie sie stattdessen zu führen sind. Dies dürfte kein Zufall sein. Schließlich geht die angestrebte Abstraktionsleistung der aufklärerischen Universalisierung auf Kosten entsprechender Konkretion und die Einebnung identitätspolitischen Denkens führt zwangsläufig zu einer Unterschätzung der praktischen Bedeutsamkeit einzelner Kategorien bzw. sozialen Kategorisierungen.
Geeint durch das allgemeine Mensch-Sein
So beanstandet Neiman unter Verweis auf die Fülle an wechselvollen Identitäten, die einen Menschen auszeichnen und als solche auch einen gewissen Gestaltungsspielraum eröffnen, dass immer wieder auf die beiden Kategorien des Geschlechts und der Ethnie fokussiert werde.[4] Zugleich aber konstatiert sie an anderer Stelle selbst, dass sie als Weiße das Privileg genieße, kein Aufklärungsgespräch mit ihren Kindern darüber habe führen müssen, wie diese vermeiden könnten, Opfer von Polizeigewalt zu werden.[5]
Identitäten sind soziale Konstrukte, ihnen basal zugrundeliegende Essenzen gibt es nicht und uns alle eint das allgemeine Mensch-Sein. So weit, so gut. Aber diese sozialen Konstrukte wirken, individuell, wie gleichermaßen strukturell, indem sie Hierarchien des Status reproduzieren und gegebene Macht- und Gewaltverhältnisse aufrechterhalten. Menschen wiederum sehen durch einen (zu-)ordnenden Blick und unterscheiden in Hautfarben, Geschlechter und anderweitige Bezugsraster.
Essentialistisches Denken politisch gefährlich
Omri Boehms „metaphysische Abstraktion“ hingegen, die hinter alle kontingenten Bezüge menschlichen Daseins auf den ideellen Begriff der Menschheit als Letztbegründung zurückzugehen bestrebt ist, entblößt das humanum bis weit über die Nacktheit hinaus. Der Historiker Sarasin meint daher treffend: „Boehms Himmel der Abstraktion ist kalt und die abstrakte Idee der ‚Menschheit‘ leer.“[6]
Bei aller Sympathie für die zugrundeliegenden Anliegen und Intentionen, etwas mehr „Bodenhaftung“ scheint somit vonnöten.
Als hilfreich könnte sich Gayatri C. Spivaks Konzept des strategischen Essenzialismus erweisen. Mit Boehm und Neiman teilt Spivak die Überzeugung, dass essentialistisches Denken nicht nur ontologisch bzw. anthropologisch falsch, sondern auch politisch gefährlich und somit ablehnungswürdig ist. Zugleich jedoch erkennt Spivak dessen grundsätzliche Unvermeidbarkeit an.[7]
Konstruktion eines Gruppenbewusstseins
Etwas verkürzt könnte davon die Rede sein, dass sie sich hierbei bestrebt zeigt, aus der Not eine Tugend zu machen. Schließlich handelt es sich bei ihrem strategischen Essenzialismus um eine Art Trick[8], der eine bewusst gesetzte, durch ständige, reflexive Problematisierung eingeholte, Essentialisierung als Mittel des Widerstandes, zur Mobilisierung von Menschen oder aber auch zur Markierung von Gegenpositionen gezielt einsetzt.[9]
Strategisch kann man Spivak zu Folge also nicht auf Identitätsmarker verzichten, weil sie sich als unabdingbare Größen für Emanzipationsprozesse erweisen. Die Konstruktion eines Gruppenbewusstseins darf, mit anderen Worten ausgedrückt, als eine Bedingung der Möglichkeit gelten, politisch Wirkung erzielen und, nebenbei bemerkt, systemische Diskriminierung überhaupt als solche erfassen zu können.
das Konkrete stark machen
Während Neiman betont, dass Arendt gerne gesehen hätte, wie Eichmann für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und nicht für solche gegen das jüdische Volk auf der Anklagebank sitzt, und somit auf die universale Dimension abzielt[10], gilt es daher mit derselben Denkerin zugleich das Konkrete stark zu machen. In einem berühmt gewordenen Gespräch mit Günter Gaus äußerte sich Arendt wie folgt: „Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen, nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt oder der Menschenrechte oder so, sondern ganz konkret […].“[11]
Auf die Menschlichkeit derjenigen zu verweisen, die entmenschlicht werden und somit auf dem Universalismus als Ursprung zu beharren, statt auf der je veranschlagten Identität[12], mag ein hehres Ideal sein, um auf Unterdrückung überall in der Welt zu reagieren[13], aber ist es auch ein umsetzbares? Eine Antwort auf diese Frage habe ich nicht, nur ein Gefühl der Unsicherheit und so manchen Zweifel.
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Julian Benjamin Müller, Doktorand bei Prof. Dr. Schüßler in Praktischer Theologie in Tübingen.
Foto: Wolfgang Beck
[1] Um nur eine kleine Auswahl zu nennen: Peter Köpf und Zana Ramadani: Woke. Wie eine moralisierende Minderheit unsere Demokratie bedroht, Köln 2023. ferner: Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Frankfurt am Main 2022. ferner: Esther Bockwyt: Woke. Psychologie eines Kulturkampfs, Frankfurt am Main 2024. ferner: Norbert Bolz: Der alte weisse Mann. Sündenbock der Nation, München 2023. ferner: Jan Feddersen und Philipp Gessler: Kampf der Identitäten. Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale, Berlin 22021.
[2] Kwame Anthony Appiah: Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit, München 2019, 17.
[3]Neiman: Links ≠ woke, 166.
[4] Vgl. a.a.O., 19-20.
[5] Vgl. a.a.O., 153.
[6] Philipp Sarasin: #Universalismus. Über die Schwierigkeit, das Menschliche zu begründen. https://geschichtedergegenwart.ch/universalismus/. 09.04.2024.
[7] Prägnant: „The debate between essentialism and anti-essentialism is really not the crucial debate. It is not possible to be non-essentialist, as I said; the subject is always centered.“ Gayatri Chakravorty Spivak und Sarah Harasym: Practical Politics of the Open End, in: The post-colonial critic. Interviews, strategies, dialogues, hg. von Gayatri Chakravorty Spivak, New York 1990, S. 95–112, 109.
[8] Vgl. Miriam Nandi: Gayatri Chakravorty Spivak. Eine interkulturelle Einführung (Interkulturelle Bibliothek 73), Nordhausen 2009, 62.
[9] Vgl. Stefan Silber: Postkoloniale Theologien. Eine Einführung (Uni-Taschenbücher 5669), Stuttgart 2021, 53.
[10] Vgl. Neiman: Links ≠ woke, 35-36.
[11] Hannah Arendt und Günter Gaus: Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus. „Zur Person“, 1964. https://www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw. 08.04.2024, Min. 34:53-35:06. Auffällig ist, dass Arendt, die in dem Gespräch ansonsten eine große Ruhe ausstrahlt (die einzigen Bewegungen sind der akkordartig erfolgende Griff zur neuen Zigarette) diese Überzeugung physisch durch mehrmaliges Aufschlagen mit der rechten Hand untermauert.
[12] Vgl. Boehm: Radikaler Universalismus, 154.
[13] Vgl. Neiman: Links ≠ woke, 31.