Barbara Staudigl macht sich Gedanken zur Verwundbarkeit – nicht der Patient:innen –, sondern des ausländischen Pflegepersonals, und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf Menschen, die im Kalkül des Gesundheitssystems zwar eingepreist, aber nicht geachtet werden.
Ich stand zwei Tage vor einer größeren Operation, als ich von einer Kollegin einen Text über „Embracing vulnerabilty“ bekam. Und weil ich empfänglich für das Thema war und mein Kopf Ablenkung vor der Operation brauchte, verfing das Thema.
Embracing vulnerability – die eigene Verwundbarkeit umarmen. Dazu gehört: Ängste zuzulassen und zu ihnen zu stehen, Grenzen und auch Fehler zu akzeptieren und sie als Einladung zum Wachstum zu begreifen. Es bedeutet, dem Unsicheren, Ungewissen, Unverfügbaren Raum im eigenen Leben zu gewähren und es als Möglichkeit der Horizonterweiterung zu begrüßen.[1]
Nach der Operation war ich körperlich verwundbar; mein linker Arm war lahm gelegt, ich war auf Hilfe angewiesen – bei zunächst fast allem – und die Theorie des „Embracing vulnerability“ wurde lebendig. Ich musste lernen, um Hilfe zu bitten: beim Aufschneiden des Frühstücksbrötchens, beim Duschen, beim Haarewaschen und beim Anziehen. Ich musste lernen, Grenzen zu akzeptieren, die es am Tag zuvor noch nicht gegeben hat. Ängste zuzulassen, kleine Schritte als Erfolg zu werten, bei Schmerzen zu vertrauen, dass es wieder wird, bei Scheitern daran zu glauben, dass ich es das nächste Mal schaffen werde.
Begegnung mit der Verwundbarkeit ausländischen Pflegepersonals.
Doch die eigene Verwundbarkeit ist es nicht, die ich tief in meiner Seele mit nach Hause genommen habe, sondern die Begegnung mit der Verwundbarkeit ausländischen Pflegepersonals. Ich wurde von jungen Frauen aus Uganda, Ghana, den Philippinen und Brasilien gepflegt. Sie waren hilfsbereit, entgegenkommend, freundlich, professionell – und die meisten von ihnen tieftraurig.
Ich freute mich, dass sie mit mir in der knappen Zeit, die sie für mich pflegerisch aufwenden durften, sprachen, auf meine Fragen antworteten. Und meine eigene körperliche Verwundbarkeit wurde nichtig angesichts der Schicksale dieser jungen Frauen.
Um als Fachkraft für Pflege überhaupt nach Deutschland kommen zu können, müssen Pflegekräfte einen Abschluss aus dem Herkunftsland mitbringen, der hier in Deutschland als gleichwertig anerkannt wird. In vielen Ländern geschieht die Ausbildung zur Krankenpflege durch ein Studium mit Bachelorabschluss. Die Anerkennung erfolgt aber erst, nachdem hier bis zu 18-monatige Anpassungslehrgänge und Sprachkurse bis zum B2-Niveau absolviert wurden.[2] Während des Anerkennungsverfahrens dürfen die ausländischen Fachkräfte nur als Pflegehilfskräfte arbeiten und verdienen entsprechend wenig. Und neben allem, was es in der Arbeit zu lernen gilt, neben allen Anpassungsschwierigkeiten durch Kultur und Klima gilt es v.a. die Sprache zu lernen.
Embracing vulnerability – nicht als Nabelschau!
Embracing vulnerability – was für ein schöner Topos, was für ein schöner Gedanke. Aber doch nur, wenn er nicht in eine Nabelschau mündet, sondern zum anderen Menschen führt. Wenn die eigene Verwundbarkeit sensibel macht für die der anderen. Und was für eine ambige Situation, dass wir in Krankenhäusern und Altenheimen, wo die Verwundbarkeit zu Hause ist, wo Menschen sich als verletzlich erleben, mit der Verletzlichkeit junger Menschen aus anderen Ländern arbeiten, sie ins Kalkül eines auf Effizienz ausgerichteten Gesundheitssystem einpreisen!
Eine junge Frau aus Uganda, die bereits seit sechs Jahren in Deutschland lebt und arbeitet und sehr gut Deutsch spricht, erzählte davon, dass sie in den letzten drei Jahren, seit sie „normal“ verdient (was als Pflegefachkraft in einer Stadt wie München mit horrenden Mietpreisen immer noch wenig genug ist, um parallel dazu zu sparen), begonnen hat, Geld auf die Seite zu legen, um endlich ihre Familie in Uganda zu besuchen. Nun, da sie das Geld für das Ticket zusammen hat, ist der Vater krank geworden und sie steht vor dem Gewissenskonflikt, ihn zu besuchen, ihn sehen zu wollen oder ihm das Geld zu schicken für seine Behandlung.
Eine junge Philippina erzählte, wie schwer der erste Winter in Deutschland war: kalt, dunkel – und kein Geld für Dinge, die das Leben etwas angenehmer hätten machen können: kein Besuch eines Weihnachtsmarktes, kein Kinobesuch und eine horrende Miete in einem sehr kleinen Zimmer am anderen Ende der Stadt.
Viele würden ihren Job nicht an Freunde oder Verwandte in der Heimat weiterempfehlen.
Was wollen wir als Gesellschaft, die mitten in einem eklatanten Fachkräftemangel steht und der im Jahr 2035 allein im Gesundheitssektor ca. 1,8 Millionen Fachkräfte fehlen werden?[3] Wollen wir jungen Menschen, die aus finanzieller Not und Perspektivenlosigkeit in ihren Heimatländern bereit sind, ihre Familien und ihre Heimat zu verlassen, ein gastfreundliches, zugewandtes und lebens- und liebenswertes Land präsentieren, das ihre Arbeit schätzt und den großen biografischen Schritt würdigt, den sie getan haben, und die pflegerische Arbeit, die sie für uns und an uns tun?
Oder sollen sie ein Land erleben, das ihnen finanzielle und bürokratische Bürden auflastet, das ihnen keine Willkommenskultur entgegenbringt, sondern Misstrauen und Diskriminierung, und sie dazu bringt, nach kurzer Zeit, mit einem finanziellen Minus und lediglich einem Plus an Erfahrung in ihre Länder zurückzukehren?
Die Hamburger Wirtschaftspsychologin Grace Lugert-José führte im Jahr 2023 eine Online-Befragung mit 224 philippinischen Pflegefachkräften durch mit dem Ziel, Faktoren für die Gesamtzufriedenheit sowie Verbesserungsmöglichkeiten zu eruieren und Diskriminierungsthemen zu identifizieren. 47 Prozent, etwa die Hälfte der Befragten, würden ihren Job nicht an Freunde oder Verwandte in der Heimat weiterempfehlen, so das Ergebnis der Umfrage. Vor allem Heimweh, Diskriminierungen am Arbeitsplatz, unfaire Arbeitsverteilung, aber auch das Gefühl, zu wenig berufliche Wertschätzung zu erhalten, werden von den Pflegekräften als Gründe genannt. „You have that feeling that they don’t trust you in an emergency situation even though you’re available. Instead, they will choose the new workmate who is a German to be in an emergency case“.(Ebd., 43.)
Wir müssen uns anstrengen, damit sie bleiben.
In der Röntgenabteilung und bei der Blutabnahme gab es während meines Krankenhausaufenthalts längere Wartezeiten, in denen man mit anderen Patientinnen und Patienten ins Gespräch kam. Wie oft wurde thematisiert, dass so viele ausländische Pflegekräfte hier sind. Es waren mitunter beschämende Situationen, dass deutsche Patientinnen und Patienten auch dann noch Vorbehalte gegenüber Fremden haben, wenn sie zutiefst auf deren professionelle Kompetenz angewiesen sind, wenn es gälte, dankbar zu sein, dass ausländische Pflegekräfte diesen Schritt tun in ein fremdes Land, in eine fremde Kultur, in eine fremde Sprache hinein – und in einen helfenden Beruf hinein.
Der Eindruck stimmt: Es ist vermehrt ausländisches Pflegepersonal in unsere Krankenhäuser und Altenheime gekommen. In den letzten Jahren hat sich der Anteil ausländischen Pflegepersonals von 8 Prozent im Jahr 2017 auf 14 Prozent im Jahr 2022 erhöht.[4] Aber wir müssen uns gewaltig anstrengen, damit sie in diesem Land und in unserer Gesellschaft bleiben wollen. Wir brauchen Gesetze, die bürokratische Hürden abbauen, die es leichter machen, nach Deutschland zu kommen. Die Neuauflage des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes ist im Juli 2023 beschlossen worden und wird seit November 2023 stufenweise umgesetzt.[5] Es wird sich zeigen, ob es gelungen ist, Anerkennungsverfahren abzukürzen und bürokratische Hürden abzubauen.
Wir brauchen einen Mentalitätswandel.
Doch was wir vor allem brauchen, sagt Marcel Fratscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, ist ein Mentalitätswandel. „Das Wichtigste für Zuwanderung ist die Gesellschaft an sich, die Offenheit, die Toleranz, die Wertschätzung für Menschen, die anders sind, und eine ehrliche Chance für die Menschen, die kommen, hier ihr Zuhause aufbauen zu können und Teil der Gesellschaft werden zu können.“[6]
Embracing vulnerability habe ich während meines Krankenhausaufenthalts als Wert und Haltung schätzen gelernt. Ein Wert, der aber nur dann gelingen kann, wenn er für alle gleichermaßen gilt und wenn ich die Verwundbarkeit anderer Menschen ebenso ernst nehme und ihr mit Respekt und Achtung begegne, wie die ausländischen Pflegekräfte meiner Verwundbarkeit begegnet sind.
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[1] Ghatak, Santanu: The Lessons We Learn: Embracing Vulnerability: The Path to Authenticity, Connection and Personal Growth, in: https://www.linkedin.com/pulse/lessons-we-learn-embracing-vulnerability-path-personal-santanu-ghatak, 21.7.2023.
[2] 2. Dribbusch, Barbara: Pflegekräfte aus Drittstaaten – das nicht gelobte Land, in: taz vom 24.6.2023; https://taz.de/Pflegekraefte-aus-Drittstaaten/!5941230/.
[3] Sammann, Luise: Ausländische Pflegekräfte. Warum viele kommen und wieder gehen. Deutschlandfunk vom 8.5.2023.
[4] Vgl. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/143689/Mehr-auslaendische-Arbeitskraefte-in-der-Pflege, 5.6.2023.
[5] Vgl. Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung, 2023.
[6] Ebd.
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Barbara Staudigl, Prof. Dr., ist Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH), einer Fachakademie und Fachoberschule in München. Sie war viele Jahre als Lehrerin, Pädagogikprofessorin und Schulleiterin tätig.
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